Er kennt Russland sehr gut, auch schon aus einer Zeit vor Wladimir Putin: Jens Siegert lebt seit 30 Jahren in Moskau, wo er unter anderem von 1999 bis 2015 das Moskauer Büro der Heinrich-Böll-Stiftung leitete. Im Interview mit unserer Redaktion spricht der Publizist und Politikwissenschaftler über Risiken für deutsche Bürger in Russland, die ausbleibende Wirkung der Sanktionen gegen den Kreml, Sahra Wagenknecht und machtlose Oligarchen.

Ein Interview

Herr Siegert, Sie publizieren regelmäßig zu Russland und kritisieren dabei den Kreml. Wie gefährlich ist das für einen Deutschen, der in Russland lebt?

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Siegert: Diese Frage stelle ich mir regelmäßig und überprüfe die Gegebenheiten immer wieder aufs Neue. Ich habe in Russland eine Aufenthaltsgenehmigung, bin Ehemann einer russischen Frau und im Moment vermute ich, dass das größte Risiko darin besteht, von Russland rausgeschmissen zu werden. Durch den deutschen Pass bin ich nicht so gefährdet wie russische Oppositionelle. Auch Amerikaner oder Engländer sind wahrscheinlich gefährdeter.

Buch-Cover "Wohin treibt Russland?"
Jens Siegert ist Autor des Buchs "Wohin treibt Russland?". Darin beschäftigt er sich mit der russischen Gesellschaft und der Politik des Landes. © Hirzel

Seit dem Beginn der Invasion in der Ukraine hat Russland viele restriktive Gesetze erlassen. Wie hat sich aufgrund der Restriktionen ihr Alltag geändert?

Ich publiziere nicht mehr auf Russisch und gebe russischen Medien keine Interviews mehr. Außerdem habe ich aufgehört, in Russland öffentlich Dinge zu tun, die auch nur annähernd politisch aussehen könnten – was nicht so schwer ist, weil es seit dem 24. Februar 2022 kein vom Kreml unabhängiges, politisches Leben mehr gibt. Politische Diskussionen führen die Menschen jetzt vor allem im persönlichen Kreis, in der Küche oder vielleicht noch im Café.

Ein Buch über Putin und Russland

Aber wenn Sie jetzt ein politisches Buch, "Wohin treibt Russland", publizieren...

...macht es einen Unterschied, ob ich das auf Russisch tue oder auf Deutsch. Es geht ja nicht darum, was ich sage – das wissen die Behörden ohnehin. Ich lebe seit 30 Jahren in Russland und kritisiere Putin seit er im Amt ist. Entscheidend ist, so denke ich jedenfalls, ob meine Meinung in Russland eine Wirkung hat, ob ich mich einmische. Das ist eine feine Linie, die ich versuche, nicht zu überschreiten. Wobei ich keine konkreten Anhaltspunkte habe, wo die Behörden diese rote Linie im Moment ziehen.

Wäre es zum Beispiel denkbar für Sie, Blumen abzulegen für den verstorbenen Aleksej Nawalny?

Nein, am Grab von Nawalny bin ich nicht gewesen, auch auf Demonstrationen war ich nicht. Ich gehe schon sehr lange nicht mehr an Orte, wo es wahrscheinlich ist, dass die Polizei aus politischen Gründen Menschen festnimmt.

Sie sagen, die Behörden kennen Ihre publizistische Arbeit. Gab es seitens der Behörden direkte Ansprachen?

Nein, mich hat von russischer Seite noch nie jemand angesprochen, ich solle dieses oder jenes unterlassen. Nicht mal beim Grenzübertritt wurde ich gefragt, ich musste auch nie, wie viele andere Ausländer, Beamten mein Telefon zeigen oder Ähnliches.

Haben Sie für Ihr neues Buch in Russland Interviews geführt?

Natürlich spreche ich mit Leuten, das habe ich auch für das Buch getan. Bei verwendeten Zitaten habe ich die Personen aber anonymisiert.

Sanktionen in Russland

Wenn man sich in Russland in Ballungsgebieten wie Moskau und St. Petersburg aufhält, sind die Sanktionen durch die EU wenig spürbar. Wie ist das, wenn man weiter ins Land hinein geht?

