SPD und Grüne machten damit Wahlkampf, und auch die von der Regierung beauftragte Fachkommission kam zu dem Schluss: Schwangerschaftsabbrüche sollten in Deutschland legalisiert werden. Doch nach Ansicht einer Expertin ist es bis zur Abschaffung des Paragrafen 218 StGB noch ein Weg.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Julia Wolfer sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Im vergangenen Jahr wurden in Deutschland rund 106.000 Schwangerschaftsabbrüche gemeldet – ein Höchststand seit dem Jahr 2012.

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Auch im ersten Quartal 2024 wurden nach Angaben des Statistischen Bundesamtes mehr Schwangerschaften abgebrochen als im vergleichbaren Vorjahreszeitraum.

Schwangerschaftsabbrüche sind in Deutschland weiter rechtswidrig

Dabei sind Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland nach wie vor laut Paragraf 218 Strafgesetzbuch (StGB) grundsätzlich rechtswidrig und strafbar. Strenge Ausnahmen gelten nur nach einer Vergewaltigung und bei einer Gefahr für das Leben oder die körperliche oder seelische Gesundheit der Frau.

Ein Schwangerschaftsabbruch bleibt jedoch ausnahmsweise straffrei, wenn er in den ersten zwölf Wochen der Schwangerschaft vorgenommen wird und sich die ungewollt Schwangere einer Pflichtberatung unterzieht sowie eine dreitägige Wartefrist einhält (Paragraf 218a). Dazu entschied sich der Bundestag 1995 – und diese Praxis hat bis heute Bestand.

"Wenn man mit einem Schwangerschaftsabbruch nichts zu tun hat, dann könnte man annehmen, um es mit den Worten der CDU/CSU zu sagen: Alles ist gut", sagt Juristin Prof. Liane Wörner von der Universität Konstanz. "Aber das ist nicht der Fall."

Fachkommission empfiehlt Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen

Liane Wörner war Teil einer unabhängigen Fachkommission aus neun Expertinnen unterschiedlicher Fachbereiche, die im Auftrag der Bundesregierung prüfte, ob Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch außerhalb des Strafgesetzbuchs möglich sind und, falls ja, wie diese aussehen könnten. Auf den Einsatz einer Kommission hatte sich die Ampel in ihrem Koalitionsvertrag beim Thema "Reproduktive Selbstbestimmung" geeinigt, zu dem viele weitere Vorhaben zählen.

Nachdem das Thema aus unterschiedlichen Perspektive beleuchtet und Gespräche mit allen Fraktionen des Bundestages sowie mit zahlreichen Interessenverbänden – darunter auch religiöse Gruppen – geführt wurden, legte die Fachkommission am 15. April ihren rund 400-seitigen Abschlussbericht vor. Das Ergebnis ist eindeutig: Die Expertinnen und Experten empfehlen der Bundesregierung, Schwangerschaftsabbrüche in der Frühphase der Schwangerschaft zu legalisieren.

Rechtslage führt zu Stigmatisierung von Betroffenen

Die Kommission betrachtet die grundsätzliche Rechtswidrigkeit von Schwangerschaftsabbrüchen aus mehreren Gründen als problematisch. Der eingeschränkte Zugang dazu schränkt die reproduktiven Rechte von Frauen ein. "Und zwar nur von Frauen, nicht von Männern. Das ist Diskriminierung und deshalb für sich genommen unhaltbar", sagt Wörner.

Auch wenn ein Schwangerschaftsabbruch unter gewissen Voraussetzungen straffrei bleibt, bleibt der Vorgang jedoch rechtswidrig. Die Betroffenen würden dadurch stigmatisiert. "Das derzeitige Verfahren polarisiert. Das zeigen die stattfindenden Gehsteig-Belästigungen deutlich", sagt Wörner.

Davon sind auch Ärztinnen und Ärzte betroffen. 65 Prozent der Befragten beklagen laut ELSA-Studie, dass sie im privaten, beruflichen oder öffentlichen Umfeld dafür bereits angefeindet wurden. Dazu zählen auch tätliche Angriffe und Anzeigen.

