- Der andauernde Druck, im Homeoffice seine Leistung aus der Ferne zu beweisen, kann zu langfristiger Erschöpfung führen.
- Einfach umzusetzende Tricks können helfen, besser im Alltag mit dem Druck umzugehen.
- Ein Recht auf Nichterreichbarkeit auch im Homeoffice soll in der EU bald Grundrecht werden.
Minütlich landen neue Chatnachrichten und E-Mails von Kollegen auf unserem Bildschirm im heimischen Büro. Parallel dazu erreichen uns ständig neue Mitteilungen auf dem Firmen-Smartphone. Diese nicht enden wollende Flut an beruflichen Anfragen lässt in vielen von uns einen Druck entstehen, den Psychologen als "Telepressure" beschreiben.
Dieser Begriff bezeichnet den Zwang, permanent über berufliche Telekommunikationskanäle erreichbar zu sein und ständig sofort auf eingehende Nachrichten zu reagieren. Durch die Situation im Homeoffice verstärkt sich dieses Phänomen noch einmal extrem, weil wir theoretisch ständig verfügbar sind.
Wie also setzen wir uns im Arbeitsalltag zu Hause Grenzen und wie gehen wir mit diesem ständigen Druck gut um?
Woher kommt der Erreichbarkeits- und Antwortzwang im Homeoffice und was ist typisch?
Das Auftreten des Phänomens "Telepressure" geht mit der Einführung neuer Technologien wie Laptop und Smartphone einher. Sie ermöglichen den Arbeitnehmern, von überall und zu jeder Zeit arbeiten und auf Anfragen reagieren zu können. Wurde die berufliche Tätigkeit anfangs nur abends mit nach Hause genommen, findet sie heute sogar oft komplett daheim statt. Mittlerweile arbeitet jeder vierte Deutsche ausschließlich im Homeoffice, wie eine repräsentative Umfrage im Auftrag des Digitalverbands Bitkom ergab. Befragt wurden 1.503 Erwerbstätige ab 16 Jahren in Deutschland.
Die ständige physische Ferne zum Arbeitgeber bringt allerdings nicht nur Freiheiten mit sich. Sie kann auch belastend sein und sich negativ auf das eigene Verhalten auswirken, wie das Phänomen "Telepressure" beweist.
Hierbei reden sich viele Arbeitnehmer oft selbst ein schlechtes Gewissen ein. Hannah Schade, promovierte Psychologin und Mitarbeiterin am Leibniz-Institut für Arbeitsforschung an der TU Dortmund (IfADo), erklärt das im Gespräch mit unserer Redaktion so: "Viele Leute meinen, unter Generalverdacht zu stehen. Sie denken, dass der Arbeitgeber davon ausgeht, dass man zu Hause automatisch weniger arbeitet. Diese Haltung übernehmen sie dann einfach und versuchen, das Gegenteil zu beweisen."
Doch machen wir uns diesen Druck ausschließlich selbst? Arbeitgeber, so sieht es Schade, wünschen sich die physische Präsenz ihrer Mitarbeiter. "Viele Unternehmen haben schon gerne die Kontrolle über ihre Mitarbeiter, sprich wenig Vertrauen, dass diese genauso gewissenhaft von zu Hause arbeiten. Das spüren Arbeitnehmer bewusst oder unbewusst und versuchen, aus der Ferne Präsenz zu zeigen, indem sie sofort antworten, egal ob auf eine E-Mail, eine Chat-Nachricht oder Ähnliches."
Die Folgen: Stress, schlechteres Abschalten und Burn-out
Der ständige Druck, etwas beruflich Wichtiges im Homeoffice zu verpassen und auf irgendeine Nachricht antworten zu müssen, führt unweigerlich zu Stress. Oft fühlen sich Arbeitnehmer erschöpfter nach derselben Arbeit. Ständig in Alarmbereitschaft zu sein, ständig das Gefühl zu haben, die Kontrolle über die Flut an Anfragen, seine Zeit und sein Leben zu verlieren – das frustriert und macht depressiv.
"Durch die ständige Erreichbarkeit auch außerhalb der Arbeitszeiten im Homeoffice kann man schlechter abschalten, schlechter schlafen und am Ende besteht die Gefahr, an einem Burn-out zu erkranken. Im Homeoffice passiert es schnell, dass der komplette Erholungs- und Feierabendprozess verkürzt oder unterbrochen wird, der früher automatisch durch das Verlassen der Arbeitsstätte gegeben war", erklärt Schade.
Lesen Sie auch: Homeoffice, Kinder und Schule: Wie Eltern dem Stress Herr werden
So ziehen Beschäftigte Grenzen: Sechs praktische Tipps
Um sich im Homeoffice nicht selbst den Druck zu machen, ständig erreichbar zu sein und reagieren zu müssen, sollten Betroffene versuchen, ihren beruflichen Alltag besser, disziplinierter und kompetenter zu organisieren. Hierbei können folgende praktische Tipps helfen:
Tipp 1: Widerstehen Sie dem Impuls, zu antworten
Versuchen Sie sich auf eine bestimmte Aufgabe zu konzentrieren und lernen Sie, erst im E-Mail- und Chatprogramm nach neuen Nachrichten zu schauen, wenn Sie dieses To-do wirklich erledigt haben. Es reicht in den meisten Fällen, morgens, mittags und nachmittags seine E-Mails einzusehen.
Fragen Sie sich, ob eine Beantwortung wirklich lebenswichtig ist. Falls nicht, antworten Sie gebündelt, zum Beispiel im Mittagstief, wenn man sowieso unproduktiver ist. Schalten Sie zudem visuelle und akustische Einblendungen von neuen Mitteilungen aus, um nicht ständig unterbrechende Impulse zu erhalten.
