• Immer mehr deutsche Politikerinnen und Politiker kündigen Besuche in Kiew an.
  • Der Zweck dieser Reisen ist umstritten. Der CDU-Politiker Roderich Kiesewetter sieht in ihnen ein wichtiges Zeichen der Solidarität.
  • Der Politikwissenschaftler Vyacheslav Likhachev aus Kiew sagt: Es darf dabei nicht nur um mediale Aufmerksamkeit gehen.

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Friedrich Merz war da, Gregor Gysi ist gerade da, Bärbel Bas und Annalena Baerbock wollen demnächst hinfahren: Die Liste der deutschen Politikerinnen und Politiker, die in die Ukraine reisen, wird länger. Noch länger wird sie, wenn man Polit-Prominenz aus dem Ausland hinzunimmt: Die Spitzen der Europäischen Union haben Kiew ebenso besucht wie UNO-Generalsekretär Antonio Guterres, US-Außenminister Anthony Blinken und der britische Premier Boris Johnson.

Diese Reisen sind umstritten. Erstens finden sie unter einem gewissen Risiko statt: Die russische Armee hat in den vergangenen Tagen verstärkt die Schienen-Infrastruktur des Landes ins Visier genommen. Und in Zügen rollt auch die Polit-Prominenz nach Lwiw oder Kiew. Zweitens stellt sich die Frage, was die Ukraine davon hat, wenn Gäste aus dem Ausland sich die Ruinen von Irpin oder Butscha anschauen. Ist es also sinnvoll, wenn die Politik ins Kriegsgebiet reist?

CDU-Politiker Roderich Kiesewetter: "Es geht darum, Solidarität zu zeigen"

Roderich Kiesewetter antwortet mit einem klaren Ja. Der CDU-Bundestagsabgeordnete und Außenpolitik-Experte hat seinen Partei- und Fraktionschef Merz in dieser Woche in die Ukraine begleitet. "Es geht darum, Solidarität zu zeigen, zuzuhören, deutlich zu machen: Wir sind da und stehen hinter euch", sagt Kiesewetter im Gespräch mit unserer Redaktion.

"Mich hat der Besuch in meiner Haltung bestärkt", sagt Kiesewetter. "Wenn man den Geruch der verbrannten Häuser wahrgenommen hat, weiß man: Es ist richtig, sich auf die Seite der Ukraine zu stellen." Die Gesprächspartner vor Ort hätten sich die Zeit "aus den Rippen geschnitten", sagt Kiesewetter. "Das zeigt, wie wichtig der Ukraine die Unterstützung und die Solidarität sind."

Ein schmaler Grat

Der Abgeordnete sieht sich und seine Kollegen in einer wichtigen Rolle – auch wenn es um die Vermittlung der Eindrücke in der eigenen Heimat geht: "Unsere Aufgabe besteht auch darin, die Ängste und Sorgen der Ukraine hier in Deutschland in die Bevölkerung zu spiegeln", sagt er.

Gleichzeitig wagen sich Politiker mit diesen Besuchen auf einen schmalen Grat: Schnell kann man sich den Vorwurf einhandeln, sich selbst zu inszenieren oder die Reise für die eigene Partei auszuschlachten. SPD-Chef Lars Klingbeil hat vor einer "parteipolitischen Instrumentalisierung des Krieges" gewarnt, als CDU-Chef Merz seine Reise ankündigte.

Inzwischen sind bis auf die AfD aber Mitglieder aller Bundestagsfraktionen in die Ukraine gefahren. CDU-Politiker Kiesewetter sieht auch darin ein wichtiges Signal: "Es ist gut, wenn Politikerinnen und Politiker unterschiedlicher Parteien in die Ukraine fahren, denn jede politische Kraft hat im Land andere Zugänge zu Parteien oder Nichtregierungsorganisationen."

Experte aus Kiew: "Politiker sind vor allem an medialer Aufmerksamkeit interessiert"

Mit gemischten Gefühlen blickt Vyacheslav Likhachev auf das Thema: "Ich denke, dass deutsche Politiker bei solchen Besuchen in erster Linie an der medialen Aufmerksamkeit interessiert sind", sagt der Politikwissenschaftler und Journalist aus Kiew auf Anfrage unserer Redaktion. Zum Besuch von Friedrich Merz fragt er sich zudem, inwieweit ein Oppositionspolitiker überhaupt Einfluss auf die Lieferung von Waffen hat.

Denn darum geht es der ukrainischen Seite in erster Linie: Das Land ist dankbar für Zeichen der Solidarität, aber noch dankbarer für militärische Unterstützung. Deswegen begrüßt es Likhachev, wenn sich ausländische Politiker auf den Weg nach Kiew machen: "Natürlich stehlen sie der ukrainischen Regierung wertvolle Stunden. Aber wenn diese Zeit kompensiert wird durch die Lieferung schwerer Waffen, dann kommen wir uns ja auf halbem Weg entgegen."

Deutschland habe in der Ukraine gerade kein sehr positives Bild, sagt auch der Philosoph und Essayist Volodymyr Yermolenko, Chefredakteur der Online-Plattform "UkraineWorld". Deutschland werde in der Frage der Waffenlieferungen als langsam und zögerlich wahrgenommen. "Besuche von deutschen Politikern sind gut. Aber wir brauchen mehr Tatkraft und Besuche von wichtigen Offiziellen, die zu Lösungen und Handlungen bereit sind."

Entscheidungen über Waffenlieferungen gehen Besuchen voraus

Auf diesen Aspekt hat auch der ukrainische Präsident hingewiesen, als er im April medienwirksam einen Besuch von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ablehnte. Wolodymyr Selenskyj sagte damals, es sollten nur Politikerinnen und Politiker kommen, die etwas "mitbringen". Damit meinte er Waffen oder andere militärische Unterstützung.

Offenbar sind deutsche Politikerinnen und Politiker seitdem bemüht, nicht mit leeren Händen in die Ukraine zu fahren. Vyacheslav Likhachev hat den Eindruck, dass Entscheidungen über Waffenlieferungen eher im Vorfeld der Besuche fallen – und nicht erst in der Ukraine getroffen werden. Darauf hat auch Friedrich Merz hingewiesen, der als Oppositionsführer selbst keine Waffenlieferungen auf den Weg bringen kann: Aus seiner Sicht kam der jüngste Bundestagsbeschluss über die Lieferung schwerer Waffen auf das Drängen der Union hin zustande.

Diese Entscheidung des Bundestags hat nun offenbar auch den Weg für weitere hochkarätige Besuche in Kiew freigemacht: Selenskyj hat Bundespräsident Steinmeier und die Bundesregierung inzwischen offiziell in die Ukraine eingeladen. Am Donnerstag kündigte Bundeskanzler Olaf Scholz dann an, dass Außenministerin Baerbock dorthin reisen wird. Passend dazu kam am Freitag ein weiterer Beschluss: Die Bundesregierung wird der Ukraine sieben Panzerhaubitzen liefern.

Nach Leberwurst-Spott gegen Scholz: Melnyk sieht keinen Grund für Entschuldigung

Der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk sieht nach seiner Attacke auf Bundeskanzler Olaf Scholz keinen Anlass für eine Entschuldigung. "Es geht nicht darum, ob man sich entschuldigt, es geht darum, dass eine richtige Politik in diesen Tagen gemacht wird", sagte er am Freitagmorgen dem Deutschlandfunk.
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