Deutschland scheitert im EM-Halbfinale weniger am Gegner Frankreich als an sich selbst. Zu viele Fehler, ein bisschen Pech und jede Menge Unvermögen verhinderten einen erneuten Finaleinzug. Der DFB ist jetzt gefordert, endlich seine Problemzonen zu beheben. Hier ist die Konkurrenz der deutschen Mannschaft nämlich noch voraus.

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Wenn man die Quintessenz des Halbfinals von Marseille begreifen will, genügt im Prinzip ein einziger Satz. "Das zweite Tor: Ich hoffe auf den Fehler des Torhüters und lauere. Dann lag der Ball plötzlich vor meinen Füßen." Und danach im Tor.

Antoine Griezmann war der entscheidende Unterschied zwischen der deutschen und der französischen Mannschaft. Sein Instinkt und seine Kaltschnäuzigkeit auf der anderen Seite - und Deutschland hätte diese Partie wohl souverän gewonnen.

So hat die DFB-Auswahl das Halbfinale der Europameisterschaft aber verloren. Aus der Traum vom Double und vielleicht auch das Aus in der Nationalmannschaft für den einen oder anderen altgedienten Haudegen.

Das Scheitern ist umso ärgerlicher, da Deutschland an diesem heißen Abend von Marseille den besseren Fußball gespielt hat - sich am Ende aber ein paar unglückliche Momente zu viel leistete. Und am eigenen Unvermögen scheiterte.

Müller nicht zu sehen

Streng genommen konnten in der viel gelobten Offensive nur Mesut Özil und Toni Kroos ihre Leistung abrufen. Julian Draxler wirkte gegen die körperlich überlegenen Franzosen manches Mal so verloren wie ein begabter A-Jugendlicher in seinem ersten Spiel im Seniorenbereich. Und Thomas Müller? Bis zuletzt hatten der Bundestrainer und die Mitspieler die Hoffnung gehegt, dass der "alte" Müller endlich in Frankreich ankommen möge.

Wie überspielt und außer Form sich Müller aber gegen Frankreichs Innenverteidigung abmühte, wie er jedes Mal wieder einen Schritt zu spät kam und von der gewohnten Handlungsschnelligkeit überhaupt nichts zu sehen war, zeigte sich auf schmerzhafte Weise. Nicht selten konnte man sogar Mitleid haben mit Müller, der sich mühte und reinarbeiten wollte. Aber dem einfach nichts gelang.

Die Diskussionen um die deutschen Problemzonen im Angriff und auf den Außenverteidigerpositionen schienen verebbt. Aber ein paar ordentliche Auftritte von Joshua Kimmich und ein verwandelter Elfmeter von Jonas Hector wollten die Franzosen nicht beeindrucken. Im Spiel sah das dann so aus, dass eine Flanke nach der anderen geblockt wurde oder zu ungenau geschlagen war. Die erste vernünftige Hereingabe wurde in der Nachspielzeit registriert, vom Innenverteidiger Shkodran Mustafi.

Und im Zentrum wurde Mario Gomez sehnlichst vermisst. Der Gomez, der jahrelang der Sündenbock für Teile der Fans war und von dem man nicht so recht wusste, wie seine Tore in der türkischen Süperlig einzuschätzen sind. Gomez fehlte gegen Frankreich mehr als Mats Hummels oder Sami Khedira. Und das bringt das Dilemma wohl am ehesten auf den Punkt.

Deutschland sichtlich angeschlagen

Deutschland zeigte sich auch gegen die Franzosen im Spielvortrag als beste Mannschaft des Turniers. Trotz französischer Dauer-Defensive erspielte sich die Mannschaft fünf, sechs sehr brauchbare Gelegenheiten. Aber es war keiner da, der den Ball auch mal über die Linie stolperte. So wie es Müller schon oft genug gelungen ist. Und so wie es Griezmann auf der Gegenseite wie selbstverständlich gelang.

