In wenigen Tagen wird die Fußballweltmeisterschaft der Frauen 2023 in Australien und Neuseeland angepfiffen und der Ausgang des Turniers scheint so offen wie nie, denn viele Teams haben vor dem Start mit Problemen zu kämpfen.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Annika Becker (FRÜF) sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Der Traum vom dritten Titel in Folge: USA

Die Zielsetzung der USA ist klar: Das Three-peat muss her. Auf dem Weg zum dritten Titel in Folge muss sich das Team rund um Alex Morgan aber zum Teil neu finden, denn wichtige Spielerinnen wie Catarina Macario und Sam Mewis fehlen verletzt. Außerdem hat Superstar Megan Rapinoe bereits angekündigt, dass dies ihre letzte WM und NWSL-Saison sein werden. Deswegen stehen gleich vierzehn Spielerinnen im Kader, die zum ersten Mal bei einer Weltmeisterschaft dabei sind.

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So nominierte Trainer Vlatko Andonovski zum Beispiel die 22-jährige Angreiferin Sophia Smith und die 23-jährige Innenverteidigerin Naomi Girma. Von beiden wird erwartet, dass sie gleich zu Anfang wichtige Rollen übernehmen werden. Es ist auch nicht ausgeschlossen, dass die bereits erwähnte Morgan nicht immer starten wird, denn zuletzt machte Trinity Rodman (21) auf sich aufmerksam.

Auch wenn es beim Blick auf die Ergebnisse in den letzten Jahren nicht danach aussieht, war der Weg zur WM kein Selbstläufer. So wird immer wieder kritisiert, dass Andonovski keine richtige erste Elf gefunden hat und die ersten Halbzeiten meist gehemmt wirken, bis es dann nach der Pause durch Anpassungen und Wechsel wettgemacht wird. Spielerisch können die USA gegen sehr defensive Gegner limitiert wirken, aber wenn die Amerikanerinnen mit ihrer hohen individuellen Qualität und Physis schnell umschalten, ist es sehr schwierig sie zu verteidigen.

Zudem macht dem U.S. Women's National Team (USWNT) in Sachen Siegeswille so schnell kein Team etwas vor. Keine leere Floskel, denn 2019 waren die erfahrenen Spielerinnen im Team durch den Rechtsstreit mit dem eigenen Verband quasi zum Siegen gezwungen, um weitere Argumente für eine ausgeglichene Bezahlung zu sammeln – mit Erfolg.

Es wird endlich mal Zeit: Schweden

Die Schwedinnen werden gefühlt seit immer zumindest als Mit-Favoritinnen auf den WM-Titel gehandelt, haben diesen aber noch nie gewonnen. Am nächsten dran waren die Skandinavierinnen 2003 – doch Nia Künzer erzielte im Finale das berühmte Golden Goal für Deutschland.

Im Gegensatz zu anderen Nationen ist Schweden nicht allzu sehr von Verletzungssorgen geplagt, Hanna Glas fällt mit einem Kreuzbandriss aus und Fridolina Rolfö spielt seit Wochen trotz eines angeschlagenen Knies, das ohne richtige Pause nicht ausheilt und fährt trotzdem zur WM.

Davon abgesehen aber sind alle Spielerinnen fit. Trainer Peter Gerhardsson legt sehr viel Wert auf Erfahrung, dementsprechend ist der Kader auch dieses Mal wieder einer der älteren dieses Turniers. Das bringt mit sich, dass das Team mit die meisten Länderspiele vorweisen kann.

Da sich die Spielerinnen und auch der Trainer sehr gut kennen, ist das Spiel sehr gefestigt, sehr sicher. Das Mittelfeldpressing dürfte bei dieser WM nur von wenigen zu knacken sein. Nach vorne fehlt aber manchmal die Durchschlagskraft, es hängt viel von der Form von Rolfö, aber auch Kosovare Asllani und Stina Blackstenius ab.

