Berlin - Die deutsche Industrie gerät zunehmend unter Druck - aber das Scheitern der Ampel-Regierung droht wichtige Vorhaben auszubremsen. Die Krise der Wirtschaft könnte sich noch verschärfen. Die Stimmung sei in "Moll", sagte Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) bei einer Industriekonferenz in Berlin. Man rede über den wirtschaftlichen Abstieg Deutschlands und Europas.
Habecks will Sofortmaßnahmen
Der Vizekanzler - seit drei Jahren im Amt - dringt auf schnelle Entscheidungen, um die Industrie bei den Stromkosten zu entlasten. Um kurzfristig zu agieren, seien noch in dieser Legislaturperiode Maßnahmen möglich.
Habeck sucht Schulterschluss mit Union
Der Wirtschaftsminister sagte, der beste Weg zur Senkung der Netzentgelte wäre eine Einigung auf einen Nachtragshaushalt für das laufende Jahr. Um einen Bundeszuschuss zu finanzieren, könnten durch die Verschiebung beim Intel-Chipwerk in Magdeburg frei werdende Fördermittel genutzt werden. Habeck hatte bereits vorgeschlagen, man könne die erste, eigentlich geplante Tranche der Intel-Gelder nehmen, um im kommenden Jahr die Netzentgelte um vier Milliarden Euro zu senken. Ein anderer Weg seien gesetzliche Anpassungen.
Die Wirtschaft beklagt seit langem im internationalen Vergleich hohe Stromkosten. Eigentlich war für dieses Jahr ein Bundeszuschuss zur anteiligen Finanzierung der Übertragungsnetzkosten von bis zu 5,5 Milliarden Euro geplant. Als Folge eines Haushaltsurteils des Bundesverfassungsgerichts hatte die Bundesregierung diesen Zuschuss aber aus Spargründen gestrichen.
Industrie: Gelände bereits abschüssig
Industriepräsident Siegfried Russwurm sagte: "Die hohen Strompreise gefährden die Industrieproduktion und Arbeitsplätze am Standort Deutschland." Die Senkung der stark steigenden Netzentgelte als sofort wirksame Maßnahme könne einen kurzfristigen Beitrag leisten. "Wir haben keine Zeit zu verlieren." Jürgen Kerner, Zweiter Vorsitzender der Gewerkschaft IG Metall, forderte CDU und CSU auf, sich ihrer Verantwortung zu stellen.
Russwurm sagte mit Blick auf eine drohende längere Regierungsbildung nach der Wahl, es drohten sechs Monate verloren zu gehen - in einer Lage, in der Entscheidungen gegen Investitionen in Deutschland oder zumindest nicht für Investitionen in Deutschland jeden Tag und jede Woche getroffen würden. Das Gelände sei bereits "abschüssig". Eigentlich brauche man grundlegende Reformen.
Rot-Grün ohne Mehrheit
Als Sofortmaßnahme will auch Kanzler Olaf Scholz (SPD) die Netzkosten stabilisieren. Allerdings hat die rot-grüne Regierung keine Mehrheit mehr im Bundestag. Habeck sagte mit Blick auf Union und FDP, die Bundesregierung werde das Gespräch mit der demokratischen Opposition suchen. "Aber die muss es dann auch wollen. Wichtig ist, dass uns dort die Zeit wirklich davonläuft." Die Maßnahme müsse in den verbleibenden Wochen dieses Jahres beschlossen werden.
Union und FDP zurückhaltend
FDP-Fraktionsvize Lukas Köhler sagte: "Geringere Netzentgelte zur Absenkung der Stromkosten sind wichtig, aber Habecks konkreter Vorschlag ist unseriös. Denn leider bleibt der Wirtschaftsminister die Antwort schuldig, an welcher anderen Stelle im Haushalt er das Geld für die Senkung der Netzentgelte einsparen will." Es seien strukturelle Reformen in der Energie- und Wirtschaftspolitik nötig. Es sei an den Bürgern, am 23. Februar eine Richtungsentscheidung zu treffen.
Die CDU-Wirtschaftspolitikerin Julia Klöckner sagte, die industriepolitische Bilanz des Wirtschaftsministers und des Bundeskanzlers sei desaströs. "Ankündigungspolitik, Mikromanagement und eine verfehlte Subventionspolitik haben die Krise der Industrie erheblich beschleunigt. Viele Industriearbeiter fürchten um ihren Arbeitsplatz."
Der CDU-Energiepolitiker Andreas Jung kritisierte: "Die aktuelle Initiative von Robert Habeck kommt nicht nur spät, sie ist auch offensichtlich unabgestimmt und unausgegoren." Der neue Finanzminister Jörg Kukies (SPD) habe die von Habeck ins Visier genommenen Intel-Milliarden anderweitig verplant, um einen Nachtragshaushalt zu vermeiden. "Es gibt also viel Klärungsbedarf in der Regierung und nur widersprüchliche Ankündigungen statt einer konkreten Vorlage."
Schlechte Nachrichten aus der Industrie häufen sich
Die Krise der Industrie könnte sich noch verschärfen. Dabei häufen sich bereits die negativen Neuigkeiten aus den Unternehmen. Die für Deutschland so wichtige Autobranche steckt tief in der Krise. Der Zulieferer Bosch plant den Abbau Tausender Stellen, bei vielen Beschäftigten in Deutschland soll zudem die Arbeitszeit reduziert werden.
Für den Autohersteller Volkswagen ist neben dem Abbau Zehntausender Arbeitsplätze mittlerweile auch die Schließung mehrere Werke eine Option auf dem Weg zu wirtschaftlicher Stabilität. Und auch Deutschlands größte Stahlfirma Thyssenkrupp Steel setzt den Rotstift an - binnen sechs Jahren soll die Zahl der Arbeitsplätze von rund 27.000 auf circa 16.000 reduziert werden.
Deutschland hinkt hinterher
Deutschland droht wegen seiner Wachstumsschwäche international nach unten durchgereicht zu werden - die Industrieproduktion sinkt, Arbeitskräfte fehlen. In Sachen Produktivität hinke Deutschland hinterher, sagte Moritz Schularick, Präsident des Kiel Instituts für Weltwirtschaft. Auf der Weltrangliste der Wettbewerbsfähigkeit habe Deutschland vor zehn Jahren Platz sechs belegt, heute liege man auf Platz 24.
Mit dem Wahlsieg von Donald Trump in den USA haben die Unsicherheiten weiter zugenommen. Der designierte US-Präsident kündigte bereits höhere Zölle auf Waren aus Mexiko und Kanada an. Auch für China sollen sie steigen. Kommen auch höhere Zölle für Importe aus Europa? Russwurm: "Das würde uns massiv schaden."
Habeck: Größer denken
Deutschland und die EU müssten ihre Hausaufgaben machen und größer denken, sagte Habeck. Das bedeutet für ihn: Viele Milliarden mehr für viel mehr Investitionen, um die marode Infrastruktur auf Vordermann zu bringen und Investitionen von Firmen anzureizen. Er mache keinen Hehl daraus, dass größere Antworten nötig seien, als dies in den vergangenen Jahren möglich gewesen sei, sagte Habeck. Die FDP lehnte eine Reform der Schuldenbremse ab. © Deutsche Presse-Agentur
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.