Elf Medaillen haben die deutschen Leichtathleten bei der EM in Rom geholt, auch gestützt durch einen starken Abschlusstag. Doch was kann man von den Titelkämpfen mitnehmen, auch im Hinblick auf Olympia? Wir haben mit dem früheren Zehnkämpfer Frank Busemann Bilanz gezogen.

Eine Analyse
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Das Beste kommt zum Schluss, heißt es. Zum Glück haben sich die deutschen Leichtathleten an diese Weisheit gehalten. Denn sonst wäre die EM-Bilanz eine traurige gewesen.

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Vor allem auf Malaika Mihambo war mal wieder Verlass. Europas neue Weitsprung-Königin bescherte dem Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV) am letzten Tag den so heiß ersehnten Titel, holte die einzige Goldmedaille. Vier weitere Medaillen waren es am Schlusstag, elf holten die deutschen Sportler insgesamt bei dieser EM in Rom, neben Gold dreimal Silber und siebenmal Bronze.

"Keine Jubelstürme, aber es ist auch nicht so ein Trauerspiel wie in Budapest."

Frank Busemann, ehemaliger Zehnkämpfer

"Der letzte Tag hat alles rausgerissen", sagt der frühere Zehnkämpfer Frank Busemann im Gespräch mit unserer Redaktion. Er hatte im Vorfeld auf zehn bis zwölf Medaillen gehofft, "und da sind wir genau rausgekommen. Von daher ist das Fazit ganz okay. Keine Jubelstürme, aber es ist auch nicht so ein Trauerspiel wie in Budapest. Daher haben wir alles nach Hause gebracht, was ging".

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Bei der WM in Budapest im vergangenen Jahr war das DLV-Team komplett ohne Medaille geblieben. Die Sorge war groß, dass es wieder ein Desaster geben könnte. Die EM war daher eine wichtige Standortbestimmung und es war Erleichterung zu spüren. Von Euphorie kann aber keine Rede sein, auch wenn es eine kleine Trendumkehr war.

Stärken und Schwächen aufgezeigt

Der EM-Abschlusstag habe gezeigt, welches Potenzial und welche Vielfalt in der deutschen Leichtathletik steckt, bilanzierte DLV-Sportvorstand Jörg Bügner laut "leichtathletik.de". "Die sechs Tage von Rom insgesamt haben uns Stärken und Schwächen aufgezeigt. Wir haben in bestimmten Bereichen einen Schritt nach vorn gemacht, in einigen Disziplinen jedoch nicht performt. Anhand der EM als Standortbestimmung können wir ablesen, woran es in Richtung Olympia in Paris noch zu arbeiten gilt. Die Erfolge vom Mittwoch geben uns für diese Aufgaben Rückenwind", sagte Bügner.

Rückenwind ist da, trotzdem ist die Bilanz insgesamt nicht mehr als solide. "Was mir bis zum letzten Tag gefehlt hat, waren die Ausreißer nach oben. Bei Europameisterschaften gewinnt man, indem man auch mal nach oben ausbricht und den unteren Bereich stabil hält", sagt Busemann, den es zum Beispiel gefreut hat, dass Majtie Kolberg über 800 Meter unter zwei Minuten gelaufen ist und dass die 4x400-Meter-Staffel eine Medaille gewonnen hat.

"Dass da mal Leistungen abgerufen werden, die außer der Reihe sind. Und genau das macht es ja auch aus, dass man am Abend nach Hause fährt und denkt: 'Boah geil, wo haben die das hergeholt?'", sagt Busemann. Hinten raus habe das endlich geklappt, sagte der 49-Jährige. "Aber man kann man sich nicht immer darauf verlassen, dass Malaika Mihambo wieder einen raushaut. Was sie immer wieder zeigt, ist hochgradig beeindruckend."

Dank ihrer Goldmedaille durch den zweitbesten Sprung ihrer Karriere auf 7,22 Meter landete Deutschland im Medaillenspiegel nach den 49 Entscheidungen auf Platz zwölf. In der Nationenwertung, in die die ersten acht Plätze einfließen, wurde Deutschland Dritter.

Ein paar Überraschungen hätten der Mannschaft gut zu Gesicht gestanden. Denn natürlich sind es vor allem die Medaillen, die zählen, die den Erfolg ausmachen. Doch zur Wahrheit gehört es auch, dass die Mannschaftsleistung abseits der ersten drei Plätze in Ordnung war. An einigen Stellen fehlte nicht viel, um die Bilanz entscheidend aufzuhübschen.

Oft nur knapp an den Medaillen vorbei

So lief zum Beispiel Gina Lückenkemper als Titelverteidigerin über 100 Meter nur auf Platz fünf. Zehnkämpfer Niklas Kaul, ebenfalls Titelverteidiger, verpasste als Vierter ebenfalls knapp eine Medaille, er sprach anschließend in der ARD vom besten schlechtesten Zehnkampf, den er je gemacht habe.

