Mit Deutschlands Überfall auf Polen am 1. September 1939 beginnt der Zweite Weltkrieg – und das Leid von Millionen von Menschen. In Polen sind die Nachwirkungen des Nazi-Terrors noch heute allgegenwärtig, sagt CDU-Politiker Paul Ziemiak. Ein Gespräch über die gesellschaftliche Seele Polens und die Beziehungen zu Deutschland.
Um 04:45 Uhr beginnt am 1. September 1939 eine neue Zeitrechnung. Ohne Kriegserklärung und mit einem konstruierten Vorwand überfällt Nazi-Deutschland Polen. Es ist der Auftakt für den Zweiten Weltkrieg.
Von den mehr als sechs Millionen Jüdinnen und Juden, die von den Nazis während des Krieges ermordet werden, sterben alleine in Polen rund drei Millionen. Die Zahl der den Nazis zum Opfer gefallenen Menschen in Polen insgesamt wird auf mehr als 5,5 Millionen Menschen geschätzt.
Vermutlich kann keine Zeitspanne der Welt die Wunden, die Deutschland in Polen hinterlassen hat, vollständig heilen. Doch zumindest politisch haben sich die beiden Länder zuletzt wieder angenähert, sagt Paul Ziemiak. Der CDU-Politiker ist Vorsitzender der Deutsch-Polnischen-Parlamentariergruppe des Bundestags. Doch mit Blick auf die Beziehungen zwischen den Ländern gibt es laut Ziemiak noch einiges zu tun.
Herr Ziemiak, am 1. September jährt sich Deutschlands Überfall auf Polen zum 85. Mal. Sie haben polnische Wurzeln: Was bedeutet dieser Tag für Sie persönlich?
Paul Ziemiak: Für mich bedeutet er, der Geschichte meiner Familie zu gedenken. Vor allem die meiner Großeltern, die diesen Tag erlebt haben. Noch heute habe ich die Erzählungen meines Großvaters im Ohr. Er berichtete von seinem Weg zur Schule – und plötzlich warfen deutsche Flugzeuge Bomben über Polen ab. Wie ihm bewusst wurde: Deutschland hat Polen überfallen – es ist Krieg.
Ihr Großvater kämpfte im Widerstand gegen die deutschen Besatzer. Was hat er Ihnen über dies Zeit erzählt?
Er erzählte mir vor allem darüber, wovon diese Zeit geprägt war. Von Angst, von willkürlichen Verhaftungen, von Fallen der Deutschen, von der Suche nach anderen Widerstandskämpfern. Er erzählte mir vom Leid der Familien und von den Morden durch die Deutschen und natürlich auch später durch die Sowjets.
Kriegstraumata werden oft von Generation zu Generation weitergebeben. Wie haben Sie das in Ihrer Familie erlebt?
Die Weitergabe dieser Erinnerung, des polnischen Leids, das spielt in jeder Familie eine große Rolle. Man kann das heutige Polen nicht verstehen, ohne dass man seine Geschichte kennt.
Das müssen Sie erklären.
Für alle Deutschen ist die Existenz des deutschen Staates eine Selbstverständlichkeit. Natürlich weiß man von den Verbrechen der Nazis und von den unsagbaren Grauen des Holocaust. Aber kaum ein Deutscher kann sich vorstellen, dass es keinen deutschen Staat gäbe. In Polen ist das anders. Jeder dort weiß, dass die Existenz des polnischen Staates, seine Souveränität und das Leben der Menschen darin in Freiheit nie eine Selbstverständlichkeit war. Dass Polen heute nur frei sein kann, weil viele Menschen mutig waren und Widerstand leisteten und sich dafür entschieden, lieber im Stehen zu sterben, als auf Knien zu leben.
Wie wirkt sich das auf den Alltag in Polen aus?
Das Leid, das das polnische Volk erfahren hat, kann man nicht anders bezeichnen als den gesellschaftlichen Kern der heutigen polnischen Republik. Das ist tief im kollektiven Gedächtnis aller Menschen im Land verankert und wird an die jeweils nächste Generation weitergegeben. In der Politik und der Gesellschaft werden deshalb Bedrohungen von außen, wie durch Russland, mit einer ganz anderen Sensibilität wahrgenommen.
In einer Kolumne schrieben sie jüngst: "Deutschland hat Polen um Vergebung gebeten. Es hat sich jedoch nicht angemessen auf einen Versöhnungsprozess eingelassen." Was genau meinen Sie damit?
Die wenigsten stellen in Polen infrage, dass Deutschland seine Geschichte aufarbeitet oder alles tut, die Erinnerung an das Leid der Opfer aufrechtzuerhalten. Aber es gibt den großen Wunsch, von Deutschland auf Augenhöhe und nicht als kleinerer Partner wahrgenommen zu werden. Es herrscht das Gefühl, dass Polen nicht als das gesehen wird, was es ist: Ein starkes, wichtiges Land im Herzen Europas. Ein Land, das entscheidend dazu beitragen kann, den Osten Europas besser zu verstehen.