Dort sind sie momentan noch weniger spürbar. Gerade in die Peripherien wird sehr viel Kriegsgeld geschwemmt, der Sold für die Soldaten liegt jetzt beim Vier- bis Fünffachen eines Durchschnittsgehalts, in manchen Regionen ist es sogar das Zehnfache. Diejenigen, die an die Front gehen, kommen ja vor allem aus den ärmeren Regionen.

Wenn die Russen die Sanktionen im Alltag kaum spüren, sind sie dann gescheitert?

Nein. Ich glaube, dass die Sanktionen notwendig und richtig sind, weil sie für die russische Kriegsindustrie die Kosten erhöhen. Viele Dinge, die die russische Rüstungsindustrie braucht, sind jetzt viel schwieriger oder gar nicht zu beschaffen. Ein Problem sehe ich darin, dass die Politik nicht ausreichend formuliert bzw. kommuniziert hat, was konkret das Ziel der Sanktionen ist.

Eine Idee dahinter ist doch, dass Einfluss genommen wird auf die russische Bevölkerung, um diese zum Umdenken zu bewegen.

Ja, allerdings gibt es auch die Position, dass die Sanktionen im Idealfall nicht die Bevölkerung, sondern nur die Regierungsverantwortlichen treffen sollten, damit die Bevölkerung sieht, dass wir ihr gegenüber wohlgesinnt sind und dass wir keinen Krieg gegen Russland wollen.

Derzeit jedenfalls scheint die russische Bevölkerung kaum betroffen.

Im Moment wirkt die Umstellung der russischen Industrie auf Kriegsindustrie wie ein riesiges staatliches Konjunkturprogramm, weshalb die russische Wirtschaft zunächst einmal wächst. Doch langfristig, denke ich, wird der Krieg und werden die Sanktionen dieses Land ärmer machen. Wahrscheinlich wird es schon im nächsten Jahr anders und es wird zu Wohlstandsverlusten kommen.

Opposition hat kaum Einfluss

In Ihrem Buch schreiben Sie, dass die aktuell Regierenden das Land "zugrunde richten".

Ja, ich glaube, dass diese bewusst herbeigeführte Konfrontation mit dem, was man den "Westen" nennt, für Russland insgesamt schädlich ist. Und wenn man Menschen glaubt, die im Austausch mit der politischen Elite stehen, ist diese Ansicht auch in Regierungskreisen verbreitet. Vor allem unter Regierungsberatern gibt es viele, die denken, dass diese Konfrontation ein Fehler ist. Offen sagt das niemand, aber Journalisten berichten darüber, wie zum Beispiel Farida Rustamowa, die viele Personen aus Regierungskreisen kennt.

Sie schreiben auch, dass die Opposition im Ausland kaum Einfluss auf das Geschehen in Russland hat...

Wirkliche Veränderung wird es nur geben, wenn ein ausreichend großer Teil der Bevölkerung im Land Interesse an einer Veränderung hat. Natürlich ist die Opposition im Ausland auch ein Teil Russlands. Doch sobald sie aus dem Exil agiert, nimmt ihre Bedeutung ab. Eine Exil-Opposition steht immer vor dem Problem, dass sie von außerhalb relativ schnell das Gefühl dafür verliert, was im Land tatsächlich passiert.

Zehn Prozent für einen Gegenkandidaten sind da schon zu viel.

Über das Verbot der Kandidatur von Nadeschdin bei der vergangenen Präsidentschaftswahl

Hinzu kommt, dass Emigranten von den daheimgebliebenen Russen relativ schnell als nicht loyal betrachtet werden. Weil sie den angeblich bequemeren Weg gewählt haben, wobei Exil natürlich nicht bequem ist. Wenn man sich dazu noch die russische Geschichte anschaut, stellt man fest, dass nach einem Machtwechsel selten die Oppositionellen in Machtpositionen gekommen sind, sondern in der Regel Teile der vorherigen Funktionselite, die sich vom alten Kurs abgetrennt haben. Das war in Deutschland nach dem Nationalsozialismus nicht anders, da ist nicht die Exil-Opposition an die Macht gekommen, sondern die Funktionselite ist im Wesentlichen gleich geblieben.