Und Kolberg lieferte eine gute Leistung ab, wurde aber eben auch "nur" Fünfte. Hammerwerfer Merlin Hummel schaffte es als Vierter mit persönlicher Bestleistung in die europäische Spitze, im Medaillenspiegel taucht das aber leider nicht auf. Auf der anderen Seite gab es zum Beispiel im Siebenkampf, Hochsprung und Diskus der Frauen unerwartete Enttäuschungen.

Ist das der Status Quo der deutschen Leichtathleten? "Ja, das spiegelt den Leistungsstand der deutschen Leichtathleten ganz gut wider, das ist ein ganz gutes Abbild der Mannschaft", sagt Busemann: "Dass wir Etablierte haben, dass wir Nachwuchskräfte haben, die sich noch entwickeln müssen. Die müssen wir suchen, pflegen und mit einer EM an internationale Wettkampfbedingungen heranführen". Denn auch darum geht es: Dass Athleten wie Kolberg und Hummel mit 24 und 22 die Zukunft noch vor sich haben.

Die große Frage: Wie viel Potenzial steckt in dieser Mannschaft? Busemann überlegt kurz und nennt Max Dehning als Paradebeispiel. Das Speerwurf-Talent blieb mit Platz zwölf hinter den eigenen Erwartungen, dem 19-Jährigen läuft sein Wurf über 90 Meter im Februar hinterher. "Er war mit einer sehr, sehr großen Leistung vorbelastet. Und da muss man aufpassen."

"Einen Wurf oder einen Wettkampf mal rauszuprügeln ist was anderes, als auf einem hohen Niveau das Ganze immer wieder abzurufen. Und er muss diese Zeit bekommen, dass er sich dahin entwickelt", sagt der ehemalige Top-Athlet, der das DLV-Gesamtpotenzial "als ganz okay" bezeichnet.

EM eine Durchgangsstation vor Olympia

Denn durch den Höhepunkt Olympia, der in gut sieben Wochen auf die Athleten wartet, war die EM eine Art Durchgangsstation, weil die Wettbewerbe mehr oder weniger aus dem Training heraus gemacht wurden, denn natürlich steht Paris im Fokus: "Aber es ist für alle Beteiligten eine ganz wichtige Veranstaltung gewesen, um unter scharfen Wettkampfbedingungen ans Eingemachte zu gehen", sagt Busemann. Bei Olympia müsse man nun eine Schippe drauflegen, fordert er.

Dafür werden in den kommenden Wochen die letzten Reize gesetzt. Eine nicht ungefährliche, aber ganz wichtige Phase. "Man darf sich nicht mehr verletzen, muss aber das Ganze trotzdem noch sehr, sehr intensiv bis zur Spitze treiben", erklärt Busemann. Die große Kunst dabei: "Sich so zu belasten, dass man mehr oder weniger an die Belastungsgrenze heran trainiert. Und dann kurz vorher dann eben runterfährt, dass man die letzten ein, zwei Wochen Däumchen dreht, ohne einzurosten."

Der letzte Feinschliff, der die letzten paar Prozentpunkte heraushole, "die wirklich eine exorbitante oder exponentielle Wirkung entfalten können", erklärt Busemann, beginne nun. "Ein Prozent mehr reinstecken erzeugt fünf Prozent mehr Output, wenn man es richtig macht", rechnet er vor.

Wie ist das Gefühl vor Olympia?

Doch das Niveau bei Olympia wird ein anderes sein, da neben der europäischen Konkurrenz auch die Weltelite mitmischen wird. Es wird daher darauf ankommen, das eigene Können abzurufen, um dann die Ausreißer nach oben zu schaffen, indem man die Stärken ausspielt und die Schwächen abstellt. Kurz gesagt: Zum Höhepunkt des Jahres sollten die Athleten auf dem Höhepunkt ihres Schaffens sein.

"Zwei, drei Medaillen sollten wir anstreben", sagt Busemann, der vorsichtigen Optimismus verspürt. Man müsse nicht über sechs, sieben, acht Medaillen reden, das sei vermessen. "Aber wenn zwei, drei Medaillen dabei herausspringen, dann wäre das im Rahmen. Und dass die Athleten - und das ist immer wichtig - ihre persönlich beste Leistung bringen. Denn dann haben sie alles richtig gemacht."

Über den Gesprächspartner

  • Frank Busemann hat als Zehnkämpfer 1996 in Atlanta Silber geholt, ein Jahr später bei der WM in Athen Bronze. Im Sommer 2003 trat er zurück.

Verwendete Quellen

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