In den sozialen Netzwerken hat die AfD eine größere Reichweite als alle anderen deutschen Parteien. Woran liegt das? Und was kann die politische Konkurrenz tun, um im Kampf um die Aufmerksamkeit im Netz aufzuholen?

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Joshua Schultheis sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Maximilian Krah guckt direkt in die Kamera. "Schau keine Pornos, wähl nicht die Grünen, geh an die frische Luft." Der Adressat des AfD-Spitzenkandidaten für die Europawahl: junge Männer, die noch nie in einer Beziehung waren.

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Krah steht vor einem halbleeren Bücherregal. Was er sagt, wird mit übergroßen Lettern untertitelt. Das Video wirkt dilettantisch. "Lass dir nicht einreden, dass du lieb, soft, schwach und links zu sein hast." Männer, sagt der Politiker, müssen rechts sein und Patrioten. "Dann klappt‘s auch mit der Freundin."

Nur 21 Sekunden ist der Clip auf TikTok lang. Seit seiner Veröffentlichung Mitte Juni wurde er 1,4 Millionen Mal geklickt. Eine enorme Reichweite angesichts des geringen Produktionsaufwands. Auch andere Krah-Videos im selben Stil mit Titeln wie "Asozialer Sozialstaat", "Unnütze Gender-Studenten" oder "Unsere Vorfahren waren keine Verbrecher" erreichen Zehntausende.

Die AfD-Bundestagsfraktion hat 360.000 Follower auf TikTok

Der Rechtsaußen-Politiker ist kein Ausreißer. Seine Partei, die Alternative für Deutschland, dominiert die chinesische Plattform TikTok. Die Bundestagsfraktion der AfD kommt auf dem Video-Portal auf 360.000 Follower – mehr als alle anderen im Parlament vertretenen Parteien zusammen. Eine Analyse der Social-Media-Agentur Intermate aus dem August zeigt zudem: Auch auf Facebook und YouTube hat die AfD eindeutig die Nase vorn. Woran liegt das?

"Zwischen den Algorithmen der sozialen Medien und der AfD gibt es eine Affinität", sagt Johannes Hillje unserer Redaktion. Er ist selbstständiger Politik- und Kommunikationsberater. "Emotionalisierende, polarisierende, provozierende Botschaften werden mit mehr Sichtbarkeit belohnt." Für ihn ist die AfD "eine digitale Propagandapartei".

Da sie den etablierten Medien ablehnend gegenüberstehe, konzentriere sich die AfD besonders stark auf Social Media als ihr präferiertes Sprachrohr. "Es gehört zum populistischen Selbstverständnis, dass die digitale Parteikommunikation als Korrektiv zu den verhassten Qualitätsmedien präsentiert wird", sagt Hillje. Daher habe die AfD auch früh viele Ressourcen in ihren Auftritt in den sozialen Medien gesteckt und unterhalte eigene Studios zur Videoproduktion.

Insbesondere auf TikTok ist das Publikum, das die AfD ansprechen will, sehr jung. Eine Strategie, die möglicherweise erste Früchte trägt. Bei den Landtagswahlen in Hessen und Bayern im Oktober schnitt die in Teilen rechtsextreme Partei bei den 18- bis 24-Jährigen deutlich besser ab als bei Wählerinnen und Wählern über 60. Bei den Jungen wird die AfD zunehmend erfolgreicher.

Eine junge Grünen-Abgeordnete erklärt Politik auf Instagram

Emilia Fester, Spitzname "Milla", macht diese Entwicklung Sorgen. Die 25-Jährige ist eine der jüngsten Abgeordneten im Deutschen Bundestag und sie weiß, wie Social Media funktioniert. "Die sozialen Medien sind extrem wichtig für die Meinungsbildung junger Menschen", sagt die Grünen-Politikerin im Gespräch mit unserer Redaktion. Das Internet habe in dieser Zielgruppe längst andere Medien wie Fernsehen als bedeutendste Informationsquelle abgelöst.

Fester beobachtet, wie sich die AfD die Logik der sozialen Medien zunutze macht. "Sie stellt Inhalte unterkomplex dar und vereinfacht sie viel zu sehr", kritisiert die Politikerin. "Einem Fact-Checking hält das meiste davon nicht stand." Doch die Art ihrer Kommunikation funktioniere, sagt Fester. Gerade durch ihre Zuspitzungen sei die AfD im Netz so erfolgreich.

Die Abgeordnete, deren Schwerpunkt auf der Jugendpolitik liegt, setzt selbst auf die sozialen Medien als wichtigsten Draht zu ihrer Wählerschaft. Auf Instagram folgen ihr heute über 25.000 Nutzerinnen und Nutzer, mit denen sie regelmäßig Fotos und Videos aus ihrem Alltag im Bundestag teilt. In ihren Beiträgen erklärt sie zum Beispiel, was "Obpersonen" sind, welche Drogenpolitik die Regierung verfolgt oder wie ihre Arbeit in der Kinderkommission aussieht.