Für Ärztinnen und Ärzte ist die Rechtslage bei Schwangerschaftsabbrüchen ohnehin heikel. Sie müssen unter hohem Verwaltungsaufwand genau prüfen, ob sie sich nicht möglicherweise strafbar machen – denn die Strafen von bis zu drei Jahren Haft gelten für alle Beteiligten. "Man steht sozusagen immer mit einem Bein in der Strafe", sagt Wörner.

Große Versorgungslücke in Deutschland droht

Aufgrund der Gesetzeslage entscheiden sich auch viele Kommunen oder Gemeinden als Versorgungsträger von Krankenhäusern dazu, sich nicht an diesem rechtswidrigen Verfahren zu beteiligen. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes führen derzeit bundesweit 1.108 Praxen und Einrichtungen Schwangerschaftsabbrüche durch – vor 20 Jahren waren es noch rund 2.000.

Das führt dazu, dass betroffene Frauen sehr weite Wege für einen Schwangerschaftsabbruch auf sich nehmen müssen. Laut der ELSA-Studie erfüllen 85 von 400 Landkreisen die angesetzten Kriterien zur Erreichbarkeit nicht. Besonders prekär ist die Versorgungslage demnach in Bayern, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz. "Wenn hier nur zwei oder drei weitere Ärztinnen und Ärzte keine Schwangerschaftsabbrüche mehr durchführen, dann droht eine riesige Versorgungslücke in Teilen von Deutschland", sagt Wörner.

Ampel reagiert zurückhaltend auf Kommissionsbericht

Schon 2023 wurde Deutschland aufgrund des problematischen Versorgungszugangs von der UN kritisiert und zur Beseitigung dieser Diskriminierung von Frauen angemahnt. Doch trotz großer Versprechungen im Koalitionsvertrag ist seitens der Bundesregierung seit dem Abschlussbericht der Fachkommission wenig passiert.

Vor allem bei der Opposition stieß der Kommissionsbericht teils auf harsche Kritik. Nach Ansicht der Unionsfraktion bedrohe die Ampel "den längst befriedeten Kulturkampf bei Abtreibungen". Den Vorwurf, die Kommission habe nur geliefert, was von der Ampel bestellt worden sei, empfindet Wörner als unredlich.

Aber nicht nur die Union stemmt sich gegen eine Liberalisierung. Die AfD strebt sogar eine noch weitergehende Einschränkung von Schwangerschaftsabbrüchen an, als es die aktuelle Gesetzeslage vorsieht. Demnach sollten Schwangerschaftsabbrüche nur in absoluten Ausnahmefällen erlaubt werden, etwa bei Vergewaltigung oder aus gesundheitlichen Gründen.

Ob die Ampel aufgrund des Drucks aus der Opposition bislang bei einer Reform der Rechtslage nicht tätig wird, darüber will Prof. Wörner nicht spekulieren. "Jedenfalls reichen die bisher vorgetragenen Argumente, warum man das jetzt nicht anfasst, als Gründe nicht aus", sagt sie. Darunter etwa die Drohung der Unionsfraktion, gegen eine Änderung des Paragrafen 218 mit einer Klage beim Bundesverfassungsgericht vorzugehen.

Schwangerschaftsabbruch: Reform wurde 1993 vom Bundesverfassungsgericht gekippt

Bereits im Jahr 1993 wurde eine Reform für Schwangerschaftsabbrüche vor dem Bundesverfassungsgericht gekippt. Heute kein Gesetz auf den Weg zu bringen, weil man die erneute Prüfung des Bundesverfassungsgerichts fürchte, sei aber keine Option. "Die Situation 1993 ist mit heute nicht vergleichbar", sagt Wörner.

Die Sachlage habe sich seitdem maßgeblich verändert. Das Bundesverfassungsgericht werde erneut prüfen und dabei die völkerrechtlichen Belange berücksichtigen müssen. "Und es wird sich dabei völkerrechtsfreundlich verhalten, wie es das auch in anderen Entscheidungen tut", glaubt sie.

Ein weiteres Argument, das in diesem Zusammenhang häufig fällt, ist der Schutz des ungeborenen Lebens. "Man darf diese Situation nicht auf eine Abwägung der Rechte der Frau gegen das Leben des ungeborenen Kindes reduzieren. Das wäre zu einfach." Der Staat habe zweifellos eine Schutzpflicht gegenüber dem ungeborenen Leben und könne dafür auch die Frau in Anspruch nehmen – aber nur so weit, wie das der Einzelnen individuell zumutbar sei.

