​​Deniz Undav fällt gerne aus der Norm. Früher war das ein Problem und hätte ihn beinahe den Traum von der Profikarriere gekostet. Heute ist das vielleicht eine seiner größten Stärken überhaupt - die ihn vergleichbar macht mit seinem Bruder im Geiste bei der Nationalmannschaft.​

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Stefan Rommel sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Ein Energy-Drink und zwei Schokoschnitten: Das muss einfach sein für Deniz Undav, bevor es auf den Platz geht. Das war schon früher so, als Undav noch als Amateurspieler über die Bezirkssportanlagen getingelt ist und das ist es auch noch heute, wenn er vor 60.000 Zuschauern im Stuttgarter Neckarstadion in der Bundesliga spielt.

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In der durchoptimierten Welt des Profi-Fußballs mit seiner 24-Stunden-Rundum-Überwachung der Spieler, mit Kältekammern und Schlafzelten zur besseren Regeneration und teilweise strikten Ernährungsplänen für die Spieler ist das dann doch eher ungewöhnlich. Wie so einiges im Leben und in der Karriere von Deniz Undav.

Von den Niederungen der Regionalliga Nord bis hinein in die Champions League und den Kader der deutschen Nationalmannschaft für die Europameisterschaft im eigenen Land: Das beschreibt die wundersame Reise des 27-Jährigen im Schnelldurchlauf. Undav hat einen zweiten und dritten Bildungsweg genommen, um dort zu landen, wo er schon immer hin wollte.

Und vielleicht sind es diese vielen Umwege, verbunden mit einigen herben Tiefschlägen, die Undav zu dem machen, was er beim VfB Stuttgart und im Kreis der Nationalmannschaft ist: eine Ausnahmeerscheinung.

Undav fällt aus der Norm

Werder Bremen hat ihn vor zehn Jahren aus seinem Nachwuchsleistungszentrum quasi rausgeworfen. Undav entsprach weder körperlich noch in seinem Auftreten, vor allen Dingen abseits des Platzes, der gewünschten Norm. Ein bisschen zu pummelig war er damals, die Softdrinks und sein Lieblingsgetränk Eistee waren ein Problem. Ein ordentlicher Lebenswandel war nicht so wichtig, die Schule auch nicht.

In Leistungszentren wird aber auch darauf penibel geachtet, also war Undavs Reise in Bremen mit 15 Jahren schon beendet. SC Weyhe, TSV Havelse, Eintracht Braunschweig II, SV Meppen, Union Saint-Gilloise, Brighton & Holve Albion und nun eben Stuttgart: Die Stationen seines Aufstiegs sind so unterschiedlich wie ungewöhnlich.

Wenig ist auf dem Weg in die Bundesliga stromlinienförmig verlaufen wie bei den meisten seiner Mitstreiter beim VfB oder in der Nationalmannschaft. Jeder seiner Mitspieler ist ein Produkt der DFB-Nachwuchsförderung und eines Nachwuchsleistungszentrums, ihre Karrieren verliefen fast immer wie am Reißbrett entworfen und vorgeplant.

Undav dagegen hat sich aus dem sprichwörtlichen Nichts nach oben gekämpft. Kaum überraschend, dass er sein Bundesligadebüt erst im Alter von 27 Jahren gefeiert hat. Seine DFB-Offensivkollegen Florian Wirtz, Kai Havertz oder Jamals Musiala waren 17, als sie das erste Mal in der Bundesliga auflaufen durften. Sein Bruder im Geiste, Thomas Müller, war 18.

Parallelen zu Müllers Spiel

Von Müller - 707 Pflichtspiele für die Bayern, 129 Länderspiele für Deutschland; Weltmeister, zweimaliger Champions-League-Sieger und zwölfmal deutscher Meister - trennen Undav Lichtjahre. Und doch sind sich die beiden sportlich wie auch als Menschen ziemlich ähnlich.

Wie Müller hat Undav ein untrügliches Gespür für Raum und Zeit. Scheinbar teilnahmslos schleicht er oft über den Platz, sondiert aber schon längst die Lage: Wo könnte gleich ein Raum aufgehen, wie ist die Position zum Ball, zu den Mitspielern und vor allen Dingen auch zu den Gegenspielern? Ist der Moment gekommen, wo er für den Bruchteil einer Sekunde aus deren Blickfeld gerät, ist Undav da.

Mit dieser Bauernschläue hat Müller einst Louis van Gaal auf Anhieb überzeugt und sich in die absolute Weltspitze katapultiert. In der Nationalmannschaft ist diese Fähigkeit seit nunmehr 14 Jahren gefragt. Müller wird im Herbst 35, womöglich ist für den Münchener nach der EM Schluss im DFB-Team. Der Nachfolger stünde in Undav nun aber schon parat.

