• Aktuelle Studien belegen eine Corona-bedingte Gewichtszunahme bei Erwachsenen und Schulkindern.
  • Experten nennen mögliche Gründe für die Gewichtszunahme in Pandemie-Zeiten und erkennen einen Zusammenhang zwischen fehlenden Sozialkontakten und einem häufigeren Konsum von Snacks.
  • Eine Sucht-Therapeutin klärt auf, wie und warum durch Corona die Essstörungen gefördert werden und warum viele Kliniken aktuell mehr magersüchtige Patienten behandeln.

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Seit wegen der Pandemie häufiger im Homeoffice gearbeitet wird und auch die Kinder und Jugendlichen daheim sind, stellt sich für viele jeden Tag die Frage: Was gibt es heute zu essen? Studien zeigen, dass im Homeoffice häufiger selbst gekocht wird – und sie zeigen auch, dass mehr Menschen an Gewicht zugelegt haben.

Gleichzeitig zeigen Studien, dass nur ein Prozent aller Befragten eine Gewichtsabnahme angegeben hat. Kliniken melden jedoch eine gestiegene Zahl an magersüchtigen Patienten seit der Corona-Pandemie. Wie passt das alles zusammen?

Bereits nach dem ersten Lockdown hatte die von Mai bis Juni 2020 bundesweit durchgeführte COPSY-Studie (COPSY: "Corona und Psyche") ergeben, dass sich Familien seit Beginn der Corona-Pandemie schlechter ernähren und an Gewicht zulegen. Jeder Zweite soll damals innerhalb von vier Wochen ein bis drei Kilo, jeder Fünfte sogar drei bis fünf Kilo zugelegt haben, lautete das Ergebnis einer anderen, nicht repräsentativen Studie von nu3, einem Hersteller von Sport- und Nahrungsergänzungsmitteln.

Bei rund einem Viertel der Befragten: Gewichtszunahme seit Corona

Im September 2020 fand eine Forsa-Umfrage statt, die bei 1.000 Familien nachfragte, ob und wie sich die Essgewohnheiten seit Corona geändert haben.

"Hier war doch überraschend zu sehen, dass 27 Prozent der befragten Eltern tatsächlich eine Gewichtszunahme bejaht haben", sagt Hans Hauner, Ernährungsmediziner an der TU München. "Ein auffälliger Befund."

Selbst und gesünder kochen durch das Homeoffice

Dabei gab es noch begründete Hoffnung, dass eine Gewichtszunahme durch Homeoffice und dem damit verbundenen Selbst-Kochen eher auszuschließen ist. Denn die Studie zeigte: Seit der Pandemie ernähren sich 14 Prozent gesünder als vor der Pandemie, sieben Prozent weniger gesund und bei 79 Prozent gab es keine Veränderung.

"Es ist nicht so dramatisch, wie ich erwartet hätte", sagt der Experte in der Online-Pressekonferenz zur Studie. Auch die Nutzung von Lieferdiensten hatte sich laut Studie nicht wesentlich im Vergleich zu vor der Pandemie verändert. Warum dann aber die Gewichtszunahme bei einem Viertel der Befragten?

Zu viel (ungesundes) Essen, zu wenig Bewegung

Eine Gewichtszunahme habe immer mit einer Kombination aus zu viel (ungesundem) Essen und Bewegungsmangel zu tun, erklärt Hauner. Die Fitness-Studios seien in der Pandemie geschlossen, ebenso die Sportvereine.

Der Stay-at-home-Appell der Bundesregierung trägt ebenfalls nicht zu ausreichend Bewegung außerhalb der vier Wände bei, begründet nu3.