Schwangerschaften nicht per se zumutbar

Partnerschaft, Alltag, bereits vorhandene Kinder, finanzielle Sorgen, Ausbildung oder berufliche Tätigkeit – all das können Gründe dafür sein, dass eine Schwangerschaft unzumutbar ist. "Der Fehlschluss ist, dass eine Schwangerschaft per se zumutbar ist. Aber das ist mitnichten der Fall", sagt Wörner.

Aus Sicht der Fachkommission gehen die Rechte der Schwangeren in der Frühphase der Schwangerschaft (erstes Trimenon, bis zur zwölften Woche) den Rechten des Ungeborenen grundsätzlich vor. "Hier ist die gesamte Verfasstheit der ungewollt Schwangeren so stark betroffen, dass ihr die Herausforderungen, Umwälzungen und Aufgaben nicht zumutbar sind", sagt Wörner.

Das ändert sich aber im Verlauf der Schwangerschaft: Je weiter sie fortgeschritten ist und je kürzer sie damit noch fortdauert, desto eher könne von einer Schwangeren verlangt werden, die Schwangerschaft bis zur Geburt fortzusetzen. Aus Sicht der Kommission muss die Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs aber nicht bis zur zwölften Woche begrenzt werden. "Es spricht nichts dagegen, den Schwangerschaftsabbruch auch für das gesamte zweite Trimenon straffrei und rechtmäßig zu stellen", sagt Wörner. Das liege im Ermessensspielraum der Regierung.

Einzelne Bundesländer machen Druck

Nun wird die SPD im Bundestag aktiv: Die Fraktion will einen Beschluss fassen, wonach Schwangerschaftsabbrüche im Schwangerschaftskonfliktgesetz geregelt, bis zu einer gesetzlich bestimmten Frist legalisiert und von den Krankenkassen umfassend finanziert werden sollen. Eine Frist wird in dem entsprechenden Papier, das dem Evangelischen Pressedienst (epd) vorliegt, nicht genannt. Verboten werden sollen Schwangerschaftsabbrüche ab dem Zeitpunkt, ab dem das ungeborene Leben außerhalb des Mutterleibes überlebensfähig ist.

"Diese Initiativen sind unbedingt zu begrüßen und zu unterstützen", sagt Wörner. Die Juristin glaubt jedoch, dass es bis zu einer Reform des Paragrafen 218 noch ein weiter Weg ist. "Entscheidend ist aber, dass wir diesen Weg gehen."

Die Empfehlung der Fachkommission für eine Liberalisierung des Schwangerschaftsabbruchs sei keineswegs als Relativierung des Lebensschutzes für das ungeborene Leben zu verstehen, betont Wörner.

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Schwangerschaftsabbrüche ließen sich offenbar nicht mit der derzeitigen Rechtslage verhindern, sondern am ehesten mit einer kinderfreundlichen Gesellschaft. Der Staat habe daher die Pflicht, dafür zu sorgen, dass die Rahmenbedingungen für Frauen so ausgestaltet sind, dass eine Schwangerschaft zumutbar ist – etwa durch finanzielle Unterstützung insbesondere für Alleinerziehende, ausreichend Kitaplätze oder kostenlose Verhütungsmittel als Präventionsmaßnahme.

"Was bisher nicht beachtet wird, ist, dass der Lebensschutz für das Ungeborene nur mit einer Frau zu gewährleisten ist, die diese Schwangerschaft annimmt", sagt Wörner. "Man muss die Frauen also gleichermaßen achten wie das ungeborene Leben in dieser Gesellschaft."

Über die Gesprächspartnerin

  • Prof. Dr. Liane Wörner ist Strafrechtsprofessorin und Direktorin des Centre for Human | Data | Society an der Universität Konstanz. Sie war Mitglied und wissenschaftliche Koordinatorin der Arbeitsgruppe 1 der Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin, die im Auftrag der Bundesregierung Möglichkeiten der Regulierungen von Schwangerschaftsabbrüchen außerhalb des Strafgesetzbuches untersucht hat.

Verwendete Quellen

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