Vor mehr als 100 Jahren gingen deutsche Truppen im heutigen Namibia brutal gegen die Volksgruppen der Nama und Herero vor. Der Völkermord beschäftigt die deutsche und namibische Regierung noch immer. Unsere Redaktion hat mit verschiedenen Experten über die Hintergründe und den Stand der Dinge gesprochen.
Sie haken, noch immer: Die Verhandlungen zwischen Berlin und Windhoek zur Wiedergutmachung des Völkermords während der deutschen Kolonialherrschaft im heutigen Namibia. Dabei sollten sie eigentlich längst abgeschlossen sein.
Doch die Entschädigungsfrage bleibt weiterhin ungeklärt. Wie viel muss Deutschland für das, was unter Generalleutnant Lothar von Trotha zwischen 1904 und 1908 passierte, zahlen, was gehört zur Wiedergutmachung dazu?
Gerade, als die Verhandlungen angeblich kurz vor Abschluss standen, ließ Namibias Präsident Hage Geingob öffentlich verlauten, Deutschland hätte ein Entschädigungsangebot über zehn Millionen Euro gemacht – eine "Beleidigung für Namibia", die er ablehne. Deutschland jedoch will dieses Angebot so nie gemacht haben.
"Woher die von der namibischen Regierung ins Spiel gebrachte Zahl von zehn Millionen Euro kommt, weiß ich nicht", sagt auch der Sonderbeauftragte Ruprecht Polenz (CDU), der seit 2015 im Auftrag der deutschen Regierung mit der namibischen Seite unter Zedekia Ngavirue verhandelt, gegenüber unserer Redaktion. Sie sei in den Verhandlungen "so nie ein Gegenstand gewesen".
Aber der Reihe nach.
Was ist damals in Namibia passiert und welche Rolle spielte Deutschland?
Deutschland war von 1884 bis 1915 Kolonialmacht in "Deutsch-Südwestafrika", dem heutigen Namibia. Zwischen 1904 und 1908 wurden unter Generalleutnant von Trotha, mit Unterstützung von Kaiser Wilhelm II. große Teile der ethnischen Volksgruppen der Nama und Herero getötet. Auslöser war ein im Januar 1904 beginnender Aufstand der einheimischen Herero, bei dem sie deutsche Farmen und Einrichtungen angriffen. Deutsche Siedler hatten zuvor immer mehr Land beansprucht, was für die Herero einen existenzbedrohenden Verlust von Weidegebieten bedeutete.
Von Trotha ließ den Aufstand im August 1904 mit der "Schlacht am Waterberg" brutal niederschlagen. Der Großteil der Herero floh in die Omaheke-Wüste, welche von Trotha mit einem "Vernichtungsbefehl" abriegeln ließ und dafür sorgte, dass die Flüchtlinge von den wenigen Wasserstellen verjagt wurden und verdursteten.
Die Nama begannen kurz darauf einen Guerillakrieg, fügten sich aber später deutschen Unterwerfungsverträgen und wurden zu großen Teilen in Konzentrationslagern interniert. Schätzungen zufolge sollen so etwa 65.000 der 80.000 Herero und 10.000 der 20.000 Nama getötet worden sein.
Deutschland schränkt Anerkennung des Völkermords ein
Dass es sich bei den Ereignissen um einen Völkermord – den ersten des 20. Jahrhunderts – handelt, ist inzwischen auch von deutscher Seite anerkannt worden. 2015 bezeichnete das Auswärtige Amt die Geschehnisse offiziell erstmals als Genozid.
Zwar hatte sich die damalige deutsche Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD) bereits anlässlich des 100. Jahrestages der Schlacht am Waterberg vor Ort zur politischen und moralischen Schuld der Deutschen bekannt, noch 2012 hatte die deutsche Bundesregierung aber eine Verantwortung für den Völkermord von sich gewiesen und zur Bewertung lange keine Stellung bezogen.
Ihre Anerkennung des Völkermords schränkt die Bundesregierung jedoch auch heute noch ein: "Die UN-Völkermordkonvention ist nicht rückwirkend anwendbar", betonte sie noch 2016. Sie könne in der Debatte für eine Einschätzung des historischen Ereignisses als Maßstab dienen, nicht aber für eine rechtliche Beurteilung. "Die Bundesregierung ist der Auffassung, dass sich aus dieser historisch-politischen Verwendung des Begriffes 'Völkermord' keine Rechtsfolgen ergeben", hieß es deshalb weiter.
Wegen welcher Begriffe gibt es noch Streit?
Das ist laut Jurist Matthias Goldmann, der Internationales Öffentliches Recht an der Goethe-Universität Frankfurt lehrt, auch der Grund, warum Deutschland nicht von "Reparationen" sprechen will. Er sagt im Gespräch mit unserer Redaktion: "Deutschland möchte den Begriff der Reparationen vermeiden, weil es sich nicht rechtlich zur Zahlung von Entschädigungen verpflichtet sieht."
