Regelmäßige Leser meiner Wochenrückblicke - also in erster Linie Du, liebe Mama - werden sich erinnern: Während der Olympischen Sommerspiele in Tokyo schlug die Moderne Fünfkämpferin Annika Schleu minutenlang brutal auf das Pferd ein, auf dem sie saß.
Weil das zum Sportgerät degradierte Pferd nicht folgsam gewesen war und ein paar Meter weiter ihre vollkommen ausrastende Trainerin Kim Raisner sie anstachelte, ruhig "richtig drauf zu hauen". Statt Medaillen hagelte es Kritik, vor allem auch, weil der olympische Gedanke ursprünglich eigentlich nicht lautete: "Dabei sein ist alles, aber wenn man es nicht auf das Treppchen schafft, verprügelt man wenigstens ein Tier".
Bei Fällen wie diesem möchte dann wirklich jeder auf der Bugwelle der Empörung mitsurfen. Der Eklat beherrscht stets exakt so lange die Schlagzeilen, bis auch der letzte D-Promi seine Verachtung kundtun und seine bedingungslose Tierliebe versichern konnte. Dann gönnt man sich zur Belohnung, wie aufopferungsvoll man sich gegen Tierquälerei einsetzt, erstmal ein schönes Rinderfilet. Natürlich von glücklichen Kühen.
Auf den Gedanken, dass man sich gerade ein Leichenteil von einem Lebewesen auf den Teller hievt, das sein Schicksal vermutlich liebend gerne mit dem von Saint Boy getauscht hätte, kommt niemand. Saint Boy, das ist kein neuer Rapper aus Atlanta, sondern der Name des Pferdes, das von Annika Schleu bis zur Totalpanik zurechtgeprügelt wurde.
Guerilla-Kämpfer der Solidaritätsverweigerung
Aber diese Kolumne soll kein Plädoyer für vegane Ernährung werden. Wenn man dem Deutschen an seine Billig-Nackensteaks geht, da ist es schnell mal mit der Toleranz vorbei. Ich möchte lediglich anmerken, dass es im Fall von Saint Boy erfreulicherweise anders lief als bei den meisten anderen Fällen kollektiven Ausrastens.
Wenn sich da nämlich irgendwann sogar
In der Causa Schleu allerdings läuft es anders. Diese Woche wird bekannt, dass der Weltverband für Modernen Fünfkampf entschieden hat, die Disziplin Reiten zukünftig aus dem Programm zu streichen. Welche Sportart dann neben Fechten, Schwimmen, Laufen und Schießen das Reiten ersetzen wird, ist noch nicht offiziell bestätigt.
Vieles spricht dafür, dass vom Pferde- auf den Fahrradsattel gewechselt wird. Aber selbst, wenn die fünfte Teildisziplin demnächst aus Hallenmonopoly oder Federball bestehen sollte: Alles ist besser als Tiere zu quälen. Und wenn Annika Schleu bei den nächsten Olympischen Spielen dann ihr Rennrad vermöbelt fällt auch der Shitstorm moderater aus.
Du siehst lauter Berge, aber ich sehe Lauterbach
Gäbe es einen Nobelpreis für Geduld, hätte
Die inzwischen als Thilo Sarrazin der Linken geltende Hummer-Liebhaberin ist promovierte Volkswirtin und besitzt auch einen niederländischen Abschluss in Philosophie. Logisch also, dass sie als Expertin für Corona-Impfungen in Talkshows sitzt. Wo sie dann abendfüllend erläutert, warum sie sich nicht impfen lässt. Weil ja die Nebenwirkungen noch nicht erforscht sind. Selbstverständlich hat sie auch das Querdenker-Buzzword "Notzulassung" im Repertoire.
Als wäre sie extra für die Sendung zur Vorbereitung ein paar Wochen ins Boris-Reitschuster-Trainingslager für Aluhut-Vokabular gegangen, zündet sie konsequent wirklich jedes schon 500-mal in breiter wissenschaftlicher Konsenssituation widerlegte Impfgegner-Bingo Feuerwerk, bis zu Hause an den Endgeräten wirklich jeder Mitleid mit Lauterbach bekommt, der mit Engelsgeduld Satz für Satz
Okay, das ist übertrieben. Nicht jeder bekommt Mitleid. Es gibt auch ein paar Diskurs-Bereicherer, die sich vornehmlich von Desinformations-Quellen mit wissenschaftlichen Bankrotterklärungen versorgen lassen, die sich auf Goldener-Aluhut-Lorbeeren ausruhen. Und die feiern Wagenknecht als neue Speerspitze der Querdenker-Freiheitskämpfer.
Besonders viel Applaus gibt es für die Jeanne d'Arc der Impfverweigerer dann vor allem für ihren beinahe schon kriminell falschen Bonustrack, dass alle, die sich impfen lassen, nur sich selbst schützen und in erster Linie mal klare Egoisten sind, weil eine Impfung nur sie selber schützt und daran nichts Solidarisches ist.
