- Reem Alabali-Radovan hat als Integrationsbeauftragte viel Arbeit vor sich.
- Im Exklusiv-Interview mit unserer Redaktion erklärt sie, wie die Integration von Flüchtlingen in Deutschland besser gelingen kann.
- Mit der Abschaffung von Beschäftigungsverboten sollen mehr Geflüchtete arbeiten können.
Frau Alabali-Radovan, die Zahl der Asylbewerber in Deutschland steigt wieder, auch ohne Ukraine-Flüchtlinge. Woran liegt das?
Reem Alabali-Radovan: An den Krisen und Kriegen in der Welt, und weil einige Menschen, die sich länger in der Balkanregion aufgehalten haben, sich jetzt auf den Weg nach Westeuropa machen. Das sehen wir anhand der Grenzüberschritte, etwa an der österreichischen oder tschechischen Grenze.
CDU und CSU warnen vor einer Einwanderung in die Sozialsysteme. Welche Sozialleistungen erhalten denn Asylbewerber?
Nach dem Asylbewerberleistungsgesetz erhalten sie Geld- oder Sachleistungen, je nachdem, ob sie noch in einer Aufnahmeeinrichtung oder schon in einer Anschlussunterbringung wohnen. Der Leistungsumfang ist gegenüber dem Bürgergeld eingeschränkt, auch bei den Gesundheitsleistungen. Der Staat übernimmt außerdem die Kosten für die Unterkunft.
Welchen Status muss ein Asylbewerber erreichen, um Anspruch auf das Bürgergeld, also das ehemalige Hartz IV, zu haben?
Wenn der Flüchtlingsstatus, subsidiärer Schutz oder Abschiebungsverbote anerkannt sind, haben die Menschen Anspruch auf das Bürgergeld. Die meisten aber wollen arbeiten und sich in die Gesellschaft einbringen. Für geduldete Personen – also Menschen, deren Asylantrag abgelehnt, aber deren Ausreisepflicht ausgesetzt ist – gilt mitunter ein Beschäftigungsverbot. Das wollen wir im nächsten Migrationspaket abschaffen, damit alle in Arbeit kommen können.
Fast die Hälfte der Asylanträge kommen immer noch von Menschen aus Afghanistan und Syrien. Sie fliehen dort vor Hunger, Bürgerkrieg und Unterdrückung. Trotzdem gab es 2022 nur bei 17,9 Prozent der behördlichen Asylentscheide die "Rechtsstellung als Flüchtling". Warum?
Weil 70 Prozent der syrischen Antragstellenden 2022 als subsidiär Schutzberechtigte anerkannt wurden. Zudem werden viele Menschen schon in einem anderen EU-Staat registriert, haben dort einen Antrag gestellt, etwa in Griechenland oder Italien. Dann ist dort in der Regel das Asylverfahren durchzuführen oder schon abgeschlossen. Wird in Deutschland ein weiterer Antrag gestellt, kann und wird dieser oft aus formalen Gründen abgelehnt.
Warum gibt es überhaupt die Unterscheidung zwischen den Kategorien "Anerkannter Flüchtling", "Subsidiär schutzberechtigt" und "Abschiebungsverbot"? Das sind ja alles Fälle, in denen die Geflüchteten erstmal bleiben dürfen.
Das ist richtig – es gibt verschiedene Schutzformen, weil die Bedrohungen weltweit unterschiedlich sein können. Bei subsidiär Schutzberechtigten geht das für Asylverfahren zuständige Bundesamt für Migration und Flüchtlinge davon aus, dass der Person im Heimatland ernsthafter Schaden droht, Folter oder Tod in einem innerstaatlichen Konflikt – etwa bei vielen Geflüchteten aus Syrien. Beim Flüchtlingsschutz wird hingegen eine individuell drohende Verfolgung in der Heimat anerkannt, zum Beispiel wegen politischer Überzeugungen. In der Praxis haben diese Personen mehr Rechte als subsidiär Schutzberechtigte, etwa beim Familiennachzug. Aber laut Urteil des Europäischen Gerichtshofs dürfen auch subsidiär Schutzberechtigte ihre Familien nachholen, und das wollen wir in der Koalition angehen.
Es gibt auch Fälle, in denen der Asylantrag abgelehnt wird, bei denen aber ein "Abschiebungsverbot" festgestellt wird. Was bedeutet das?
Das gab es in den letzten Jahren vor allem für Asylsuchende aus Afghanistan oder dem Irak. Es gibt Abschiebungsverbote, weil die Sicherheitslage es vor Ort nicht zulässt oder eine lebenswichtige, gesundheitliche Behandlung dort nicht möglich ist.
Warum wird in diesen Fällen der Asylantrag dann nicht einfach angenommen?
Jeder Asylantrag wird einzeln, individuell geprüft. Wenn die rechtlichen Voraussetzungen für Flüchtlingsschutz oder subsidiären Schutz nicht erfüllt sind, kommt es in den beschriebenen Fällen auch dazu, dass die Menschen in Kettenduldungen feststecken, also immer nur eine befristete Duldung nach der anderen bekommen, weil eine Ausreise nicht möglich ist. Dieses Problem will die Bundesregierung lösen, auch dafür haben wir ein Chancen-Aufenthaltsrecht geschaffen. Damit können langjährig Geduldete die Voraussetzungen für einen Aufenthaltstitel erlangen. Mit dem Gesetz haben wir auch Zugang zu den Integrationskursen zum Deutschlernen für alle geschaffen, unabhängig vom Aufenthaltsstatus. Zudem wollen wir Beschäftigungsverbote für Menschen mit Duldung abschaffen.