Nach dem EM-Sieg das große Ziel vor Augen: England

Verletzungen sind eines der großen Themen dieser WM und betreffen auch den Europameister stark. Mit Beth Mead, Leah Williamson und Fran Kirby fehlen gleich drei Spielerinnen, die im vergangenen Sommer wichtig waren. Ellen White und Jill Scott haben ihre Karrieren beendet. Das zwingt Sarina Wiegman dazu, ihre eigentlich in Stein gemeißelte Startelf zu verändern und auch neue Wechseloptionen zu finden.

In der Vorbereitung probierte die niederländische Erfolgstrainerin deshalb verschiedene Optionen aus – und manches ist zumindest für die Öffentlichkeit noch offen, zum Beispiel, wer in der Startelf im Sturm auflaufen wird. Möglich ist, dass Alessia Russo von der ersten Wechseloption zur Starterin befördert wird, aber auch Rachel Daly macht sich Hoffnungen, nicht mehr als Außenverteidigerin eingesetzt zu werden.

Im Mittelfeld hält Keira Walsh weiterhin alle Fäden in der Hand und ist nach ihrem Wechsel zum FC Barcelona im vergangenen Sommer zu einer noch kompletteren spielenden defensiven Mittelfeldspielerin gereift. Neben ihr auflaufen wird Bayern Münchens Georgia Stanway, der dritte Platz im Mittelfeld ist weniger fest und sollte einer der beiden vorher genannten ausfallen, fehlt es dem Kader hier an Tiefe.

In der Defensive kommt Alex Greenwood durch den Ausfall von Williamson die wichtige Aufgabe zu, die Abwehr zu organisieren und das Spiel von hinten zu eröffnen. Neue Kapitänin ist Millie Bright.

Klar ist: Wenn Sarina Wiegman ihr Team erst einmal gefunden hat, ist es nur sehr schwer, sie und ihre Spielerinnen aus dem Tritt zu bringen. Bei den letzten Tests sah es aber noch nicht so aus, als sei diese Phase bereits abgeschlossen. Zudem könnte es bereits sehr früh im Viertelfinale ein Aufeinandertreffen mit Deutschland geben und Stand jetzt gäbe es in dieser Partie keinen eindeutigen Favoriten.

Mit neuer Harmonie nach Down Under: Frankreich

Jahrelang gab es immer wieder Ärger um Ex-Trainerin Corinne Diacre. Anfang des Jahres traten dann wichtige Spielerinnen zurück, Kapitänin Wendie Renard sprach davon, einen Verbleib in der Nationalelf nicht mit ihrer mentalen Gesundheit vereinbaren zu können. Diacre ist nun Geschichte und an ihrer Stelle kommt mit Hervé Renard jemand auf den Posten, der bei der WM der Männer in Katar mit Saudi-Arabien überzeugte.

Für die Stimmung scheint das ein großes Plus zu sein, das Team kann sich wieder mehr auf den Fußball konzentrieren. Mit dem läuft es noch nicht ganz so rund und auch hier liegt das zum Teil an Verletzungen wichtiger Spielerinnen, allen voran Top-Stürmerin Marie-Antoinette Katoto, Delphine Cascarino, Griedge Mbock und seit ein paar Wochen auch noch Amandine Henry – die erst unter Renard nach ihren Differenzen mit Diacre ins Team zurückgekehrt war.

Der neue Cheftrainer hat selbst keine Erfahrung im Fußball der Frauen und kennt daher weder seine eigenen Spielerinnen noch die der Gegner gut. Abhilfe verschaffen soll Co-Trainer Éric Blahic, der zeitweise bereits unter Diacre das Amt innehatte.

Frankreichs Kader ist trotz der Ausfälle mit herausragenden Spielerinnen besetzt. Die Frage wird sein, ob Renard früh genug ins Amt gekommen ist und sich taktisch darauf einstellen kann, dieses Mal keinen Underdog zu trainieren.