Zusammenhang zwischen fehlenden Kontakten und Gewichtszunahme

Ein weiterer Erklärungsversuch, warum trotz gesünderer Ernährung das Gewicht der Befragten angestiegen ist, veranschaulicht Ernährungsexperte Hauner an einer Studie aus Taiwan: Eine Versuchsgruppe wurde dazu angehalten, die Sozialkontakte zu minimieren, eine andere durfte sich weiterhin mit Menschen treffen. Die Personen, bei denen die Kontakte ausblieben, aßen mehr – bevorzugt zucker- und fetthaltiges Essen.

"Das zeigt, wie eng Ernährungsverhalten und Sozialkontakte zusammenhängen", sagt Hauner. "Vielleicht findet hier eine Art Kompensation statt, wenn ich mich nicht meinen Engsten nähern darf."

Gewichtszunahme besonders bei Schulkindern im Alter von zehn bis 14 Jahren

Berthold Koletzko, Ernährungsmediziner am LMU Klinikum München, betont vor allem die Gewichtszunahme bei Kindern und Jugendlichen in der Studie: Bei neun Prozent der befragten Kinder gab es eine Gewichtszunahme. "Das ist viel, wenn man bedenkt, dass es die Pandemie zum Zeitpunkt der Befragung erst seit sechs Monaten gab", erklärt Koletzko. Besonders betroffen seien laut Studie Schulkinder im Alter von zehn bis 14 Jahren.

Hervorzuheben sei außerdem, dass die Gewichtszunahme der Kinder vor allem bei Familien mit geringer elterlicher Bildung auftrat. Dabei sind diese Kinder auch ohne die Pandemie häufiger adipös: "Auf diesen Ausgangspunkt kommt also nochmal die hohe Steigerung."

Pandemie erhöht das Risiko für Übergewicht bei Kindern

Zwar haben Kinder und Jugendliche laut Koletzko ein geringes Corona-Infektionsrisiko, dafür erhöhe die Pandemie bei ihnen das Risiko für Übergewicht. Das bedeute wiederum, dass adipöse Kinder, die an COVID-19 erkranken, auch ein größeres Risiko für schwerere Verläufe haben, erklärt der Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin.

Eine Folge-Befragung der COPSY-Studie von Dezember 2020 bis Januar 2021 stellte übrigens weiterhin einen Negativ-Trend beim Ess-Verhalten und der Bewegung bei Kindern und Jugendlichen während der Pandemie fest.

Deutliche Zunahme von Essstörungen während Corona

Während die Studien hauptsächlich eine Gewichtszunahme bei Erwachsenen und Kindern feststellen, berichten Kliniken von einer Zunahme an Patienten mit Magersucht. Martina Hartmann, Sucht-Therapeutin beim Beratungszentrum bei Essstörungen "Dick & Dünn e.V." in Berlin, bestätigt allgemein eine deutliche Zunahme aller Essstörungen seit Beginn der Pandemie - sei es Bulimie, die Binge-Eating-Störung (Esssucht) oder Anorexie (Magersucht).

Im Gespräch mit unserer Redaktion berichtet sie ebenfalls von einer Zunahme an Klinik-Aufenthalten der jungen Frauen, die in ihren beiden Anorexie-Gruppen sind: "Das sind Frauen im Alter von 18 bis 25 Jahren, und die Hälfte von ihnen ist gerade in der Klinik."

Mehr Menschen mit Magersucht in Kliniken

Die steigende Zahl von Magersuchtspatienten in Kliniken während der Pandemie kann auch damit zusammenhängen, dass bei einer Zunahme aller Essstörungen die Magersucht-Erkrankung nach außen hin bedrohlicher wirkt als bei einer anderen Essstörung. "Die akuten Symptome bei einer Magersucht sind natürlich schneller da. Bei einer Binge-Eating-Störung dauert das eine ganze Weile. Der menschliche Körper kann nach oben hin eine Menge aushalten", sagt Hartmann.

