Bayerns Ministerpräsident richtet bei "Anne Will" eine resolute Forderung an die medizinischen Experten. Die Gastgeberin grillt derweil die oberste Auto-Lobbyistin des Landes.

Eine Kritik
Diese Kritik stellt die Sicht von Christian Bartlau dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

Es mag nicht die Nachricht sein, die man gern liest, aber: Die Wochen des Corona-Ausnahmezustands waren der einfache Teil der Krise. Also, nicht einfach im Sinne von Spaziergang, eher simpel wie die Urlaubsplanung in diesem Sommer.

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Aber nun, da Deutschland über den richtigen Weg aus der Corona-Krise debattiert, wird es erst richtig kompliziert, wie sich bei "Anne Will" am Sonntagebend erweist: Eine hochkarätige Besetzung liefert kaum überzeugende Ideen für die nächsten Schritte – dafür wächst mit jeder Sendeminute die To-Do-Liste. Besonders ein Wunsch von Markus Söder an die Experten lässt aufhorchen.

Was ist das Thema bei "Anne Will"?

Kirchen, Tiergärten und auch Spielplätze öffnen wieder – und von die Bund-Länder-Beratungen am Mittwoch erwarten sich viele Menschen weitere lang ersehnte Lockerungen. Doch noch stehen eine Menge Fragen im Raum, die Anne Will mit ihrer Runde unter dem Motto bespricht: "Raus aus dem Corona-Stillstand – hat die Regierung hierfür den richtigen Plan?"

Wer sind die Gäste?

Vizekanzler Olaf Scholz (SPD) weist auf die enorme Schwierigkeit der Situation hin: "Wir müssen Vieles gleichzeitig richtig machen", etwa die Belange der Familien und der Wirtschaft bedenken. So schwierig werde es "sicher zwei Jahre bleiben, je nachdem wann das mit dem Impfstoff gelingt."

Hildegard Müller, Präsidentin des Verbands der Automobilindustrie (VDA), wehrt sich gegen den Vorwurf, die Wirtschaftslobby würde nach schnellen Öffnungen rufen: "Wir wollen eher schauen, wie kann man bestimmte Branchen wieder hochfahren." Dafür seien Kriterien notwendig, um mit dem Virus zu leben sowie Mitarbeiter und Kunden zu schützen.

Die Arbeitsmarktforscherin Jutta Allmendinger weist auf das Konfliktpotenzial hin, das sich gerade zusammenbraut: "Wir sind bislang nur gut durchgekommen, weil die Gesellschaft ein unglaubliches Vertrauen in die Politik hat." Aber jahrelang diskutierte Probleme würden nun noch dringender werden, vor allem die Ungleichheit – in den Vermögen, in den Bildungschancen, in der Geschlechterfrage.

Grünen-Chef Robert Habeck (Grüne) vermisst die Differenzierungen: "Wir führen immer nur die Debatte ob Lockdown oder Lockerungen, das ist falsch." Es fehle an alternativen Modellen, etwa gestützt durch eine App, die viel zu lange auf sich warten lasse. Und es fehle an klaren Linien: "Die Bundesländer machen, was sie wollen." Habeck bemühte das Bild eines Orchesters: "Da spielt jeder ein anderes Instrument, das ist normal, aber die Töne sollten die selben sein."

Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) setzt offenbar auf eine kleinteiligere Corona-Bekämpfung: "Wir müssen überlegen, wie wir regional differenziert zurückfahren." Er sei dafür, je nach Infektionsgeschehen zu entscheiden.

Was ist der Moment des Abends?

Wonach entscheidet sich eigentlich, wann welche Maßnahmen getroffen oder wieder beendet werden? Immer wieder schwirren andere epidemiologische Kennzahlen durch die Debatte – erst die Infektionszahlen, dann die Verdopplungsspanne, jetzt der Replikationsfaktor.

Markus Söder verlangt von den medizinischen Experten nun eine Art goldene Formel: "Das Wichtigste wäre vom Robert-Koch-Institut mal eine verlässliche Zahl: Ab wann wird es gefährlich? Die verschiedenen Zahlen sorgen für Verwirrung." Was für eine Zahl das bitte sein solle, hakt Anne Will nach, Söder spricht nun von einem "Zahlenkomplex", auf den sich alle Bundesländer einigen könnten. "Damit wäre uns besser geholfen, als wenn wir Woche für Woche einzelne Schritte setzen."