Mit Heimvorteil und viel Hoffnung: Australien

Den Co-Gastgeber hatte lange Zeit kaum jemand ernsthaft auf dem Zettel für einen möglichen Titelgewinn, aber durch die jüngsten Ergebnisse und die allgemeine Stimmung wendet sich das Blatt. Kurz vor Anpfiff des Turniers gab es zum Beispiel noch ein Testspiel gegen Frankreich mit einem 1:0-Sieg vor 50.629 Zuschauenden – dieser neue Rekord wird aller Voraussicht nach beim Auftaktspiel gegen Irland am 20. August gebrochen werden.

Die aktive Fanszene des australischen Fußballs der Frauen ist im Vorlauf zur WM sehr herzlich darin, alle neu hinzukommenden Fans zu empfangen und hat schon Videos mit den wichtigsten Liedtexten ins Internet gestellt.

Normalerweise wäre damit zu rechnen, dass in Australiens Gruppe B die Kanadierinnen den ersten Platz in der Tabelle einnehmen. Diese sind aber durch den Streit mit dem eigenen Verband gerade nicht bei hundert Prozent und haben zwar eine starke Defensive, aber auch Schwierigkeiten selbst Treffer zu erzielen.

Sollte Australien es irgendwie schaffen vorbeizuziehen, winkt einer der vermeintlich einfacheren Wege durch den Turnierbaum. Ein weiteres Argument ist die Balance: Den Australierinnen ist es nach einer schwachen Phase gelungen, nur sehr wenige Gegentore in Partien auf Augenhöhe zu kassieren und selbst über Sam Kerr torgefährlich zu sein.

Kanada, Spanien, Brasilien … und Deutschland

Das Feld ist dieses Jahr so eng, dass es schwer ist, alle Länder ausführlich zu betrachten. Bleiben wir bei Kanada: Auch das Team rund um Christine Sinclair sollte niemand abschreiben. Der Vorteil einer sattelfesten Defensive ist bei einem Turnier sehr viel wert und Bev Priestman ist als Trainerin fähig, sich für die Offensive noch etwas einfallen zu lassen.

Eine Überraschung in dieser Kategorie sind nach all dem Ärger zwischen Teilen des Teams, Trainer und Verband die Spanierinnen. Trainer Jorge Vilda fehlen ein paar der besten Spielerinnen des Landes, weil sie nicht mehr unter ihm auflaufen wollen.

Ob er aus der EM gelernt hat und mit dem verbliebenen Kader weniger stur umgeht? Zumindest schien es in den Testspielen einen Formvorteil gegenüber der Konkurrenz zu geben – das kann sich durch die Spielpraxis in der Gruppenphase aber auch wieder legen.

Bei den Brasilianerinnen hat Marta bereits angekündigt, dass dies ihre letzte WM sein wird und vermutlich geht sie nach mehreren Verletzungen auch nicht als Startspielerin ins Turnier. Trainerin Pia Sundhage hat aber dennoch einen exzellenten Kader beisammen und eine disziplinierte Defensive auf die Beine gestellt. Die Offensive ist bei all den technisch versierten Spielerinnen sowieso immer eine Gefahr, auch wenn das Spiel manchmal eindimensional gerät.

Dann wäre da noch Deutschland. Die Testspiele zum Vorlauf der WM waren nicht berauschend, es gibt ein paar klare Problemzonen taktischer Natur und auch Trainerin Martina Voss-Tecklenburg fehlen wichtige Spielerinnen in Giulia Gwinn und Linda Dallmann.

Ein Sicherheit ausstrahlender Vorlauf zu einem großen Turnier sieht anders aus, aber wie aus den anderen Beschreibungen hervorgeht, ist Deutschland längst nicht das einzige Team, bei dem vor der WM nicht alles so läuft, wie es sollte. Vor der EM vergangenes Jahr war mehr Zeit als jetzt, das Ruder noch herumzureißen, aber es gibt einen großen Zusammenhalt im Team und das Wissen, dass es schon in der Vergangenheit nach einer solchen Phase trotzdem gute Turniere gab.

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