Bürgergeld- und Ausreisedebatten nehmen weiter zu – aktuell geraten ukrainische Schutzsuchende in die Kritik. Was hat es damit auf sich?

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Rebecca Sawicki sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

"Die Debatte über die widerrechtliche Rückführung geflüchteter Ukrainer*innen offenbart die groteske Ahnungslosigkeit in Teilen der Union über die Kriegsrealität der Ukraine", sagt Robin Wagener (Grüne).

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Der Vorsitzende der deutsch-ukrainischen Parlamentariergruppe ärgert sich über die Forderung von CSU-Politiker Alexander Dobrindt, "arbeitsunwillige" Ukrainer zurückzuschicken. Das wird in Wageners Antwort auf eine Anfrage unserer Redaktion schnell deutlich. "Grund für die Flucht aus der Ukraine sind Putins Bomben und nicht der deutsche Sozialstaat."

Seit über zwei Jahren dauert der russische Angriffskrieg nun an. © IMAGO images/SOPA Images/Volha Shukaila

Wenn auf dem Rücken von Kriegsopfern AfD-Populismus kopiert werde, sei das bestürzend, stellt der Grünen-Politiker klar. Die Geflüchteten aus der Ukraine hätten durch EU-Recht abgesicherte Schutzansprüche innerhalb der EU. Die Aufnahme der Schutzsuchenden in den Bürgergeldbezug habe deutsche Kommunen bürokratisch und finanziell entlastet.

Union und FDP fordern Anpassung des Bürgergelds für Ukrainer

Zum Hintergrund: Mehr als eine Million geflüchtete Ukrainer haben bisher in Deutschland Schutz gesucht. Gemeinsam mit Parlament und Ländern hat die deutsche Regierung dafür gesorgt, dass Schutzsuchende aus der Ukraine möglichst unkompliziert Hilfe bekommen. Ein Weg, die auch von der EU eingeschlagen wurde.

Ukrainer hätten so einen direkten Anspruch auf einen Aufenthaltstitel und müssten nicht wie andere Asylsuchende abwarten, lautete die Begründung der Regierung. Demnach dürfen geflohene Ukrainer in Deutschland arbeiten – oder sie haben Anspruch auf Bürgergeld. Genau das sorgt jetzt für Kritik.

Der Union wirft Wagener vor, eine Mehrbelastung in Kauf zu nehmen, indem sie die vereinfachte Ukraine-Hilfe zurücknehmen wolle. Klar sei aber auch: "Diese taktisch inszenierte Neid-Debatte findet aber weder Anklang in den Reihen der konservativen Außenpolitiker noch in den unionsgeführten Ländern. Einzig Putin applaudiert." Wer sich ernsthaft mit der Ukraine beschäftige, wisse, "dass es wegen der russischen Luftangriffe in der Ukraine keinen einzigen sicheren Quadratzentimeter gibt".

Sowohl die FDP als auch die Union fordern aktuell, den Schutzsuchenden das Bürgergeld zu kürzen – CSU-Politiker Dobrindt will arbeitsunwillige Ukrainer zurückschicken. Der Vorwurf: Wegen des Bürgergelds hätten die Schutzsuchenden nicht genug Anreiz, eine Beschäftigung aufzunehmen.

Das sehen andere Mitglieder der Union offenbar ähnlich. So erklärte etwa der Erste Parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfraktion, Thorsten Frei, auf X: "Die Bürgergeld-Zahlungen an die Kriegsflüchtlinge setzen völlig falsche Anreize."

Der stellvertretende Vorsitzende der Fraktion, Steffen Bilger, legte nach: "Insbesondere wegen des Bürgergelds sind so viele Ukrainer bei uns."

Wagener kontert. Es sei "zynischer Populismus", Frauen, Kinder und Alte wieder in die Ukraine schicken zu wollen. Außerdem würden immer mehr Ukrainer Arbeit in Deutschland finden, sagt er.

Sozialrechtsexpertin Janda: Abschiebungen in die Ukraine unmöglich

"Es ist rechtlich vollkommen ausgeschlossen, arbeitslose Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine dorthin zurückzuschicken", sagt Constanze Janda auf Anfrage unserer Redaktion. Grund dafür: die sogenannte "Massenzustrom-Richtline". Janda ist Lehrstuhlinhaberin für Sozialrecht und Verwaltungswissenschaften an der Uni Speyer.