Bei den letzten Präsidentschaftswahlen wollte auch der Politiker Boris Nadeschdin antreten, der die Ukraine-Invasion ablehnt. Sie vermuten in Ihrem Buch, er habe seine Kandidatur "sicher nicht ohne Absprache mit dem Kreml" erklärt.

Ja, das ist undenkbar. Um Unterschriften sammeln zu dürfen, musste er sich bei der zentralen Wahlbehörde registrieren. Die registriert Kandidaten aber nur, wenn der Kreml zuvor das Okay dafür gegeben hat – und das gibt es nicht ohne Absprachen. Wie es genau gelaufen ist, können wir nicht wissen, aber vermutlich wollte der Kreml einen Kandidaten, der einerseits chancenlos ist, aber andererseits hilft, die Illusion einer echten Wahl aufrechtzuerhalten.

Als es dann die langen Schlangen von Menschen gab, die für Nadeschdin unterschrieben, wurde es dem Kreml zu gefährlich und die Wahlbehörde ließ seine Kandidatur nicht zu. Selbst wenn er nur zehn Prozent bekommen hätte: Die gesamte Machtkonstruktion in Russland hängt an der behaupteten, überwältigenden Popularität von Putin, also muss das Ergebnis von solchen Wahlen auch immer überwältigend sein. Zehn Prozent für einen Gegenkandidaten sind da schon zu viel.

Wieder ein Eiserner Vorhang

Zwischen Europa und Russland existiert aktuell wieder ein Eiserner Vorhang. Braucht es da nicht eine Gegenbewegung seitens der Zivilbevölkerung, die den Austausch sucht?

Natürlich, aber das wird von russischer Seite verhindert. Nach Russland dürfen Sie nur rein, wenn Sie nichts über den Krieg sagen. Sobald Sie im Land sind, müssen sich den Bedingungen des Kremls unterwerfen. Und das ist eben der Unterschied: Wenn Sie als Russe in die EU kommen, können Sie hier im Grunde alles über diesen Krieg sagen, was Sie wollen. Das ist Meinungsfreiheit und Demokratie. In Russland gibt es die nicht. Ich möchte mich gerne für den Austausch engagieren, aber eben ohne Verbote und Beschränkungen seitens des russischen Staates.

Die Sowjetunion hat den Menschen eine zwar ferne, aber dafür umso lichtere Zukunft versprochen. Putin bietet nur eine angeblich glorreiche Vergangenheit an.

Über die Versprechen des Kremls an die russische Bevölkerung

Sahra Wagenknecht sagte auf einer Demonstration in Berlin kürzlich in Hinblick auf Putin: "Jeder Politiker, der einen Krieg beginnt, ist ein Verbrecher, (...) aber was ist mit all den US-Politikern, die viele Kriege in den letzten Jahren verantwortet haben?" Hat Sie da einen Punkt Ihrer Meinung nach?

Nein. Erstens gilt der Grundsatz "Es gibt keine Gleichheit im Unrecht', sprich, ein Verbrecher wird nicht besser dadurch, dass man ihn mit einem anderen Verbrecher vergleicht. Zweitens: Was die Amerikaner verbrochen haben, muss man mit den Amerikanern ausmachen, und was Putin verbricht muss man mit ihm ausmachen. Das ist Putin.

Wer hat 2014 den Krieg im Donbas begonnen, wer hat die Krim annektiert und wer hat 2022 eine riesige Armee in die Ukraine geschickt und führt dort heute einen Vernichtungskrieg, bei dem Zivilisten getötet und zivile Infrastruktur zerstört wird? Das ist Putin.

Die Ukraine hat Russland nicht angegriffen, die Amerikaner haben Russland nicht angegriffen, die Amerikaner haben auch nicht die Ukraine angestiftet, Russland anzugreifen. Diesen Unterschied verwischt Wagenknecht mit ihren Aussagen und das ist fundamental. Denn wenn man diese Dinge nicht unterscheiden kann, gibt es bei Kriegen keine Verantwortlichen mehr. Ich verstehe auch nicht, wenn jemand in diesem Konflikt die Amerikaner oder Europäer als Kriegstreiber bezeichnet. Denn die russische Seite sagt ja ganz klar, was ihre Bedingung ist für einen Stopp der Angriffe: Die Kapitulation der Ukraine.

