Eine schmerzhaft niederschmetternde Woche geht dieser Tage für alle Turbo-Patrioten aus der Flaggen-Akademie für überzeugte Intelligenz-Asketen zu Ende. Die kognitive Teilzeit-Elite aus Fahnen-Experten, die davon überzeugt sind, unsere Nationalfarben wären Schwarz-Kackbraun-Dünnpfiffbraun-Rot-Eiterorange-Pisse-Gold, muss jetzt noch stärker sein als ihre Resistenz gegen Orthographie und Grammatik: Der #Stolzmonat Juni ist vorbei!

Eine Kolumne
Diese Kolumne stellt die Sicht von Marie von den Benken dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

Zu erkennen sind echte #Stolzmonat-Denkminimalisten recht einfach. Neben dem Farb-Fauxpas, mit dem sie ihre Social-Media-Profilbilder schmücken, halten sie sich zumeist für Mel Gibson in "Braveheart". Als solcher befanden sich die offenbar farbenblinden Westentaschen-William-Wallaces den gesamten Juni über in einem existenziellen Freiheits-Kampf gegen Grüne, gegen Regenbogen, gegen Wärmepumpen, gegen vegetarische Ernährung, überhaupt gegen alles Woke – und insbesondere gegen die korrekte Verwendung der deutschen Sprache. Nun ist der neue Lieblingsmonat der tofu- und faktenverachtenden Selbstdenker-Aristokratie jedoch leider vorüber. Wie also kann das erfolgreichste Widerstands-Projekt seit Graf von Stauffenberg in seine mehr als verdiente Verlängerung gehen? Das ist unbedingt notwendig, denn eins ist klar: Die Nation ist noch nicht gerettet! Immer noch wird vereinzelnd gegendert, teilweise sogar im Fernsehen!

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März, April, Mai, Stolzmonat, Juli, August

Ich bin schon sehr gespannt, wie der Plan der Niveau-Spartaner aussieht, ihren Meme-Feldzug auch über den Juni hinaus in die Kommentarspalten ihres Vertrauens erbrechen zu können. Gibt es schon einen Arbeitskreis zur Entwicklung von zeitraumverlängernden Anschluss-Hashtags? Vielleicht: #NochEinStolzmonat? Oder wie wäre: #StolzmonatReloaded? Oder alternativ: #StolzJuli? Oder, um nicht alle 30 Tage erneut in Verlegenheit zu kommen, vielleicht #StolzSommer? Das würde dann mit Glück bis Oktober reichen. Und wenn es mit dem Klimawandel so weitergeht, demnächst sogar jahresübergreifend.

Stichwort Klimawandel: Den hält man als echter #Stolzmonat-Praktikant natürlich für eine von Bill Gates und seinen NWO-Buddys erfundene Verschwörung, die uns schleichend in eine vegane, genderbesessene, auto- und eigenheimlose Diktatur transformieren soll. Ähnlich ist es mit dem Krieg in der Ukraine, den aus #Stolzmonat-Protagonistensicht Joe Biden angezettelt hat. Hand in Hand mit der Nato versteht sich. Das hat Sahra Wagenknecht, das Vordenker-Playmate des #Stolzmonat, bei Lanz, Anne Will, Hart aber Fair, Maischberger und ähnlichen False-Balance-Qualitätsformaten ja ausreichend erläutert.

Eine schöne Blaupause des gesamten #Stolzmonat Selbstverständnisses und wie man als stabiler Rassismus-Superspreader öffentlich zu, na ja, "argumentieren" hat, stellt ein aktuelles Kleinod des deppengesteuerten Lautsprecher-Diskurses da, der inzwischen nicht mehr von Argumenten angeführt wird, sondern von der Menge an gekauften Troll-Bots. In diesem Fall geht es um die feingeistige Ballonverteilung an einem thüringischen Kindergarten. Sie kennen die Geschichte: Ein in der Region als Neonazi bekannter AfD-Fan, der seit Jahren die Nähe der in Thüringen vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem eingestuften AfD, ihrer Veranstaltungen und ihres Führungspersonals sucht, fährt (stramm durcheuphorisiert von der Wahl des ersten Landrates der AfD am Tag nach dem Triumph an der Urne) vor der Kita seines Kindes in der Gemeinde Föritztal vor. Auf seinem Wagen, aus dem er blaue Luftballons über den Kita-Zaun an die Kinder verteilt, steht "Ehrenamtlicher Abschiebehelfer". Er trägt ein T-Shirt mit "Wehrmacht wieder mit"-Aufdruck. Seine Hose hat die Farben der Reichsflagge. Zumindest einige der Ballons sind mit AfD-Logo geschmückt. Für die Kleidung wird er sich wenig später auf Facebook entschuldigen. Für alles andere sorgen rechte Twitter-Bots, Björn Höcke und die AfD-Chefetage. Sie bestreiten vehement alles, was man irgendwie bestreiten kann: Die Aktion, den Mann, seine Nähe zur AfD, dass es etwas Kritikwürdiges an seinem Verhalten gegeben hätte und natürlich, dass er überhaupt existiert.

