Am 19. Februar 2020 erschoss ein Mann in Hanau neun Menschen mit Migrationshintergrund, seine Mutter und sich selbst. Unter dem Hashtag #Abgeschlossen nimmt sich Jan Böhmermann am Freitagabend den Morden von Hanau erneut an und verhindert damit, dass genau das passiert. Dass sie abgeschlossen sind. Zumindest in der öffentlichen Diskussion.
Es muss eine interessante Woche für
"Heute gibt es in dieser Sendung eine fette pazifistische Schelle ins Gesicht der erfolgsbesoffenen deutschen Medienlandschaft, das hab ich mir geschworen. Aber vielleicht gewinnt am Ende auch das Teufelchen auf meiner Schulter und ich mache doch nichts. Mal sehen." So viel zu Til Schweiger, auch für das zweite große Thema dieser Woche hat Böhmermann noch kurz Zeit: die jüngsten Spionage-Fälle und die Rolle der AfD.
"Sie haben sich doch bestimmt auch schon immer gefragt: Was unterscheidet eigentlich meine Wohnungstür von der AfD?", wendet sich Böhmermann an die Zuschauer und fährt fort: "Ich sag’s Ihnen: In der Wohnungstür ist nur ein Spion und die Tür kann dicht halten. Jedes Mal, wenn ich aufs Handy gucke, sind schon wieder neue AfD-Leute beim Spionieren für ein fremdes, nicht-deutsches Land erwischt worden. Andererseits natürlich erfreulich: Endlich hat die AfD eine Alternative für Deutschland gefunden. Und sogar gleich zwei: China und Russland."
"Der Moment, die Akten von Hanau nochmal aufzumachen"
Dann aber ist es irgendwann Zeit für das eigene Thema der Woche und das führt Böhmermann mit dem Hashtag #Abgeschlossen ein. Gemeint ist damit der Anschlag von Hanau im Jahr 2020, bei dem ein 43-Jähriger neun Menschen mit Migrationshintergrund und danach seine Mutter und auch sich selbst erschossen hat. Böhmermann holt die Ermordeten aus der bloßen Schlagzeile hervor, nennt ihre Namen und blendet ihre Gesichter ein. "Neun Menschen, erschossen am 19. Februar 2020 in Hanau, von dem rechtsextremen Attentäter Tobias R."
Das sei nun vier Jahre her, erklärt Böhmermann und fragt nach dem Fazit. "Die hessische Polizei hat insgesamt gute Arbeit geleistet", zitiert Böhmermann dazu den damaligen hessischen Innenminister Peter Beuth (CDU) in der "Frankfurter Allgemeinen" vom Juli 2023. "Hanau ist abgeschlossen, alle Ermittlungen, Strafverfahren eingestellt, alle Akten geschlossen, gelocht, getackert, abgeheftet und eingelagert für immer", deutet Böhmermann an, worauf er eigentlich hinaus will und fährt fort: "Also der exakt perfekte Moment für uns, für das 'ZDF Magazin Royale', die Akten von Hanau nochmal aufzumachen."
Man habe sich die Akten noch einmal angesehen, erklärt Böhmermann und meint: "Wir wissen: Es gibt einiges zu besprechen." Zum Beispiel, warum der Täter, obwohl er "Sicherheits- und Gesundheitsbehörden" vorher bereits mehrfach mit psychischen Problemen und wegen Gewalttaten und auch in sozialen Medien rassistisch aufgefallen sei, trotzdem legal Waffen besitzen konnte. Hier, so Böhmermanns Vorwurf, hätten die deutschen Sicherheitsbehörden vor der Tat versagt.
"Der Hanauer Polizeieinsatz war ein absolutes Durcheinander"
Es habe "so viele Informationen über Tobias R. vor der Tat gegeben", so Böhmermanns Zwischenfazit, das ihn zu der rhetorischen Frage führt: "Wenn es in Hessen nur eine Behörde gäbe, deren Aufgabe es wäre, extremistische und terroristische Straftaten zu verhindern", träumt Böhmermann und zitiert dann aus der Antwort einer Presseanfrage des "ZDF Magazin Royale" an das hessische Landesamt für Verfassungsschutz (LfV): "Eine eigens im LfV beauftragte Sonderauswertung kam zu dem Ergebnis, dass keine auf den Zeitpunkt vor der Tat am 19. Februar 2020 datierten Erkenntnisse zu dem Attentäter von Hanau im LfV festgestellt werden konnten."