Schaut man sich die Rate von Ungeimpften auf den Intensivstationen an, die sich langsam androhende Triage oder das aus Frust über vermeidbare Corona-Fälle kündigende Pflegepersonal, ist das eine ziemlich abenteuerliche Ansicht von Freiheit und Solidarität. Von den lebenswichtigen Krebs- oder Herzoperationen, die aufgrund von ungeimpften und somit weitestgehend unnötigen Corona-Patienten abgesagt und verschoben werden müssen, mal ganz zu schweigen.
Intelligenzdilemma Reichweitenoptimierung
Besonders tragisch dabei: Anders als womöglich der eine oder andere Intelligenz-, Statistik- und Fakten-Allergiker unter den "Im September sind alle Geimpften tot"-Psesuso-Revoluzzern ist Frau Wagenknecht schlau genug, um es besser zu wissen. Und vor allem, um genau diese Reaktion vorhergesehen zu haben - und also offensichtlich genau das bezweckt zu haben: Eine nicht mehr trennbare Nähe zur Schwurbel-Propaganda der Clickbait-Journalisten aus dem Maschinenraum einiger Großverlage, die Tag für Tag fleißig Zweifel an Karl Lauterbach, der Corona-Politik, Impfwirkung und Todeszahlen säen.
Headline für Headline werden Halbwahrheiten, absurd konstruierte Zusammenhänge und lebensgefährliche Verharmlosungen wie Briketts aus Brandbeschleuniger ins öffentliche Diskursfeuer geworfen. Und Frau Wagenknecht hat sich ihre Arbeitshandschuhe auch schon angezogen.
Ihre erste Gastkolumne zum Thema Corona-Impfung und Freiheit ist vermutlich nur noch eine Frage von Tagen. Ein weiterer Meilenstein für die verbliebene Enklave von Moralverweigerern, die fleißig dagegen anschreiben, vom Chef versehentlich als "Propaganda-Marionetten" einsortiert zu werden.
Berichterstattung wie diese bildet den Nährboden für Hass, Lagerbildung und soziale Kälte im Diskurs. Sowie letztendlich für eine zu geringe Impfquote - und damit unmittelbar für eine Verlängerung der Pandemie-Situation. Mit allen Konsequenzen, die man anhand der heute schon fast 100.000 Corona-Toten in Deutschland leicht hochrechnen kann. Schade, dass Frau Wagenknecht diesen Verlagshäusern nun mit fliegenden Fahnen in die Arme stürmt.
Nostalgiealarm bei "Wetten, Dass.."
Aber mal was Schönes: Der absolute Höhepunkt für die harmoniebedürftigen Facetten unseres Daseins liefert dann diese Woche ausgerechnet Zotenkönig
Ein Ruck geht durch Deutschland, auch wenn es nur ein Nostalgieruck ist. Alle wollen dabei sein, eine Quote von fast 14 Millionen Zuschauern dokumentiert das eindrücklich. Selbst wenn man gerade noch rechtzeitig zur Eurovisionshymne auf die heimische Couch hetzt, weil man gerade noch mit FFP2-Maske im Supermarkt ein paar Ingwer-Shots holen musste (Dinge, die es beim letzten "Wetten, Dass.." noch gar nicht gab), hat man spätestens bei Gottschalks erstem Genderwitz im Begrüßungsmonolog quasi den Geruch von Badeschaum und Chips in der Nase.
Kaum jemand hatte diese Woche keine Anekdote zu erzählen, wie in seiner Familie die Samstagabend-Rituale aussahen, damals, in der Blütezeit von Thomas Gottschalk. Als die Welt noch einfach, der Klimawandel weit weg und Corona nur ein exotisches Bier war. Ich selber hatte Gäste aus New York zu Gast, die mit Thomas Gottschalk und "Wetten, Dass.." weniger anfangen konnten, als Michael Wendler mit Fakten. Ich konnte daher nur gelegentlich mal kurz nebenbei beim Kochen per iPad reinzappen. Ich erlebte Helene Fischer mit einem "Helene"-Kettchen, das Thomas Anders und Nora sicher zu Tränen gerührt hat, neben Gottschalk auf der Couch sitzen.
Meine Gäste können keinen mit bloßem Auge erkennbaren optischen Unterschied zwischen Fischer und Gottschalk feststellen. Irgendwann später am Abend bekomme ich noch mit, wie eine junge Frau, die ich zunächst für Laura Wontorra halte, weiße Pizzen auf eine Bagger-Kralle wirft. Irgendwo im Hintergrund erkenne ich Frank Elstner. Die Sehnsucht nach der Unbeschwertheit der 90er-Jahre legt sich selbst in meiner Küche wie eine Nebelwolke aus Nostalgie über eine Generation, die nicht mal geboren war, als Frank Elstner den "Wetten, Dass.."-Staffelstab an Gottschalk übergab.
Solange man Gottschalk also nicht auf die Showbühne tragen muss, würde ich für eine jährliche Neuauflage der zunächst als einmaliges Experiment geplanten Thomas-Gottschalk-Festspiele plädieren. Einen Abend hoffnungsvoller Retrospektion auf bessere Zeiten pro Jahr ist doch wirklich nicht zu viel. Und alle 12 Monate Heino Ferch, diesen Sofa-Kollateralschaden halten wir wirklich voller Freude aus. Ich lege mich also fest: 2022 wird es wieder eine Episode geben! Top, die Wette gilt …
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