Seit bald drei Jahren verhandeln Großbritannien und die EU über den Brexit. Aus einer smarten Abkürzung ist für viele Bürger und Beobachter ein Unwort geworden. Selbst die Kanzlerin kann das Thema nicht mehr hören, muss aber in Brüssel zum x-ten Male darüber reden.
Es sind noch genau 59 Stunden bis zum Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union, als Bundeskanzlerin Angela Merkel am Mittwochmittag um 13:00 Uhr an das Rednerpult des Bundestags tritt.
Zu diesem Zeitpunkt ist das jedenfalls noch die geltende Beschlusslage. Längst ist aber so gut wie sicher, dass es dabei nicht bleiben wird, dass das Drama namens Brexit in die zweite Verlängerung geht. Die Frage ist da nur noch: Wie lange? Zwölf Wochen? Knapp neun Monate? Oder fast ein ganzes Jahr?
Merkel möchte ein bisschen Ruhe vor dem Brexit haben
"Ich glaube, dass die Verlängerung so kurz wie möglich sein sollte", sagt
Aus diesem Satz spricht eine gewisse Genervtheit der Kanzlerin, die wohl inzwischen fast jeder teilt, der den Kampf um den Brexit mit seinen teilweise grotesken Zügen verfolgt oder sogar daran beteiligt ist.
Genau genommen ist es drei Wochen her, seitdem die 27 Staats- und Regierungschefs der anderen EU-Staaten Großbritannien einen ersten Aufschub bis zum 12. April gewährt haben.
Es folgten die dritte Ablehnung des von Premierministerin
Noch immer fehlt der Brexit-Plan
Was es bisher aber immer noch nicht gibt, ist der von der EU schon beim letzten Gipfel eingeforderte Plan, wie es weitergehen soll. Die EU hatte das zur Bedingung für einen Aufschub gemacht. Schon vor dem Gipfel sah es aber so aus, als würde es nun auch erst einmal ohne konkreten Plan weitergehen.
Für die EU ist das eine Hochrisiko-Aktion - besonders mit Blick auf die Europawahl Ende Mai.
Niemand weiß, wie sich die scheinbar endlose Hängepartie um den britischen EU-Austritt auf den Wahlkampf auswirken wird - wie es bei den Wählern ankommt, dass Merkel & Co enorme Energie in den Brexit investieren, es ihnen aber gleichzeitig nicht gelingt, sich auf Dinge wie eine faire Flüchtlingsverteilung in Europa zu einigen. Wird das den Populisten in die Hände spielen?
Großbritannien wird an der Wahl teilnehmen müssen, wenn bis dahin das Austrittsabkommen für einen geregelten EU-Austritt nicht doch noch ratifiziert wird.
Wie sich Großbritanniens Teilnahme auf die Europawahl auswirken würde
73 Sitze stünden dem Vereinigten Königreich dann zu und damit könnten britische Abgeordnete zum Zünglein an der Waage werden, wenn es nach der Wahl darum geht, wer die größte Parteienfamilie wird.
In einem Horrorszenario für die konservative Europäische Volkspartei (EVP), zu der auch CDU und CSU gehören, könnte die britische Labour-Partei bei der Wahl starke Gewinne verbuchen und damit dafür sorgen, dass die sozialdemokratische Fraktion die stärkste im neuen Parlament wird.
Der deutsche CSU-Politiker Manfred Weber müsste dann wohl seinen Traum begraben, im Herbst Nachfolger von Jean-Claude Juncker als EU-Kommissionspräsident zu werden - stattdessen könnte der Niederländer Frans Timmermans zum Zuge kommen.
Zudem gibt es die große Befürchtung, dass auch die EU-feindlichen oder EU-skeptischen britischen Parteien etliche Abgeordnete ins Parlament entsenden würden. Zusammen mit Gleichgesinnten aus anderen EU-Staaten könnten sie dann Zerstörung von innen betreiben.
Damit zumindest die britische Regierung nicht auf die Idee kommt, Entscheidungen im Ministerrat zu torpedieren, soll sie sich vor einem Aufschub dazu verpflichten, bis zum EU-Austritt nicht mehr aktiv in EU-Entscheidungen einzugreifen. Relevant könnte dies zum Beispiel bei den Verhandlungen über den künftigen EU-Finanzrahmen sein.
Briten dürften Ziele der EU nicht torpedieren
Großbritannien müsse bis zum endgültigen Austritt "konstruktiv" und "verantwortungsvoll" handeln und alles unterlassen, was das Erreichen der von der EU gesteckten Ziele in Gefahr bringe, hieß es im Entwurf für die Gipfelschlussfolgerungen.
Im Hintergrund mussten Diplomaten allerdings am Mittwoch einräumen, dass die Nichteinhaltung einer solchen Selbstverpflichtung wohl kaum Konsequenzen haben dürfte.
Wer die Frage stellt, warum die EU all diese Risiken in Kauf nimmt, bekommt vor allem die Antwort zu hören, dass ein Brexit ohne Austrittsabkommen trotz der bereitliegenden Notfallpläne unkalkulierbare Risiken berge - vor allem für die Wirtschaft.
Insgeheim hoffen aber einige Staats- und Regierungschefs auch, dass die Briten das Projekt EU-Austritt doch noch abblasen könnten.
Viele Nicht-Briten wünschen sich ein zweites Referendum
Hinter vorgehaltener Hand wird in Brüssel argumentiert, dass die Mehrheit der jungen Menschen im Vereinigten Königreich beim Referendum im Jahr 2016 gegen den Brexit gewesen sei und dass allein durch die Alterung die Zahl der Brexit-Befürworter monatlich abnehme. Verantwortungsbewusste und zukunftsorientierte Politiker könnten das zum Anlass nehmen, ein zweites Referendum zu organisieren.
Auch aus strategischem Eigeninteresse der EU ist eine Brexit-Absage interessant: Denn noch immer gilt, dass die EU mit Großbritannien auch politisches Gewicht und Einfluss verlieren würde.
Großbritannien ist zusammen mit Frankreich einer von zwei EU-Staaten mit Atomwaffen und ständigem Sitz im UN-Sicherheitsrat. Zudem beherbergt das Vereinigte Königreich mit London die Finanzhauptstadt der Welt, es ist in der EU zweitgrößte Volkswirtschaft und das Land mit der drittgrößten Bevölkerung.
Birgt damit die Teilnahme der Briten an der Europawahl vielleicht sogar ungeahnte Möglichkeiten? Der Grünen-Abgeordnete Sven Giegold ist davon überzeugt. "Die Europawahlen werden dann faktisch zu einer Abstimmung über den Brexit", kommentierte er zum EU-Gipfel. "Darin liegt eine große Chance für Europa."
Aber wie sieht es eigentlich mit den Zukunftsplänen für die Union aus, über die die Staats- und Regierungschefs bei einem informellen Gipfel in Rumänien am 9. Mai beraten wollen? Blockiert die Fortsetzung der Brexit-Hängepartie Reformen der Union?
Oettinger: "Europa wird zum Freilichtmuseum"
Der deutsche EU-Kommissar Günther Oettinger warnt bereits, Europa drohe zum "Freilichtmuseum für die Welt" zu werden, wenn es sich nicht auf Herausforderungen wie den Erhalt der Innovationsfähigkeit oder das Machstreben Chinas konzentriere.
Derzeit sei die Entscheidungsgeschwindigkeit der EU nicht groß genug, um im "Kampf der Systeme" bestehen zu können. (dpa/hau)
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