Was folgt, ist eine Pauschalkritik an dem nachlässigen Umgang mit Rechtsextremen in Hessen und in ganz Deutschland durch Behörden und Politiktalkshows: "Hätte Deutschland auf dem Schirm, wie gefährlich Rechtsextremisten sind, würden diese neun Menschen wahrscheinlich heute noch leben. Weitere Vorwürfe im Detail:
- Ein Mann habe den Täter mit dem Auto verfolgt, sei aber beim telefonischen Notruf nicht durchgekommen und später von R. getötet worden.
- Die nicht erfolgte Zentralisierung des Polizeinotrufs in Hanau.
- Die Besetzung des Notrufs mit nur einer Person in Hanau.
- Die Blockierung des Notrufs durch den Anruf eines Polizisten wegen einer Datenabfrage.
- Das Eingeständnis der Polizei, dass "in der ersten Phase der Lage der Überblick verloren ging."
- Das einzige Disziplinarverfahren lief ausgerechnet gegen die zwei Beamten, die im Polizei-Hubschrauber das Chaos am Boden kritisiert hatten.
- Das Nicht-Bewachen der Türen des Wohnhauses, in das sich der Täter nach den Morden zurückgezogen hatte.
- Der Einsatz von 13 SEK-Beamten, die "in irgendwelchen rechtsextremen Chat-Gruppen abhingen".
- Ein angeblich auf Anweisung der Polizei verschlossener Notausgang in der Bar, in der Tobias R. zwei Menschen tötete.
Böhmermanns Fazit: "Der Hanauer Polizeieinsatz war ein absolutes Durcheinander." Und: "Wenn Deutschland es nicht so dermaßen verkackt hätte, könnten diese Menschen heute noch leben. […] Der Massenmord von Hanau hätte verhindert werden können."
Gegen das Vergessen
Es gibt also eine Reihe an Vorwürfen, die Böhmermann da erhebt und Fragen, die immer noch offen sind. Allerdings: Manche Vorwürfe sind nicht ausreichend erklärt. So berichtet Böhmermann, ein paar Monate vor der Tat habe Tobias R. "eine Kostprobe seines paranoides Kopfdurcheinanders an den Generalbundesanwalt geschickt." Dieser habe Tobias R. sogar geantwortet, versehen mit der Floskel "Mit freundlichen Grüßen". Das reicht Böhmermann für die sarkastische Bemerkung: "Der Generalbundesanwalt der Bundesrepublik Deutschland grüßt freundlich den Massenmörder von Hanau drei Monate vor dessen Tat."
Auch wenn es nach Haarspalterei klingt, hätte Böhmermann hier von dem "späteren Massenmörder" sprechen müssen, denn der Anschlag wurde, wie Böhmermann selbst anmerkt, erst nach der Mail verübt. So suggeriert Böhmermann aber den falschen Eindruck, der Generalbundesanwalt grüße bewusst und freundlich einen Massenmörder. Zum anderen weiß der Zuschauer gar nicht genau, worum es in dem Mail-Wechsel ging und kann so auch nicht die Brisanz der Grußformel einschätzen. Das bedeutet natürlich nicht, dass Böhmermann die Ansichten des Täters im TV hätte wiederholen müssen – um Gottes willen! Dieses Unpräzise hätte man dennoch besser auflösen können, sodass die Anklage Böhmermanns an dieser Stelle nachvollziehbar ist.
Das soll der Kernbotschaft Böhmermanns, dass es hier ein Versagen an vielen Stellen, aber keine wirklichen Konsequenzen gegeben hat, aber nicht im Wege stehen, auch wenn Böhmermann angesichts der Fälle und der Kürze der Sendezeit, mitunter vereinfachend zu Werke gehen musste. Gleichzeitig fällt auf, dass sich Böhmermann in dieser Ausgabe mit Satire-Elementen stark zurückhält – was bei einem Thema wie diesem mehr als geboten ist. Und auch wenn der Hanau-Ausgabe vielleicht keine Aufarbeitung der Fehler folgen mag, so ist es Böhmermanns Verdienst, das Versagen und damit auch die Opfer nicht in Vergessenheit geraten zu lassen – und dass wir in Deutschland ein riesiges Problem mit Rechtsextremen haben sowieso.
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