Bei der Wissenschaftlerin in der Runde kommt das Bitten Söders gar nicht gut an: "Damit können wir als Wissenschaft nicht dienen", sagt Jutta Allmendinger. "Entscheiden muss die Politik." Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin wünscht sich sogar noch mehr Komplexität in der Debatte – für sie zähle nicht nur körperliche, sondern auch psychische und soziale Gesundheit. "Das muss in ein Gesamtpaket eingepreist werden, und die Politik muss dann Prioritäten setzen."

Was ist das Rede-Duell des Abends?

Hildegard Müller weiß, wie man sich durchsetzt, selbst die berühmten gläsernen Decken haben ihren Karriere-Aufstieg nie gebremst. Sie wurde 1998 erste weibliche Vorsitzende der Jungen Union und 2016 die erste Frau im Vorstand der RWE-Tochter innogy.

Zwischendurch diente Müller Angela Merkel als Staatsministerin im Bundeskanzleramt, eine recht nützliche Referenz im Lebenslauf, wenn man sich wie Müller auf Lobbyarbeit spezialisiert. Seit Februar 2020 führt sie – natürlich als erste Frau – den Verband der Automobilindustrie, sie stach niemand Geringeren aus als Sigmar Gabriel und kassiert nun dem Vernehmen nach ein Millionengehalt.

Schmerzensgeld, wenn man sich anschaut, mit welcher Wonne Anne Will Müller piesackt. Warum die großen Konzerne noch immer Dividenden ausschütten wollen, obwohl sie mit dem Kurzarbeitergeld letztlich Staatshilfen kassieren, will die Gastgeberin wissen. Müller weist darauf hin, dass VW und Co. nicht unerhebliche Beträge in die Sozialkassen einzahlen.

"Sie bekommen also nur, was ihnen zusteht?", grätscht Will sofort dazwischen, Müller schlingert wie die A-Klasse beim Elchtest, will sich aber noch abfangen: "Kurzarbeit ist etwas anderes als Liquiditätshilfe. Ich rate dazu, sich darauf nicht zu konzentrieren." Will, maliziös lächelnd: "Ich verstehe, dass Sie dazu raten."

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Wie hat sich Anne Will geschlagen?

Fast schon unfair, wie Will dann auch noch Finanzminister Scholz in die Diskussion einbezieht, um Müller im Doppel in die Mangel zu nehmen. Scholz zerstäubt gleich einmal jede Hoffnung der Branche auf konkrete Zusagen vor Ende Mai. Und mäkelt dann an der Idee einer Kaufprämie herum: "Ich habe noch nicht verstanden, ob das klug ist. Geht es da um moderne Sachen oder einen Abverkauf?"

Wer jetzt ein Auto kaufen wollte, kriege doch eh einen guten Preis. Oder die Käufer warteten jetzt eh erst einmal ab, vermutet Will und amüsiert sich noch einmal auf Müllers Kosten: "Vielleicht haben Sie das auch zu früh ins Spiel gebracht, Frau Müller."

So scharfzüngig und konzentriert agiert Will aber nicht die ganze Sendezeit über – offensichtlich hat sie sich schlicht zu viel vorgenommen. Habeck will mit Boris Palmers Aussagen ("Der Satz war falsch und herzlos. Er spricht weder für die Partei noch für mich.") konfrontiert, die Dissonanzen zwischen den Bundesländer beleuchtet und die Wiederkehr des Patriarchats diskutiert werden. Da wird zwischendurch viel ab- und wenig nachgehakt.

Was ist das Ergebnis?

Es gibt noch viel zu tun, und es wird immer mehr. Vor allem, wenn eine Wissenschaftlerin wie Jutta Allmendinger den Blick noch etwas weitet. Die Lage der Frauen kommentiert die Forscherin mit harten Worten: "Wir werden eine entsetzliche Re-Traditionalisierung erfahren", sagt sie.

Drei Jahrzehnte Emanzipation könnten so verloren gehen, warnt sie. Vor allem der Ausbau des Homeoffice stößt ihr auf: "Frauen werden in permanente Rechtfertigungsnot geraten, warum sie nicht zuhause bleiben."

Robert Habeck sekundiert Allmendinger. Man habe gesehen, wer keine Lobby habe: Alleinerziehende, Kinder und Frauen. "Die Regierung hat implizit vorausgesetzt, dass Mutti es schon macht. Sonst macht es ja keinen Sinn, wenn man die Kitas und Schulen schließt."

Wirkliche Pläne hatte aber auch er nicht zu bieten, und so blieb es an diesem Abend bei vielen guten Absichten und der Warnung von Markus Söder, man dürfe nicht alles schlecht reden: "In jedem anderen Land wäre man froh, hätte man das Schlimmste abgewendet und glimpflich überstanden." Nur war das ja der einfachere Teil der Pandemie. Jetzt warten noch viel mehr Probleme.

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