Undav hat eine Schwachstelle in eine Stärke gewandelt

Dem fehlt zwar Müllers Erfahrung und auch diese Selbstverständlichkeit, Siege und Titel zu erringen. Dafür ist Undav mit beiden Füßen fast gleich abschlussstark und hat ausgerechnet eine ehemalige Schwachstelle in eine seiner größten Waffen verwandelt: Kaum ein anderer Spieler setzt seinen Körper so geschickt ein wie Undav.

Der bleibt im Zweikampf auch gegen deutlich größere Gegenspieler stabil und agiert schlau bereits vor der Ballannahme, wenn er sich mit einem kleinen Rempler den nötigen Platz und die bessere Stellung zum Ball verschafft. Vieles erinnert in diesen kleinen Momenten an einen anderen Müller: Gerd, den Bomber der Nation.

Vergleichen würde er sich mit dem besten aller deutschen Torjäger zwar nicht. Aber am nötigen Selbstbewusstsein mangelt es Undav dann auch nicht: "Vor dem Tor bin ich gefühlt in jeder gefährlichen Situation dabei. Ich kann gefährliche Pässe spielen. Ich versuche, in jeden Zweikampf gehen und meinen Körper dafür aufs Spiel zu setzen."

Unter anderem so hat er in Stuttgart aus der Frage "Guirassy oder Undav?" einfach ein "Guirassy und Undav" gemacht. Das kongenialste Duo in der Geschichte des VfB.

Undav und Müller: "Wir verstehen uns super"

Julian Nagelsmann konnte den Spieler nach 28 Scorerpunkten aus 30 Bundesligaspielen kaum noch übersehen und weiß den Stuttgarter auch im DFB-Team gewinnbringend einzusetzen: Als eine Mischung aus Mittelstürmer und Zehner, als Torjäger ebenso wie als Regisseur oder ganz profan als Wühler und einer, der immer noch eine überraschende Idee hat.

Und weil Deniz Undav so ein umgänglicher Charakter ist und ein echter Stimmungsaufheller in der Kabine, ist sein Wert für die deutsche Mannschaft gar nicht hoch genug einzuschätzen. Spieler wie der Alterspräsident Müller und der Frischling Undav bilden den nötigen Kitt innerhalb einer Truppe, die nun im besten Fall sechs oder sieben Wochen am Stück zusammen sein wird.

Früher waren Bastian Schweinsteiger, Kevin Großkreutz oder Lukas Podolski dafür "zuständig", die Laune in der Gruppe hochzuhalten. Nun fällt das mitunter auch Deniz Undav zu; ohne, dass er dabei eine Rolle spielen soll. "Poldi ist Poldi und ich bin der Deniz. Ich mache mein eigenes Ding. Wir werden beide in eine gewisse Schublade gesteckt - womöglich wegen unserer Sprüche. Aber wenn man uns kennenlernt, merkt man hoffentlich: Da ist mehr dahinter", hat Undav neulich in einem Interview mit der "Bild am Sonntag" erzählt.

Und dann auch noch über sein spezielles Verhältnis zu Thomas Müller gesprochen. "Wir verstehen uns super. Wir sind uns ja schon ähnlich: Wir lieben es, mit Spaß Fußball zu spielen, machen gerne Sprüche und reißen Witze. Ich glaube, es gibt für eine Mannschaft nichts Besseres, als wenn die Chemie stimmt und man sich auch mal einen lockeren Spruch drücken kann."

Deniz Undav: Straßenkicker mit dem Herz am rechten Fleck

Deniz Undav ist ein Straßenkicker mit dem Herz am rechten Fleck. Das dürfte jeder bestätigen, der irgendwann einmal mit ihm zu tun hatte. Das hat ihn nun auch in der Gunst der deutschen Fans ganz weit nach oben gespült. Undav fällt auf und kommt an. Die Europameisterschaft im eigenen Land ist die maximal große Chance, das nun auch der breiten Öffentlichkeit außerhalb der Bundesliga-Blase zu zeigen.

Dass man auch als Nationalspieler und jemand, der sehr ordentliches Geld damit verdient, trotzdem noch ein ganz normaler Typ sein kann. Der Deniz von nebenan, einer von uns. Und vielleicht bald ein neuer Held? "In Richtung Fußball-Deutschland: Wir werden Europameister!", hat Deniz Undav vor ein paar Tagen laut "Eurosport" schon mal angekündigt. "Und an Thomas Müller: Wenn wir Europameister werden, dann rasiere ich dir eine Glatze!"

Verwendete Quellen:

Vizemeister Undav neckt Müller: "Der hört einiges von mir"

Bayer Leverkusen und der VfB Stuttgart führten in der Bundesliga-Saison die Tabelle an – und stellen laut Deniz Undav daher auch die "stärksten" Blöcke im DFB-Team. Torwart Alexander Nübel erinnerte sich derweil an die WM 2014. Damals war auch Thomas Müller dabei, der laut Undav erstmal "leise bleiben" sollte.
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