Sie haben selbst mal in einer Erstaufnahmeeinrichtung gearbeitet. Verstehen die Geflüchteten das komplizierte Asylrecht überhaupt – und was mit ihnen geschieht?
Das Aufenthaltsrecht ist hochkomplex. Aus meiner Erfahrung tun sich die Betroffenen oft schwer, da durchzublicken. Darum haben wir jetzt eine unabhängige Asylverfahrensberatung per Gesetz geschaffen und wollen die Duldungstatbestände überarbeiten, verständlicher ordnen.
Können Geflüchtete auch einen Beitrag gegen den Arbeitskräftemangel leisten?
Das Asylrecht ist ein Menschenrecht. Erwerbsmigration und Flucht müssen wir trennen. Wichtig ist aber, dass Geflüchtete, die eine gewisse Zeit hier sind, auch eine Arbeit finden können. Gegen den Arbeitskräftemangel müssen wir erst einmal das inländische Potenzial heben. Alle Jugendlichen sollen eine Berufsbildung finden, einen Job. Aber ja, auch Menschen mit Fluchtgeschichte sollen das schaffen.
Wie genau soll das gelingen?
Vor allem mit Integration von Anfang an: Integrationskurse für alle, ab Tag eins; keine Beschäftigungsverbote; ausländische Studien- und Berufsabschlüsse besser und schneller anerkennen; und auch mit dem neuen Bürgergeld konsequent die Weiterbildung stärken.
Durch den Krieg kommen viele Menschen aus der Ukraine nach Deutschland. Stimmt der Eindruck, dass sie im Vergleich zu anderen Geflüchteten eine Art "Sonderstatus" haben?
Das Mysterium vom Sonderstatus würde ich gerne aufbrechen, erklären: Menschen aus der Ukraine müssen kein Asylverfahren durchlaufen, sie haben sofort ähnliche Rechte wie anerkannte Flüchtlinge. Weil die EU nach Russlands Angriffskrieg mit der sogenannten Massenzustrom-Richtlinie sehr schnell ermöglicht hat, dass wir in Deutschland § 24 im Aufenthaltsgesetz für Geflüchtete aus der Ukraine aktivieren konnten.
Einen Aufenthaltstitel erhalten sie aber deutlich schneller.
Sie bekommen einen Aufenthaltstitel, unmittelbar nach Registrierung. Damit bekommen sie auch Zugang zum Arbeitsmarkt und zum Bürgergeld.
Ist diese Andersbehandlung nicht auch eine Art von strukturellem Rassismus, den Sie in Ihrem Rassismusbericht anprangern?
Nein, denn ukrainische Geflüchtete konnten wir nach der europäischen Richtlinie gut aufnehmen, und im Februar, März 2022 kamen Millionen Frauen und Kinder in wenigen Wochen in die EU. 2015 hatte die EU diese Richtlinie für Geflüchtete nicht aktiviert. Klar ist aber: Wir wollen die Situation für alle Geflüchteten verbessern, das haben wir im Koalitionsvertrag auch vor dem Krieg in der Ukraine vereinbart, das setzen wir Schritt für Schritt um.
Was sind für Sie dann Fälle von strukturellem Rassismus?
Da geht es um Rassismus, der in verschiedenen Strukturen eingelassen sein kann, auch über Jahrzehnte gewachsen, manchmal unbewusst reproduziert. Etwa am Wohnungsmarkt, bei der Jobsuche, im Gesundheitssektor oder in Behörden. Zum Beispiel wenn sich zwei Menschen für einen Job bewerben, mit der gleichen Qualifikation, aber eine gelesene familiäre Einwanderungsgeschichte entscheidet, dass man nicht genommen wird. Das ist vielfach belegt, das darf nicht sein, das müssen wir benennen, damit wir es künftig besser machen.
Hat auch die Polizei ein Problem mit strukturellem Rassismus?
Es darf keinen Generalverdacht gegen Polizistinnen und Polizisten geben. Sie sorgen für unsere Sicherheit, sie verdienen Respekt und Anerkennung. Aber es gibt auch in den Polizeien von Bund und Ländern einige, die mit dem Thema auf mich zugekommen sind, und es gibt die Berichte von Polizeikontrollen, die so nicht ablaufen dürfen. Darum habe ich am 26. Januar alle an einen Tisch ins Bundeskanzleramt eingeladen: Vertretungen der Polizei, der Polizeigewerkschaften, Zivilgesellschaft und Wissenschaft. Denn wir wollen gemeinsam die Prävention von Rassismus stärken.
Der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz hat Jungen aus arabischstämmigen Familien jüngst als "kleine Paschas" bezeichnet. Empfinden Sie das als rassistisch?
Mit solchen Äußerungen werden Ressentiments bedient, ganze Bevölkerungsgruppen stigmatisiert. Das ist kein guter Ton für diese Debatte, das spaltet.
Also finden Sie die Äußerung rassistisch?
Sie bedient rassistische Ressentiments. Über Jugendgewalt müssen wir sprechen, und die Angriffe auf Rettungskräfte an Silvester waren abscheulich. Aber wir müssen die Täter nach ihren Taten beurteilen, nicht nach Vornamen oder familiärer Einwanderungsgeschichte.
CDU und CSU haben Integration und Einwanderung als Thema entdeckt, mit dem sie die Regierung angreifen können. Beeinflusst das Ihre Politik?
Die Union war 16 Jahre lang mit dem Bundesinnenministerium auch für Integrationspolitik zuständig. Unsere Koalition will Deutschland als modernes Einwanderungsland bestmöglich aufstellen, ein Land mit mehr Respekt und Fortschritt, in dem alle gute Chancen haben und nutzen.
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