Im Nachgang des Zweiten Weltkriegs seien Zahlungen aus moralischen Gründen immer als Wiedergutmachung bezeichnet worden. Gleichzeitig betont Goldmann: "Deutschland darf nicht vergessen, dass der Begriff der Reparationen im globalen Süden heute in einem untechnischen Sinn für Entschädigungen wegen kolonialen Unrechts verwendet wird." Deutschland solle die Uneindeutigkeit des Begriffs anerkennen und eine abweichende Lesart als Möglichkeit in Betracht ziehen.
Denn die Herero und Nama wollen den Begriff verwenden: "Deutschland kann nicht für uns entscheiden, wie wir das wahrnehmen, was mit unseren Vorfahren geschehen ist und wie es wiedergutgemacht werden kann", betont Ida Hoffmann. Die namibische Parlamentsabgeordnete ist Vorsitzende des Nama-Komitees zur Genozid-Aufarbeitung. Sie stellt klar: "Für uns bezeichnen Reparationen den Akt des Bezahlens für Schäden durch Völkermord. Durch Reparationen werden die negativen Folgen wiedergutgemacht, unter denen Generationen von Opfer-Nachfahren gelitten haben und leiden."
Warum kommen die Verhandlungen nicht voran?
Dass die Verhandlungen stocken, liegt aber nicht nur an der Uneinigkeit über Begrifflichkeiten. "Die zentralen Fragen sind immer die gleichen geblieben: Es geht einerseits um die Anerkennung des Völkermords und eine angemessene Entschuldigung dafür durch den Souverän sowie andererseits die Frage der Wiedergutmachung", kommentiert Entwicklungssoziologe Reinhart Kößler, der die Verhandlungen seit Beginn beobachtet. Zwar sei es für ihn undurchsichtig, warum der namibische Präsident eine Zahl von zehn Millionen Euro in den Raum gestellt hat, aber: "Wenn es tatsächlich ein Angebot in dieser Höhe gäbe, wäre es in jedem Fall inakzeptabel", betont Kößler.
Zur Einordnung: Eine 2017 eingereichte Klage in New York ist nicht die erste vor einem US-Gericht. Bereits Anfang der 2000er klagten Opfer-Vertreter auf Entschädigung. "Es wurden zwei Milliarden US-Dollar gefordert, ein von der Regierung in Windhoek beauftragtes Rechtsanwaltsteam hatte 2017 sogar Ansprüche in Höhe von 30 Milliarden US-Dollar (28 Milliarden Euro) berechnet", ergänzt Kößler. Dabei gehe es den Opfergruppen gar nicht vorrangig um einen zahlenmäßig festgemachten Anspruch, aber sie spiegelten unvermeidlich eine Symbolik wider.
So sagt auch Hoffmann: "Deutschland wird grundsätzlich nie in der Lage sein, das, was es vor etwa einem Jahrhundert getan hat, angemessen zu kompensieren." Die Höhe finanzieller Entschädigungen müsse Resultat umfassender Verhandlungen sein, in denen Deutschland die enormen sozi-ökonomischen Auswirkungen durch den Völkermord vor fast 100 Jahren, die die Nachfahren noch heute spüren, versteht.
Interner Streit in Namibia
Weiterer Knackpunkt in den Verhandlungen: Der Legitimationsdruck, unter dem die namibische Regierung nach Innen steht. Denn große Teile der Opfergruppen akzeptieren die Verhandlungen in der aktuellen Form nicht. Weil beispielsweise der Herero-Häuptling Vekuii Rukoro nicht mit am Verhandlungstisch sitzt, wollen manche die Verhandlungsergebnisse von vornherein nicht akzeptieren.
"In Namibia ist es Opfervertretern und Regierung nicht gelungen, sich auf Verhandlungsmodalitäten und Positionen zu einigen", gibt Hoffmann zu. Die laufenden Verhandlungen würden substanzielle Teile authentischer Vertreter von Herero und Nama ausschließen. "Für uns haben die eigentlichen Verhandlungen deshalb überhaupt noch nicht begonnen", sagt sie. Dazu müssten "echte Repräsentanten der Opfer-Nachfahren" beteiligt werden, einschließlich Vertretern aus der Diaspora, "die nicht von der namibischen Regierung repräsentiert werden können und wollen", so Hoffmann.
Sonderbeauftragter Polenz meint: "Namibia muss sich selbst um eigene Fragen kümmern: Insbesondere die Menschen, für die die namibische Regierung verhandelt, müssen für die beabsichtigte Vereinbarung gewonnen werden. "
An welchem Punkt stehen die Verhandlungen heute?