Schrödingers Ballonverteiler

Beim Relativierungs-Bingo der Leugner-Fraktion offenbart sich im Nachgang ein bemerkenswert unterkomplexer Synapsenkarneval in den Argumentationsketten. Im gespenstisch intensiven Wahn, die Ballonverteilung zum einen als False-Flag-Aktion und im selben Atemzug auch als harmlos oder wenigstens gestellt zu deklarieren, laufen die Verharmlosungs-Bemühungen tagelang umgekehrt proportional. Da heißt es von hundertfach über Telegram-Gruppen orchestrierte Kommentare und Tweets der #Stolzmonat Truthfighter wahlweise: Der Mann hat gar nichts Schlimmes getan, denn auf den Ballons sei kein AfD-Logo zu sehen und was "Wehrmacht" und "Abschiebehelfer" betrifft, so könnten Kita-Kinder ja noch gar nicht lesen. Gleichzeitig will er mit der Aktion aber der AfD schaden, weshalb er eindeutig ein V-Mann vom Verfassungsschutz sei. Und darüber hinaus gibt es auch keinen Beweis dafür, dass es überhaupt der schnell identifizierte Mann ist, der gar nichts Schlimmes gemacht hat und gleichzeitig V-Mann ist. Man sieht in dem Video ja sein Gesicht gar nicht eindeutig. Schrödingers Triple-Neonazi quasi.

Man kann also zusammenfassen: Die Verteidigungs-Strategie der AfD-Fanbase, der AfD selbst und ihrer besorgten Neo-Sympathisanten lautet:

  • 1. Was der Mann an der Kita gemacht hat, war harmlos
  • 2. Falls es doch nicht harmlos war, war es ein V-Mann
  • 3. Falls es doch kein V-Mann war, war es ein gestelltes Fake-Video

Das ist auch vom Logik-Unterbau eine sehr interessante Konstellation: Der harmlose V-Mann war ein Schauspieler, der die AfD mit einer völlig unverfänglichen Ballon-Aktion in Misskredit bringen wollte. Ein echter Jahrhundert-Geniestreich des BfV (Bundesamt für Verfassungsschutz): Jahrzehntelang einen Schläfer in einer thüringischen Kleinstadt einschleusen, der dort arbeitet, eine Familie gründet, Kinder bekommt, sich in der Region zu einem bekannten Neonazi hocharbeitet, der AfD im Wahlkampf hilft, AfD-Veranstaltungen besucht und Plakate klebt. Zielgenau in exakt dem Landkreis, in dem Jahre später der erste AfD-Kandidat in ein öffentliches Amt gewählt wird. Die müssen Nostradamus im Keller sitzen haben, diese hellsehenden Tausendsassas.

Ob der Stichwahl-Gewinner am Ende wirklich seinen Posten antreten kann, ist nicht sicher. Das thüringische Innenministerium hat eine Prüfung seiner Demokratie- und Verfassungstreue angekündigt. Gesinnungsprüfungen gelten nicht als Schikane, denn im Gegensatz zu Abgeordneten sind Landräte Wahlbeamte. Offizielle Staatsdiener also, die der Verfassungstreue verpflichtet sind. Im Rahmen der Rechtsaufsicht ist es durchaus Aufgabe des Ministeriums, zu prüfen, ob ein Landrat mit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung vereinbar ist, wie es die Thüringer Kommunalwahlordnung vorschreibt.

Neben den intellektuellen Fallobst-Kommentaren anonymer Social-Media-Accounts erfreuen sich an der AfD-Landrat-Wahl auch die üblichen Gallionsfiguren der neuen Rechten. "Welt"-Chefreporterin Anna Schneider etwa würdigt den AfD-Sieg mit der bizarren Jubelarie: "Insofern ist Sonneberg super. So, rein erkenntnismäßig. Der Demokratie geht es nicht schlecht, sondern bestens – sie (ist) kein Wunschkonzert und bedeutet daher auch nicht, dass alle so wählen, wie man es gern hätte. Das beste Angebot gewinnt. Bühne frei." Und da muss ich ihr uneingeschränkt zustimmen. Wer erinnert sich nicht immer wieder gerne an das Jahr 1933, als Adolf Hitler einfach das demokratisch beste Angebot hatte? Bühne frei!

Oder auch der CSU-Rezo und nebenbei als Hobby-"Journalist" tätige Armin Petschner-Multari. Der Stammgast beim YouTube-Qualitätsformat "Stimmt!" mit dem Markus Lanz der Aluhutfraktion, Ralf Schuler als, na ja, "Moderator", stimmt nahtlos in diesen Tenor ein. Er stellt auf Twitter fest: "Alle Probleme lassen sich in der Regel auf Migration in verschiedenen Spielarten zurückführen." Wer hätte es gedacht? Die Ausländer sind an allem schuld! Sein Tweet wurde von Twitter anscheinend inzwischen übrigens aufgrund von "lokaler Gesetzgebung in Deutschland" gelöscht. Das muss man auch erst mal schaffen: Einen Tweet verfassen, der selbst Elon Musk zu rassistisch ist.

Mit diesem Mindset, wie man verirrtes Gedankengut bei Personen mit Mitteilungs-Neurose neudeutsch bezeichnet, ist ihm eine eigene "Welt"-Kolumne sicher. Obwohl es für den "Please Stärke FDP"-Verein im Grunde eigentlich etwas zu unterkomplex ist, einfach alle Missstände pauschal Migranten in die Schuhe zu schieben. Was Plitschplatsch-Maultaschi hier nämlich vergisst: An vielen dieser Missstände sind die Grünen schuld! Aber wenn es mal schnell gehen muss in den Kommentar-D-Zügen, die durch die Social-Media-Schlachtfelder rasen, darf man bei Feindbildern schon mal unvollständig bleiben. Ich bin sicher, bis kommende Woche ist das richtiggestellt und es wird wieder ausreichend auf Habeck und Baerbock rumgeritten. Ich werde das für Sie beobachten! Bis dann!

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