"Was die individuelle Qualität anbelangt, sind die Deutschen die beste Mannschaft des Turniers. Und das trotz der Ausfälle gegen uns", sagte Frankreichs Trainer Didier Deschamps. Es waren geschmeichelte Worte, denn die gesperrten oder verletzten Spieler hätten der deutschen Mannschaft doch eine völlig andere Farbe verliehen.

Die Verlierer hatten sichtlich mehr Probleme, eine klare Analyse zu formulieren. "Wir haben besser gespielt als der Gegner, wir waren feldüberlegen. Ich glaube, dass wir ein Klassespiel gemacht haben. Die Mannschaft ist dominant aufgetreten", sagte Joachim Löw. "Aber: Wir haben kein Tor gemacht, alle Spieler sind riesig enttäuscht. Wir hatten heute nicht das Glück auf unserer Seite. Ich kann keinem einen Vorwurf machen."

Löw war wie seine Spieler sichtlich gezeichnet von dem, was da zuvor passiert ist. So richtig begreifen konnte keiner der Protagonisten das Aus, selbst der sonst so nüchterne und gefasste Teammanager Oliver Bierhoff war regelrecht konsterniert. "Wir haben die Franzosen beherrscht und dominiert. Eigentlich hätte man von den Spielanteilen das Spiel gewinnen müssen. Man hat zum Schluss gesehen, irgendwie sollte der Ball heute nicht rein. Die Franzosen waren am Ende glücklicher."

Probleme in der Ausbildung

Aber eben nicht nur das. Frankeich leistete sich selbst genügend Fehler, konnte diese aber immer wieder kaschieren oder sich auf die deutsche Schwäche im Abschluss verlassen. Den Gastgebern unterliefen aber nicht vier Fehler innerhalb von zehn Sekunden, wie den Deutschen vor dem vorentscheidenden 2:0 durch Griezmann. Und auch kein erneutes, vermeidbares Handspiel im Strafraum, das einen berechtigten Elfmeter nach sich zog und damit das 1:0.

Dass dann auch Pech dazu kam, etwa bei Kimmichs Pfostenschuss, beim Ausfall von Jerome Boateng, und ein Schiedsrichter, der beim Elfmeter richtig lag, ansonsten aber in vielen kleinen Szenen keine Linie hatte: geschenkt. Deutschland ist raus, Frankreich steht im Finale. Ähnlich wie die Verlierer wussten wohl auch die Gewinner nicht so recht, warum sie jetzt das Finale spielen dürfen.

Deshalb flüchteten sich die Spieler in der Analyse auch in Allgemeinplätze. "Das ganze Land steht hinter uns. Das war sehr viel Arbeit, die wir geleistet haben. Alle haben sich voll ins Zeug gelegt. Wir haben immer an unser Team geglaubt", sagte Griezmann, der natürlich zum Spieler des Spiels gewählt wurde. Vielleicht wird er ja auch noch der Spieler des Turniers, die Chance dazu bietet sich ihm im direkten Vergleich mit Cristiano Ronaldo und den Portugiesen.

Löw ist nicht das Problem

Für Deutschland beginnen die Aufräumarbeiten und es gab erste zaghafte Blicke in die Zukunft. Joachim Löw hat beim DFB noch einen Vertrag bis zur WM 2018. Das ist das nächste große Ziel, den Confed Cup im kommenden Jahr wird die Nationalmannschaft wohl im Vorübergehen bestreiten. Mit Löw auf der Bank? Der Bundestrainer ließ - wohl in der ersten Enttäuschung - nach dem Spiel ein klares Bekenntnis dafür aus. "Ich gehe davon aus, dass es so weitergeht", sagte immerhin noch Manager Bierhoff.

Die Trainerposition ist auch nicht das Problem, das hat der Abend in Marseille wieder gezeigt. Der DFB sollte aber die Anstrengungen intensivieren und endlich Außenverteidiger und vor allen Dingen Angreifer wieder positionsspezifisch ausbilden.

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