Cristiano Ronaldo ist einer der besten Fußballspieler aller Zeiten, befindet sich aber bereits in seinem 40. Lebensjahr. Ist er für die portugiesische Nationalmannschaft ein Torgarant oder eher ein Hindernis? Die Meinungen gehen auseinander.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Oliver Jensen sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Cristiano Ronaldo steht immer im Mittelpunkt. Als die portugiesische Nationalmannschaft in der vergangenen Woche am Teamhotel in Marienfeld ankam, warteten dort rund 6000 Fans. Das Gekreische war besonders groß, als Ronaldo aus dem Bus stieg und Richtung Hotel ging.

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Vor genau 20 Jahren, bei der Europameisterschaft in Portugal, spielte Ronaldo sein erstes Großturnier und wurde zum Weltstar. Der Rummel um seine Person nahm bis heute nicht ab. Dennoch stellt sich angesichts seines Alters von 39 Jahren die Frage: Wie gut ist Ronaldo wirklich noch?

Nationaltrainer Roberto Martinez lässt keine Diskussionen aufkommen. "Cristiano ist ein sehr wichtiger Spieler und ein sehr wichtiger Kapitän für uns. Er spielt nach wie vor auf einem Top-Level, und er ist sehr wichtig für unsere jungen Spieler dank seiner Erfahrung. Er hilft ihnen ständig weiter."

Ronaldo verteidigt fußballerisches Niveau in Saudi-Arabien

Ronaldo spielt nicht mehr in einer europäischen Top-Liga, sondern wechselte im Januar 2023 nach Saudi-Arabien zu Al-Nassr. Dort ist er weiterhin sehr effektiv. In 64 Pflichtspielen gelangen ihm 58 Tore und 15 Vorlagen. Doch was für eine Aussagekraft hat das? Ronaldo verteidigt das Niveau der saudischen Liga: "Die Saudi League ist nicht schlechter als die (französische) Ligue 1. Die saudische Liga ist sogar konkurrenzfähiger als die Ligue 1."

Für den Nationaltrainer spielt die Ligazugehörigkeit von Ronaldo keine entscheidende Rolle: "Es hat jeden überrascht, als Cristiano vor einem Jahr für sich entschied, nach Saudi-Arabien zu gehen, ein neues, großes Projekt anzunehmen. Für mich ist jedoch die Leistung entscheidend. Und die ist gut von ihm. Er ist weiterhin einer der Top-Scorer im Welt-Fußball."

Matthäus: "Portugal ist nicht mehr abhängig von Ronaldo"

Ronaldo ist mit 14 Treffern der beste EM-Torschütze aller Zeiten, hat mit 25 Einsätzen die meisten EM-Spiele absolviert und die meisten Einsatzminuten (2153). Und doch stellt sich die Frage, ob Ronaldo die Mannschaft wirklich noch besser macht.

"Er schießt nach wie vor viele Tore, auch wenn seine ganz große Zeit vorbei ist", sagte Lothar Matthäus in einem auf Youtube veröffentlichten Interview von der DVAG. "Ronaldo ist nach wie vor das Gesicht der portugiesischen Nationalmannschaft. Aber die portugiesische Nationalmannschaft ist nicht mehr abhängig von Ronaldo. Sie haben sehr viele gute Spieler, auch in der Breite gesehen."

Zehn Tore in der EM-Qualifikation

Einerseits schoss Ronaldo in der EM-Qualifikation zehn Tore und belegte somit in der Torschützenliste Rang 2 hinter dem Belgier Romelu Lukaku (14 Tore). Andererseits hat Portugal in einigen Spielen bewiesen, ohne Ronaldo bestens zurechtzukommen. Das 5:2 im März gegen Schweden oder das 4:2 im Juni gegen Finnland waren Beispiele dafür. Auch der höchste Sieg in der EM-Quali, das 9:0 gegen Luxemburg, gelang ohne den damals gelbgesperrten Ronaldo.

Kritische Stimmen bemängeln, dass das Spiel von Portugal mit Ronaldo ausrechenbarer ist. Er ist längst nicht mehr so explosiv wie in früheren Jahren, fordert aber dennoch trotz besser positionierter Mitspieler vielfach die Bälle. Zudem würde er defensiv kaum mitarbeiten und die Mitspieler somit im Stich lassen.

Spielt Portugal ohne Ronaldo flüssiger und intensiver?

Der Sportreporter Joao Paiva von "CNN Portugal" sagte gegenüber dem Fußballmagazin: "4-4-2": "Viele Leute in Portugal haben das Gefühl, dass das Spiel ohne Ronaldo begann, flüssiger und intensiver zu werden. Es wuchs das Gefühl, dass es an der Zeit wäre, zur Seite zu treten und jüngere Spieler wie Goncalo Ramos scheinen zu lassen. Er war ein herausragender Spieler für unser Land – der Beste in der Geschichte –, aber einige sahen in der WM 2022 den richtigen Zeitpunkt zum Aufhören."

Bei der WM 2022 erreichten die Portugiesen das Viertelfinale, ehe sie mit 0:1 gegen Marokko verloren. Ronaldo gelang lediglich im ersten Spiel beim 3:2 gegen Ghana ein Tor. In den beiden K.o.-Spielen verlor er seinen Stammplatz und wurde lediglich in der Schlussphase eingewechselt. Trainer war damals noch Fernando Santos, dessen Vertrag nach dem Turnier aufgelöst wurde.

Nachfolger Martinez hatte die Wahl, entweder einen Neuanfang auszurufen oder weiterhin auf den alternden Ronaldo zu setzen. Er entschied sich für letztere Variante. "Als ich ihn traf, sah ich einen Spieler, der bereit war, weiterhin alles für die Nationalmannschaft zu geben. Er ist engagiert und stellt sich in den Dienst der Mannschaft. Er hat schon alles gewonnen, und doch war ich von seiner Bescheidenheit überrascht."

"Wir dürfen nicht zu abhängig von Ronaldo sein"

Bernardo Silva über das Gleichgewicht in der portugiesischen Mannschaft.

Für die Mitspieler ist Ronaldo vielfach ein Idol, zu dem sie bereits in der Kindheit oder Jugend aufblickten. Allerdings gibt es auch differenzierte Aussagen. "Wenn man einen Spieler wie Cristiano hat, ist es nur natürlich, dass man manchmal für ihn spielt", wird sein Nebenmann Bernardo Silva vom "kicker" zitiert. Aber er sagt auch: "Wir dürfen nicht zu sehr von ihm abhängig sein, denn das kann die Dynamik der Mannschaft zerstören. Nur wenn wir ein gutes Gleichgewicht im Team haben, ist Cristiano für uns eine starke Waffe."

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Einer der größten Kritiker von Ronaldo ist der frühere Profi Frank Leboeuf, der 1998 und 2000 mit Frankreich Welt- und Europameister wurde. Für den früheren Abwehrspieler ist Portugal "einer der Favoriten auf den EM-Sieg. Aber nur, wenn Ronaldo nicht spielt."

Ronaldo selbst wird das Gegenteil beweisen wollen. Am besten gleich zum ersten EM-Vorrundenspiel gegen Tschechien am Dienstagabend (21 Uhr).

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