Die von Janda angesprochene "Massenzustrom-Richtlinie" der EU wurde im März 2022 aktiviert und regelt eine unkomplizierte Hilfe für Vertriebene in Europa – auch in Deutschland. Das Instrument gibt es bereits seit 2001. Im Zuge des russischen Angriffskrieges wurde es nun schon mehrfach verlängert, aktuell bis März 2026.

Aufgrund dieser Regelung ist es aus Sicht der Verwaltungs- und Sozialrechtsexpertin unmöglich, die Aufenthaltserlaubnis von Ukrainern nicht zu verlängern – "weder wegen Arbeitslosigkeit noch wegen der Wehrpflicht in der Ukraine".

Für die Menschen in der Ukraine gehören Bomben , Zerstörung und Evakuierungen nach wie vor zum Alltag. © IMAGO images/Ukrinform/Anastasiia Smolienko

Auch die deutsche Regierung hatte Ende November 2023 beschlossen, dass ukrainische Schutzsuchende automatisch eine Verlängerung ihres Aufenthaltstitels bekommen. Zunächst gilt das bis März 2025. Das bedeutet auch, dass sie weiterhin arbeiten dürfen oder einen Anspruch auf Bürgergeld haben.

Der Abstand vom Bürgergeld zu Bezügen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz ist gar nicht so groß. Bei einer alleinstehenden Person sind es 103 Euro im Monat. Dass die Streichung dieses Geldes zu einer schnelleren Arbeitsaufnahme führt, ist zumindest fraglich.

Abkehr von Bürgergeld könnte Arbeitsaufnahme weiter verzögern

Seit Einführung des Bürgergeldes haben zudem generell weniger Menschen einen neuen Job angenommen. Das ist das Ergebnis einer Studie von Enzo Weber. Er leitet den Forschungsbereich "Prognosen und gesamtgesellschaftliche Analysen" am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung.

Im Gespräch mit unserer Redaktion sagt er: "Die Jobaufnahmen sind stark gesunken, um 20 Prozent. Der Großteil kommt nicht wegen des Bürgergelds, wir haben auch einen wirtschaftlichen Abschwung."

Der Experte ist dennoch kein Freund der Idee, Ukrainer im Umkehrschluss das Bürgergeld zu streichen und nach dem Asylbewerberleistungsgesetz zu verfahren. Gegenüber "Ippen Media" erklärte er, in diesem Fall müssten die Schutzsuchenden zunächst einen Asylantrag stellen und dann abwarten – letztlich würde es also wohl länger dauern, ehe die Ukrainer anfangen würden zu arbeiten. Das Gegenteil der Forderung von FDP und Union.

Ähnlich schätzt Sozialrechtsexpertin Janda die Lage ein. Sie sagt: "Die Kritik an der vermeintlich zu hohen Arbeitslosigkeit würde damit also gerade nicht sinnvoll beantwortet."

Dieser Fakt und die Tatsache, dass die allgemeine Unterstützung der Ukraine nicht angezweifelt wird, hinterlässt zumindest einen faden Beigeschmack. Schließlich stehen im Herbst Wahlen in Ostdeutschland an – und dort ist die AfD in aktuellen Umfragen besonders stark.

Möglich also, dass sich einzelne Vertreter der anderen Parteien in ihrer Problemanalyse auch von den Ergebnissen der Europawahl und den Sorgen um die Ostwahlen leiten lassen. Womöglich, auch wenn das bedeutet, Forderungen zu stellen, die nicht umsetzbar sind.

Verwendete Quellen

  • Anfrage an das Büro von Robin Wagener
  • Anfrage an Constanze Janda
  • Gespräch mit Enzo Weber
  • Merkur.de: "Immer mehr Menschen bekommen Bürgergeld"
  • Factsheet "Flüchtlinge aus der Ukraine" – Mediendienst Integration
  • Gesetzestext der "Massenzustrom-Richtlinie"
  • BR24: Dobrindt mit Blick auf Ukrainer: "Arbeitsaufnahme oder Rückkehr"
  • Wahlumfragen der Bundesländer
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