Tipp 2: Schaffen Sie sich Zeiträume für konzentriertes Arbeiten
Verinnerlichen Sie sich folgendes Mantra: Ein guter Arbeitnehmer steht nicht ständig Gewehr bei Fuß, sondern macht vielmehr gute Arbeit. Das bedeutet, dass Sie sich zeitlich Räume schaffen sollten, um wirklich konzentriert zu arbeiten. "Das Konzept des Multitaskings funktioniert einfach nicht. Wer ständig zwischen Aufgaben wechselt, der ist am Ende schlichtweg langsam", warnt Schade.
Blocken Sie sich also zum Beispiel in Ihrem Kalender Zeit für Ihre Aufgaben und kennzeichnen Sie diese als Termin. Stellen Sie Ihren Status im Chat-Programm zudem auf "nicht stören". So managen Sie auch die Erwartungen Ihrer Kollegen und reduzieren Unterbrechungen. Wenn gar nichts hilft, schalten Sie vielleicht auch einfach mal das Internet ab.
Tipp 3: Sprechen Sie "Off-Zeiten" direkt mit dem Arbeitgeber ab und schaffen Sie explizite Regeln
Menschen können besser im Homeoffice arbeiten, wenn es explizite Regeln gibt. Sprechen Sie deshalb mit Ihrer Führungskraft ab, wann Sie offiziell erreichbar für Kollegen sind und wann Sie sogenannte Off-Zeiten haben, um auch wirklich Aufgaben wegzuarbeiten.
Kommunizieren Sie Ihre Korridore der Erreichbarkeit auch im Team. Sie können auch anregen, diese individuelle Regelung einheitlich auf das gesamte Team auszuweiten.
Tipp 4: Ziele absprechen, um zu wissen, wann man abschalten darf
Oft herrscht beim Arbeitnehmer Unklarheit darüber, was wirklich im Job und im Homeoffice geleistet werden soll. Klären Sie deshalb mit Ihrem Arbeitgeber, was er von Ihnen in der Heimarbeit erwartet. Setzen Sie gemeinsam realistische Ziele, was zum Beispiel innerhalb eines Tages oder einer Woche konkret zu erledigen ist.
Das Resultat: Sind die abgesprochenen Aufgaben abgearbeitet, können Sie guten Gewissens abschalten, weil Sie wissen, dass Ihre Arbeit ausreicht, nun alles erledigt und gut ist.
Tipp 5: Stoppen Sie Ihre Arbeitszeit
Damit Sie mehr Kontrolle über Ihren Arbeitsalltag zu Hause erhalten, stoppen Sie Ihre Arbeitszeit mit einer Stoppuhr zum Beispiel auf Ihrem Handy. So erhalten Sie einen völlig transparenten Überblick über Ihre geleistete Arbeitszeit. Damit einhergehen sollte auch das Schaffen einer festen Tagesstruktur, die feste Pausen mit einplant.
Überlegen Sie auch, sich die 25-Minuten-Technik anzueignen. In exakt diesem Zeitrahmen müssen Sie sich dann konzentriert einer Aufgabe widmen. So lernen Sie den Wert von Zeit und Begrenzung kennen.
Tipp 6: Stehen Sie für sich und Ihre Bedürfnisse ein
Vielen von uns fehlt oft die Fähigkeit, von der Arbeit abzuschalten und sich selbst wirkliche Pausen zu nehmen. Doch Arbeit und alles erledigen zu wollen – das ist nun mal nicht alles.
Schade rät hier zum Umdenken: "Man kann auch mal zufrieden sein, wenn etwas nicht erledigt oder abgeschlossen ist. Ich glaube, da kann Deutschland noch nachholen – nur ein erholter Arbeitnehmer mit genügend Feierabend ist auch ein guter Arbeitnehmer. Zu sagen 'Das ist einfach zu viel für einen Tag' und für sich selbstbewusst einzustehen, das müssen wir hierzulande noch mehr lernen."
Der Schutz des Feierabends – bald ein EU-weites Recht?
Dass der Feierabend ein wichtiges Gut ist, darüber ist man sich in Frankreich schon längst klar, berichtet die "Welt". Seit 2017 verbietet ein Gesetz, dass Firmen ihre Mitarbeiter benachteiligen, wenn diese nach Feierabend nicht mehr für berufliche Anfragen erreichbar sind. Grund war die wachsende Zahl an Burn-outs durch die Vermischung von Privat- und Berufsleben, die auch mit der zunehmenden Digitalisierung einherging.
Auch auf EU-Ebene soll es bald ein Recht auf die Nichterreichbarkeit außerhalb der Arbeitszeit für Menschen im Homeoffice geben. Das Ziel ist laut Europäischem Parlament, das Recht auf den Feierabend als EU-Grundrecht zu etablieren. Dabei sollen bestimmte Mindestanforderungen an die Telearbeit vorgegeben und mehr Klarheit über Arbeits- und Ruhezeiten geschaffen werden.
Hannah Schade begrüßt das und sieht hier erste Signale für eine langfristige Trendwende: "Wir erleben hier hoffentlich bald einen nachhaltigeren Umgang mit Mitarbeitern. Wir müssen einfach wegkommen von weniger Schein hin zu mehr Sein. Weg von sich ständig beweisen zu müssen, dass man auch aus der Ferne gute Arbeit leistet. Jeder von uns sollte es sich erlauben können, auch mal eine Zeitlang offline zu sein."
Verwendete Quellen:
- Gespräch mit Dr. Hannah Schade
- Europäisches Parlament: Recht auf Nichterreichbarkeit soll in der EU Grundrecht werden
- Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA): Arbeitsunterbrechungen und Multitasking täglich meistern
- Bitkom.org: Mehr als 10 Millionen arbeiten ausschließlich im Homeoffice
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.