Die Chronologie der Breaking-News-Meldungen bei der Nachrichtenagentur AFP dokumentierte gestern Abend das ganze Dilemma rund um den Brexit. "Britisches Parlament stimmt gegen harten Brexit" lautete die erste Eilmeldung, mit der klar wurde, dass die Abgeordneten Nachverhandlungen mit der EU fordern. Doch nur 18 Minuten später verkündete die nächste Eilmeldung "EU lehnt Nachverhandlungen zum Brexit-Abkommen ab". Klar ist nach gestern also, dass vieles weiter unklar bleibt. Ein Überblick.

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Die britische Premierministerin Theresa May und das Unterhaus in London haben für ihre Forderungen nach Änderungen des Brexit-Vertrages eine Abfuhr erhalten.

Die Europäische Union lehnte nach dem Beschluss des Parlaments am Dienstagabend Nachverhandlungen postwendend ab, wie ein Sprecher von EU-Ratspräsident Donald Tusk in Brüssel mitteilte. Politiker von Union, SPD, Grünen und FDP teilten diese Ansicht.

Brexit: Nur Willensbekundung, rechtlich nicht bindend

Das britische Unterhaus hatte sich am Dienstagabend in einer Serie von Abstimmungen mit jeweils knapper Mehrheit nur auf zwei Positionen einigen können: Es soll keinen ungeregelten Austritt geben - was aber nicht mehr als eine Willensbekundung war.

317 Abgeordnete stimmten dafür, die sogenannte Backstop-Regelung für Nordirland in dem Vertrag zu ersetzen, 301 Parlamentarier wandten sich dagegen.

Premierministerin May solle demnach in Brüssel abermals über die von der EU verlangte Garantie einer offenen Grenze in Irland im Brexit-Deal verhandeln - mit dem Ziel, diesen sogenannten Backstop zu streichen und zu ersetzen.

Dafür hatte sich May am Dienstag eingesetzt, so dass sie das Ergebnis als Erfolg verbuchen konnte.

Auch erklärte sich der britische Oppositionschef Jeremy Corbyn bereit, nun doch mit May über die nächsten Schritte beim Brexit zu sprechen. Bislang hat der Alt-Linke, der auf Neuwahlen setzt, dies rundweg abgelehnt.

Der Backstop soll ausschließen, dass es an der Grenze zwischen dem britischen Nordirland und dem EU-Mitglied Irland Schlagbäume und Kontrollen gibt.

Irland-Frage für EU als Verhandlungsmasse zu sensibel

Die EU besteht darauf, weil eine Teilung der irischen Insel ein Wiederaufflammen der Gewalt in der ehemaligen Bürgerkriegsregion provozieren könnte.

Der Backstop sieht vor, dass Großbritannien so lange in der Zollunion mit der EU bleibt, bis eine andere Lösung gefunden ist, außerdem sollen in Nordirland weiter einige Binnenmarktregeln gelten. Kritiker fürchten, diese Klausel könne Großbritannien dauerhaft an die EU binden.

May hatte vor den Abstimmungen am Dienstag an das Unterhaus appelliert, ihr "das Mandat, das ich brauche, um mit Brüssel eine Vereinbarung auszuhandeln", zu geben.

Ex-Außenminister Boris Johnson, der aus Protest gegen Mays Brexit-Kurs sein Amt im vergangenen Sommer aufgegeben hatte, rief die EU auf, sich Nachverhandlungen nicht zu verweigern. "Ich hoffe, dass unsere Freunde in Brüssel zuhören und eine Veränderung vornehmen", sagte Johnson dem Nachrichtensender Sky News.

Die EU bekräftigte aber nur Minuten nach dem Londoner Votum am Dienstagabend ihre bisherige Haltung: Nachverhandlungen seien ausgeschlossen, insbesondere über die irische Frage.

EU spricht Klartext in Richtung London

EU-Ratschef Tusk erklärte über einen Sprecher: "Das Austrittsabkommen ist und bleibt der beste und der einzige Weg, einen geordneten Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union sicherzustellen. Der Backstop ist Teil des Austrittsabkommens, und das Austrittsabkommen ist nicht für Nachverhandlungen offen."

Das habe der EU-Gipfel im Dezember sehr klar beschlossen. Und diese Position sei jetzt noch einmal mit den 27 bleibenden Ländern abgestimmt worden, erklärte Tusks Sprecher.

Er hielt zudem den Druck auf die britische Regierung aufrecht und forderte diese auf, "ihre Absichten hinsichtlich der nächsten Schritte so bald wie möglich klarzustellen".

Die EU-Kommission wird am Mittwochmittag auf einer Pressekonferenz voraussichtlich auch zum Brexit Stellung nehmen. Später dürfte es in Brüssel bei der Plenardebatte des EU-Parlaments ebenso um die verfahrene Lage beim Brexit gehen.

Der irische Außenminister Simon Coveney bekräftigte die Haltung der EU27. Der Backstop sei vereinbart worden als "Versicherungspolice, um einen harten Brexit (auf der irischen Insel) in all seinen Szenarien zu vermeiden", twitterte Coveney.

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hatte am Dienstagabend nach einem Treffen der EU-Südstaaten in der zyprischen Hauptstadt Nikosia Nachverhandlungen zum Brexit-Deal eine Absage erteilt.

"Es ist die beste mögliche Abmachung (mit der EU). Darüber kann nicht mehr verhandelt werden", sagte Macron.

Brexit-Verschiebung für EU denkbar - (noch) nicht für London

Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz betonte über Twitter: "Es ist ein guter und ausgewogener Deal. Daher wird es auch keine neuen Verhandlungen über das Austrittsabkommen geben." Möglich seien aber Gespräche über eine "Verschiebung des Austritts um ein paar Monate, wenn es eine klare Strategie seitens Großbritanniens gibt."

Eine Verschiebung des Brexit-Datums 29. März könnte ein vorläufiger Ausweg sein, um einen ungeordneten Brexit mit dramatischen Folgen für die Wirtschaft, Millionen Bürger und Irland zu verhindern. Die EU zeigte sich dafür ausdrücklich offen.

"Sollte es einen begründeten Antrag für eine Verlängerung geben, wären die EU27 bereit, ihn in Erwägung zu ziehen und darüber einstimmig zu entscheiden", erklärte Tusk über seinen Sprecher.

Allerdings waren zuvor im Unterhaus in London gleich zwei Anträge gescheitert, die die Regierung zu einer Verschiebung des Brexits drängen oder zwingen wollten.

Der Fraktionsvorsitzende der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament, Udo Bullmann, betonte: "Das Brexit-Abkommen kann nicht wieder aufgeschnürt werden."

Die Vizechefin der Unionsfraktion im Bundestag, Katja Leikert (CDU), erklärte, die Forderungen aus London führten "in die Sackgasse". Die Grünen-Europaexpertin im Bundestag, Franziska Brantner, nannte die britischen Forderungen "realitätsfern".

Der FDP-Europapolitiker Alexander Graf Lambsdorff sagte den Zeitungen der Funke-Mediengruppe (Mittwoch), May und das britische Parlament befänden sich "auf dem Holzweg".

"Die Bundesregierung muss Deutschland jetzt endlich so umfassend auf den harten Brexit vorbereiten wie Frankreich das schon lange tut", mahnte der stellvertretende Vorsitzende der FDP-Bundestagsfraktion. (dpa/AFP/mwo)

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