"Im Augenblick prüfen beide Regierungen einen Vorschlag, der sich aus den Verhandlungen ergeben hat. Er beinhaltet den gemeinsamen Text, mit dem die damaligen Verbrechen beschrieben werden. Dieser Text soll die Grundlage dafür bilden, genau zu bezeichnen, wofür Deutschland um Entschuldigung bittet", informiert Polenz, ehemaliger Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses. Berechtigterweise mache Namibia die Ernsthaftigkeit der deutschen Bitte um Entschuldigung auch daran fest, was der Bitte um Entschuldigung folgen soll.
Polenz dazu: "Der Vorschlag beinhaltet eine Reihe an möglichen Projekten: Zusätzlich und unabhängig zur bisher erfolgten Entwicklungshilfe, die im Vergleich zu anderen Ländern bereits eine sehr intensive ist, will Deutschland sich vor allem in den damaligen Gebieten der betroffenen Communities von Herero und Nama substantiell und langfristig engagieren." Diese Projekte beinhalteten Maßnahmen zur beruflichen Bildung, Infrastruktur, zu preiswertem Wohnraum, Gesundheitsversorgung, Elektrizitätsversorgung mit erneuerbaren Energien und einer Mitwirkung an Projekten der Landreform.
"Wir spielen nicht auf Zeit"
"Außerdem hat Deutschland Vorschläge gemacht, wie wir zu einer gemeinsamen Erinnerungskultur kommen können: Die Verhandlungen sind nicht als Schlussstrich-Verhandlungen gedacht, sondern als Basis darauf aufbauender gesellschaftlicher Versöhnungsprozesse", betont der CDU-Politiker. Anstoß dazu solle eine deutsch-namibische Stiftung geben, die sich um Jugendaustausch, Schulbuchprojekte, Forschungsthemen und Gedenken im öffentlichen Raum kümmert.
"Je nach dem, wie sich die nambische Regierung zu dem vorgeschlagenen Gesamtpaket äußert, erfolgen dann die nächsten Schritte", erläutert Polenz das weitere Verfahren. Er hofft, dass die Verhandlungen "möglichst bald" abgeschlossen werden, damit der jetzige Bundestag sich noch mit den Ergebnissen beschäftigen kann. Polenz sagt aber auch: "Wir haben immer die Position eingenommen, dass wir nicht auf Zeit spielen: Zwar hätten wir lieber gestern als heute um Entschuldigung gebeten, aber man muss der namibischen Seite die Zeit lassen, die sie braucht."
Welche Rolle spielt die Klage in New York?
Der politische Druck hat sich jedoch erhöht: Anfang 2017 reichten Opfer-Vertreter bei einem Gericht in New York eine Sammelklage gegen die Bundesregierung ein, um direkte Verhandlungen und Entschädigungszahlungen zu erzwingen. Die Kläger führten dabei an, dass Deutschland mit Geldern aus Landraub vier Immobilien in New York finanziert hat: Heute Sitz der deutschen UN-Vertretung und des Generalkonsulates. Das Gericht wies die Klage im März 2019 ab, die Kläger legten jedoch Berufung ein.
Zwar ist die Klage kein direkter Verhandlungsgegenstand zwischen Berlin und Windhoek, Bedeutung hat sie trotzdem: "Die Klage spielt dahingehend eine Rolle, dass sie erfolgreich öffentliche Aufmerksamkeit erzeugt hat. Sie macht deutlich, dass es nicht um Verhandlungen über unpersönliche, gesichtslose Schicksale geht und wirft ein Licht darauf, dass in Namibia die Marginalisierung der Herero und Nama fortbesteht", sagt Jurist Goldmann.
"Außenpolitisches Problem loswerden"
Auch Hoffmann betont erneut: "Die Verhandlungen verletzen opfer-zentrierte Prinzipien von wiederherstellender Gerechtigkeit. Wir brauchen einen Trialog zwischen deutscher und namibischer Regierung und legitimen Opfervertretern." Man beabsichtige einen von Verständnis und Inklusion geprägten Prozess, der nicht nur die klinischen Aspekte von Anerkennung, Entschuldigung und Reparationen behandele.
Goldmann appelliert dabei an Deutschland, denn ihm scheint: "Deutschland möchte schnell ein außenpolitisches Problem loswerden, Namibia hingegen wünscht sich vielmehr eine Repositionierung des deutsch-namibischen Verhältnisses.“ Deutschland müsse sich deshalb bewegen und glaubhaft zeigen, dass es nicht nur mit einer Minimalstrategie durchkommen will.
Verwendete Quellen:
- Gespräche mit Ruprecht Polenz, Dr. Matthias Goldmann, Ida Hoffmann und Prof. Dr. Reinhart Kößler.
- Deutsche Botschaft Windhoek, Antwort der Bundesregierung auf eine "Kleine Parlamentarische Anfrage" der Fraktion "Die Linke" vom 6. Juli 2016.
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