"Die Reichweite ist dabei kein Selbstzweck, sondern es geht um politische Bildung", sagt die Abgeordnete, die über die Hamburger Landesliste ihrer Partei in den Bundestag eingezogen ist. Ihr Ziel sei es, die Politik für junge Menschen nahbarer und menschlicher zu machen. Einfach und verständlich erklären will die Grünen-Abgeordnete dabei schon, vereinfachend wie die AfD aber nicht. "Das ist ein sehr wichtiger Unterschied."

Emilia Fester: Junge Menschen müssen ernster genommen werden

Die anderen Parteien, ihre eigene eingeschlossen, müsste junge Menschen als Zielgruppe endlich ernster nehmen, findet Fester. "Dafür ist es wichtig, sich zu trauen, anders zu kommunizieren." Das beinhalte, die Sprache, die auf Social Media üblich ist, zu verwenden sowie mehr junge Menschen in der Öffentlichkeitsarbeit zu beschäftigen, die eine "Übersetzungsleistung" erbringen können. "Es braucht mehr Gesichter, die die Interessen junger Menschen authentisch vertreten können."

Ein besonders präsentes Gesicht in den sozialen Netzwerken ist derzeit das von Alice Weidel. Laut der Intermate-Studie folgen der AfD-Bundesprecherin auf den wichtigsten Plattformen, "X" ausgenommen, über eine Millionen Menschen – deutlich mehr als den drei aktuell wichtigsten deutschen Politikern Olaf Scholz, Robert Habeck oder Christian Lindner. Übertroffen wird Weidel nur noch von der fraktionslosen Bundestagsabgeordneten Sahra Wagenknecht, die als linke Populistin gilt und vor allem auf YouTube ebenfalls auf stark polarisierende Inhalte setzt.

Johannes Hillje hat sowohl SPD als auch Grüne als Kommunikationsexperte beraten. "Die Parteien brauchen mehr Präsenz, Nahbarkeit und Emotionalität in sozialen Netzwerken", empfiehlt er. Dabei komme es vor allem "auf gute Botschaften und Erzählungen an".

Kommunikationsexperte Hillje: "Parteien überlassen TikTok der AfD"

Die größte Lücke sieht Hillje in der Nutzung von TikTok, das unter Jugendlichen mittlerweile das beliebteste soziale Netzwerk ist. Die AfD habe hier unter anderem deshalb einen Vorsprung, weil sie sich dort zuerst eingebracht hat. "Der sogenannte 'first mover' hat immer einen Wettbewerbsvorteil", so Hillje.

Neben der AfD ist es bisher nur die CSU, die auf TikTok mit fast 130.000 Followern eine relevante Reichweite erzielt. Der Parteivorsitzende Markus Söder schafft es vor allem mit seinen humorvollen Beiträgen mit dem Hastag #Söderisst über Döner, Bratwurst oder Leberkäsesemmel auch junge Nutzer zu begeistern. Die Kanzlerpartei SPD hat mit 85.000 Abonnentinnen und Abonnenten weniger als ein Viertel der AfD. CDU und Grüne veröffentlichen bisher sogar gar keine Inhalte auf der chinesischen Plattform, die wegen möglicher Sicherheitsrisiken immer wieder in der Kritik steht.

"Demokratische Parteien überlassen TikTok der AfD, das ist ein Fehler", findet Politikberater Hillje. Das sieht auch Emilia Fester so. Sie sagt: "Die Realität muss anerkannt werden: Junge Menschen sind immer stärker auf TikTok aktiv und können und sollten auch dort von uns erreicht werden." Politikerinnen und Politikern anderer Parteien engagierten sich noch viel zu wenig auf der Video-Plattform. Dabei können man ohne größeren Aufwand auch den Sicherheitsbedenken Rechnung tragen, glaubt Fester. Sie und ihr Team wollen es vormachen: Im nächsten Jahr wird die junge Abgeordnete einen Account bei TikTok einrichten.

Über die Gesprächspartner

  • Johannes Hillje (Jahrgang 1985) ist selbstständiger Politik- und Kommunikationsberater sowie Autor. 2022 erschien sein Buch "Das 'Wir' der AfD - Kommunikation und kollektive Identität im Rechtspopulismus". Hillje war Wahlkampfmanager der Grünen für die Europawahlen 2014. Vom Fachmagazin "politik&kommunikation" wurde er zu einem der "Deutschlands Young Thinker 2023" gekürt.
  • Emilia Fester (Jahrgang 1998) zog 2021 für die Grünen in den Bundestag ein. Sie war die jüngste Abgeordnete, bis 2022 die 22-jährige Emily Vontz (SPD) ins Parlament nachrückte. Fester ist Vorsitzende der Kinderkommission des Bundestages sowie Obfrau in den Ausschüssen für Familie sowie für Bürgerliches Engagement.

Verwendete Quellen

  • Schriftliche Anfrage an Johannes Hillje, Politik- und Kommunikationsexperte
  • Gespräch mit Emilia Fester, Bundestagsabgeordnete (Grüne)
  • Studie der Social-Media-Agentur Intermate
  • TikTok-Profil (Stand 21. Dezember 2023) von Maximilian Krah, AfD-Spitzenkandidat für die Europawahl
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