"Was man aber nicht vergessen darf: Oft sind die Menschen mit einer Bulimie oder einer Binge-Eating-Störung psychisch viel mehr in Not; bei einer Magersucht denken die Betroffenen meist noch, dass sie gut mit ihrem Gewicht zurechtkommen. Aber die Verzweiflung bei den Betroffenen mit zum Beispiel Ess-Attacken ist so groß, dass viele suizidaler werden, also an Selbstmord denken. Schlimm leiden in der Pandemie also alle Betroffenen mit Essstörungen."

Essstörungen geben den Betroffenen in der Krise vermeintlichen Halt

Jugendliche und Erwachsene suchen seit Corona häufiger die Berliner Beratungsstelle für Essstörungen auf; auch Eltern mit Kindern sind dabei, die zum Beispiel durch das Homeoffice vermehrt mitbekommen, wie ihre Kinder mit Essen umgehen. "Wir erleben zehnjährige Mädchen, bei denen die Eltern wegen Anorexie alarmiert sind. Aber auch mehr Erwachsene kommen seit der Pandemie zu uns, die berichten, dass sie aus ihren Ess-Brech-Attacken nicht herauskommen, weil sie nicht wissen, wie sie den Tag sonst füllen können."

Die Essstörung wird von Betroffenen als einzige Kontrolle in unberechenbaren Zeiten wie der Corona-Pandemie gesehen. "Je krisenhafter das Erleben, umso öfter wird auf die vermeintliche Selbsthilfe-Krücke namens Essstörung zurückgegriffen", erklärt die Sucht-Therapeutin. "Und gerade jetzt in der Pandemie stellen wir fest, wie rasend schnell sich die Symptomatik verstärkt."

Ess-Attacken und Diätpläne als stabilisierende Funktion

Der Tagesablauf in Corona-Zeiten wird dann zum Beispiel so ausgefüllt, dass Anorexie-Betroffene ihre Zeit mit ausgefeilten Essens- und Diätplänen füllen. "Die geben ihnen über den Tag verteilt hin Stabilität, ein Gefühl von Selbst-Wirksamkeit", sagt die Expertin.

"Bei den Betroffenen mit Ess-Attacken hat das Essen auch eine stabilisierende Funktion: Essen kann erst einmal ablenken, beruhigen, trösten, entspannen, man hat etwas zu tun, solange man isst – aber hinterher ist das Dilemma groß. Wie kann ich das Essen wieder loswerden? Damit muss man sich dann auch wieder beschäftigen. Man hat etwas, was ablenkt von den ganzen Ängsten und Nöten, die gerade durch die Pandemie vermehrt entwickelt werden."

Hilfe für Betroffene

Betroffene, die mit einer Essstörung kämpfen, können sich jederzeit an Beratungsstellen oder direkt an Krankenhäuser vor Ort wenden. Verschiedene Hotlines in einzelnen Bundesländern (zum Beispiel die SuchtHotline München: 089/282822) bieten zudem eine Telefon-Beratung für Betroffene und Angehörige an. Auch in Corona-Zeiten finden in vielen Beratungsstellen die Gesprächskreise online statt.

Ein Projekt speziell für Eltern und Kinder, das mit Infos, Tipps und Anlaufstellen hilft, um positiv durch die Corona-Zeit zu kommen, heißt "Corona und Du".

Über die Expertin: Martina Hartmann ist Sucht-Therapeutin beim "Dick & Dünn e.V."-Beratungszentrum bei Essstörungen, Berlin.

Verwendete Quellen:

  • Gespräch mit Martina Hartmann
  • COPSY-Längsschnittstudie der Forschungsabteilung "Child Public Health" am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf unter der Leitung von Frau Prof. Dr. Ravens-Sieberer
  • Forsa-Studie des Else-Kröner-Fresenius-Zentrums für Ernährungsmedizin (EKFZ) an der Technischen Universität München
  • Studie "Wie wir uns in Zeiten von Social Distancing und Homeoffice ernähren und bewegen" von nu3, einem Hersteller von Sport- und Nahrungsergänzungsmitteln
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