Was ist Ihrer Meinung nach momentan für Deutschland und die EU die beste Politik in Bezug auf Russland?

Aktuell ist das Beste natürlich, der Ukraine zu helfen, diesen Krieg zu gewinnen. Das ist die Grundvoraussetzung von allem. Wenn das nicht passiert, wird es alles verlängern und schlimmer machen.

Wann ist ein Kriegsende in Sicht?

Für die Ukraine geht es darum, einen Aggressor abzuwehren, ist da eigentlich "gewinnen" der richtige Ausdruck?

In der Politik müssen Sie immer bedenken, wie so eine Äußerung auf der anderen Seite verstanden wird, wozu ermutigt sie die andere Seite, oder was verhindert sie. Als die Bundesregierung - auch die US-Regierung - formulierte, "die Ukraine darf nicht verlieren", ist auf russischer Seite verstanden worden: "Aha, die gehen nicht all-in". Wenn man verhindern will, dass Russland weitermacht, muss man Putin stark entgegentreten.

Denken Sie, dass langfristig territoriale Abtretungen an Russland eine Möglichkeit sind, um Frieden in der Ukraine zu schaffen?

Faktisch gab es das schon, mit den Abkommen Minsk 1 und 2, das war ein Einfrieren des Konflikts. Doch den jetzigen Krieg hat es nicht verhindert. Ein neues Abkommen dieser Art wird diesen Krieg nicht beenden, sondern nur zu einem neuen Atemholen führen.
Zumal es undenkbar ist, dass eine ukrainische Regierung jetzt einen Friedensvertrag schließt, in dem sie die Krim und den Donbas an Russland abtreten. Jede ukrainische Regierung, die das anstrebt, ist morgen weg. Vielleicht wird die Ukraine eines Tages gezwungen sein, die De-facto-Situation anzuerkennen, aber man wird auf ukrainischer Seite nie davon abrücken, dass diese Gebiete zur Ukraine gehören.

Was ist wenn Putin stirbt?

Warum hört man seit 2022 eigentlich nur sehr selten Kritik am Kreml von den russischen Oligarchen?

Das Schlagwort Oligarchen führt leider oft zu falschen Assoziationen. Denn mächtig waren sie in Russland auch vorher nicht, sie sind völlig vom Kreml abhängig. Wem in Russland was gehört, entscheidet Putin und nicht irgendwelche Besitztitel.

Glauben Sie zumindest, dass russische Wirtschaftsbosse aus der Deckung kommen, wenn Putin eines Tages stirbt?

Das wird sehr darauf ankommen, wie es passiert. Wenn Putin vorher einen Nachfolger aufbauen und in die gleiche Machtposition bringen kann, derjenige die Armee, den Geheimdienst usw. kontrolliert, dann eher nicht. Wenn Putin aber plötzlich stirbt, ist viel möglich. Und zwar in die negative wie auch in eine positive Richtung.

Was mir für die Zeit nach Putin ein kleines bisschen Hoffnung macht, ist die Tatsache, dass es meines Wissens viele Leute im Regierungsapparat gibt, die diesen Krieg eigentlich nicht wollen. Und auch wenn ein großer Teil der Bevölkerung Putin gewählt hat: Das ist nicht unbedingt eine Unterstützung für den Krieg. Unter meinen Freunden und Bekannten in Russland ist niemand, auch nicht unter denen, die Putin gut finden, die oder der findet, dass Krieg gut ist. Sie alle denken, dieser Krieg ist eine Katastrophe für die Ukraine, aber eben auch für Russland.

Über den Gesprächspartner

  • Jens Siegert lebt seit 30 Jahren in Moskau, wo er u.a. von 1999 bis 2015 das Moskauer Büro der Heinrich-Böll-Stiftung leitete. Zuletzt erschien sein Buch "Wohin treibt Russland?"
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