Wie könnte Deutschland Polen dieses Gefühl nehmen?
Zum Beispiel, indem man bei der Verteidigungspolitik mehr auf Polen hört. Da hat Deutschland in der Vergangenheit Fehler gemacht. Etwa wurde polnischen Geheimdienstinformationen, die vor einer Eskalation in der Ukraine gewarnt haben, in Deutschland kein Gehör geschenkt. Auch die Warnungen vor einer zu starken Abhängigkeit von Russland wurden in den Wind geschlagen. Stattdessen hat man Projekte zur Gasversorgung an Polen und anderen europäischen Staaten vorbei beschlossen.
In beiden Aspekten hat sich die Haltung Deutschlands inzwischen deutlich verändert.
Ja, das nimmt man in Polen auch positiv zur Kenntnis. Aber dass Deutschland etwa bei der Unterstützung der Ukraine umgeschwenkt hat, ist eben auch viel auf Druck der Nachbarstaaten passiert. Und nicht im Sinne eines gemeinsamen Kurses. Nicht ein starkes Deutschland macht den Polen heute Angst – sondern ein schwaches. Außerdem nimmt man in Polen auch kopfschüttelnd zur Kenntnis, dass Deutschland kein Verständnis für Länder zeigt, die keine irreguläre Migration wollen. Wir sollten damit aufhören, die Polen schullehrerhaft zu Fragen der europäischen Werte zu belehren.
Zwischen der PiS-Regierung und Deutschland war der Ton teilweise rau. Jetzt ist seit gut einem Dreivierteljahr Donald Tusk an der Macht. Ist der Neustart der deutsch-polnischen Beziehung gelungen?
Er hat auf jeden Fall stattgefunden. Das sieht man an den Regierungskonsultationen und dem Austausch unserer Regierungen, den wir jetzt pflegen. Auch dass der Bundespräsident zum Gedenken an den Warschauer Aufstand nach Polen kam, war ein wichtiges Zeichen – und wurde auch in Polen so wahrgenommen. Insofern sind wir wieder auf einem guten Weg. Aber Deutschland muss jetzt auch liefern.
Liefern muss auch der Bundeskanzler. Im Juli kündigte er Hilfszahlungen für die noch lebenden Opfer der Nazis in Polen an. Wie die aussehen sollen, ist aber weiter unklar.
Warum beide Regierungen dazu noch nichts Konkretes verkündet haben, kann ich nicht nachvollziehen. Man muss den Ankündigungen auch Taten folgen lassen – das hat sehr viel mit Glaubwürdigkeit zu tun. Auch das deutsch-polnische Haus muss endlich kommen. Es soll ein Gedenkort für die polnischen Opfer des Nationalsozialismus in Berlin sein und ist vom Bundestag längst beschlossen
Aktuell tobt wieder Krieg in Europa. Stimmen aus Ihrer Partei fordern "fahnenflüchtige Ukrainer" nicht mehr "zu alimentieren". Ist das aus Ihrer Sicht der richtige Ton von einer Nation, die Europa einst mit Krieg überzog, an Menschen, die jetzt vor Krieg flüchten?
Auf wessen Aussagen beziehen Sie sich konkret?
Das Zitat stammt von Brandenburgs Innenminister Michael Stübgen – und er ist nicht der Einzige, der sich so äußert. Ihr Fraktionskollege Thorsten Frei forderte etwa, Bürgergeld nicht mehr an ukrainische Flüchtlinge auszuzahlen, weil sich zu viele wehrfähige Ukrainer wegducken würden. Nochmal: Ist das ein angemessener Ton für eine Volkspartei, die sich der historischen Verantwortung Deutschlands bewusst ist?
Wir sollten über konkrete Dinge sprechen. Wir sehen beispielsweise, dass die Integration von Ukrainerinnen und Ukrainern in den Arbeitsmarkt in Polen besser gelingt als bei uns. Woran das liegt, sollte uns beschäftigen. Vielleicht auch am Bürgergeld? Diese Diskussion sollte man ganz sachlich führen und über alle Dinge sprechen, die auf dem Tisch liegen.
Zur Person:
- Paul Ziemiak wurde am 6. September 1985 als Pawel Ziemiak in Stettin (Polen) geboren. Im Alter von drei Jahren zog er mit seiner Familie nach Deutschland. 1998 trat er in die CDU-Jugendorganisation "Junge Union" ein. 2001 folgte der Beitritt in die CDU für die er 2017 in den Bundestag einzog. Von 2018 bis 2022 war er Generalsekräter der CDU. Derzeit ist Ziemiak Vorsitzender der Deutsch-Polnische Parlamentariergruppe im Bundestag und seit 2022 Generalsekretär der CDU in Nordrhein-Westfalen.
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