2011 wurde die Wehrpflicht in Deutschland ausgesetzt. Der Ex-Soldat und heutige "Soldatentrainer" Niklas Voß erläutert im Interview, ob eine Rückkehr zum damaligen Modell realistisch wäre – und was auf Wehrdienstleistende heute zukommt.
Wenn es nach Bundesverteidigungsminister
Niklas Voß war von 2017 bis 2021 Mitglied der Bundeswehr, er diente bei der Marineinfanterie in Eckernförde. Seit seinem Ausstieg arbeitet er als Trainer und bereitet Polizisten und Soldaten auf Auswahlverfahren vor. Im Interview erklärt er, worauf sich junge Menschen einstellen müssen, die es zur Bundeswehr zieht.
Herr Voß, wie stehen Sie als Ex-Soldat zu einer möglichen Rückkehr der Wehrpflicht?
Niklas Voß: Zunächst einmal ist das ein sehr komplexes Thema. Per se finde ich es gut, dass wir – mit Blick auf die weltpolitische Lage – darüber sprechen und in den Diskurs gehen. Alles andere wäre meines Erachtens sehr naiv. Mittlerweile dürften alle begriffen haben, dass wir die Bundeswehr brauchen. Aber auch bei der Bundeswehr, die im Übrigen schon vor der Eskalation in der Ukraine wachsen wollte, ist ein großer Personalmangel zu verzeichnen. Die eigenen Ziele werden nicht erreicht. Die Bewerbungszahlen waren in den vergangenen Jahren rückläufig, steigen aktuell aber wohl immerhin ein bisschen. Das grundsätzliche Problem, Personal zu bekommen, bleibt aber bestehen.
Woran liegt das?
Es hat damit zu tun, dass die Bundeswehr, die ja als ganz normaler Arbeitgeber wahrgenommen werden möchte, mittlerweile auch mit anderen Firmen konkurriert. In Zeiten von Fachkräftemangel ist das ein Faktor, der erschwerend hinzukommt. Aufgrund der Krisenherde und Kriege, nicht zuletzt in Europa bei uns vor der Haustür, wäre die Rückkehr zur Wehrpflicht ein sinnvoller und auch notwendiger Schritt. Wobei ich den Begriff "Wehrpflicht" ein Stück weit relativieren möchte. Niemand will zu der alten Wehrpflicht zurückkehren. Früher wurde fast jeder gesunde, junge Mann eingezogen. Das würde so heute nicht mehr funktionieren.
Inwiefern ist die Ausgangslage heute eine andere?
Die Infrastruktur gibt es nicht her, von heute auf morgen eine Vielzahl an Soldaten und Soldatinnen aufzunehmen. Es fängt mit der geringen Anzahl an Kasernen an. Mit dem Ende der Wehrpflicht 2011 wurden zig Kasernen geschlossen. Es mangelt nicht nur an Schlafplätzen, sondern auch an Ausbildern und Ausrüstung. Immerhin wurde dieses Problem erkannt. In der Theorie stehe ich dem Thema positiv gegenüber. Ob die Umsetzung zu den gewünschten Ergebnissen führen würde, bleibt vor dem Hintergrund der Machbarkeit allerdings abzuwarten.
Wie erklären Sie sich die niedrigen Bewerberzahlen?
Die Bundeswehr steht nicht unbedingt in der Mitte der Gesellschaft. Viele Menschen wissen gar nicht, was die Bundeswehr eigentlich macht. Natürlich bekommt man hier und da ein bisschen was mit, etwa rund um die Afghanistan-Einsätze. Dennoch hat die Öffentlichkeit zum Teil ein falsches und leider auch schlechtes Bild von der Bundeswehr. Der Eindruck, dass viele Soldaten diesen Weg nur eingeschlagen haben, weil sie sich im zivilen Leben nicht zurechtfinden, stimmt nicht, hält sich aber hartnäckig.
Wird das Imageproblem der Bundeswehr von der Öffentlichkeit also denjenigen in die Schuhe geschoben, die keine Schuld an der Entwicklung tragen?
Ja, den Eindruck habe ich zum Teil. Häufig klingt es so, als seien die Soldaten und Soldatinnen schuld daran, dass "ihre" Panzer oder "ihre" U-Boote nicht funktionieren. Ich selbst musste mir so etwas auch immer anhören. Dafür bin aber weder ich als Soldat noch mein Zugführer, mein Kompaniechef oder mein Bataillonskommandeur verantwortlich. Dieses grundsätzliche Problem ist durch jahrelange politische Fehlentscheidungen entstanden. Zumindest diesen Schuh muss sich die Bundeswehr meiner Ansicht nach nicht anziehen. Am Ende ist alles irgendwo ein großes Missverständnis.
Trauen Sie es Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius zu, dieses Missverständnis auszuräumen und die Probleme auf lange Sicht in den Griff zu bekommen?
Auch ich kann meine Informationen nur den Medien entnehmen, habe aber durchaus den Eindruck, dass es Boris Pistorius definitiv besser macht als seine Vorgänger und Vorgängerinnen. Er muss es aber auch besser machen, schließlich ist die Bedrohungslage für Deutschland eine ganz andere als noch vor einigen Jahren. Generell habe ich das Gefühl, dass der neue Verteidigungsminister das erkannt hat und dass er sich stärker für die Interessen der Bundeswehr einsetzt.
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Pistorius spricht von einem "Neuen Wehrdienst", nicht von einer "Wehrpflicht". Was halten Sie davon?
Der Ansatz ist aus meiner Sicht nicht verkehrt. Denn in erster Linie geht es doch darum, Menschen zu gewinnen, die wirklich Lust haben, ihrem Land zu dienen. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass dies nicht immer gewährleistet ist, wenn man den Wehrdienst zur Pflicht erklärt. Viele haben sich häufig krankschreiben lassen oder nach Lücken im System gesucht, um da nicht mitmachen zu müssen. Den Ansatz, erst einmal alle zu erfassen und dann diejenigen zu unterstützen, die Lust haben, halte ich generell für sinnvoll. Unzufriedene Soldaten und Soldatinnen sind eher kontraproduktiv.
Manche junge Menschen dürfte die Sorge abhalten, bei einem Einsatz verletzt oder sogar getötet zu werden. Mit Blick auf die aktuelle Lage sicherlich mehr denn je.
Das ist richtig, diese Sorgen sind absolut berechtigt. Niemand findet es gut, was aktuell auf unserer Erde vor sich geht. Dennoch – oder gerade deshalb – braucht die Gesellschaft Menschen, die sich dazu bereit erklären. Zum Glück gibt es diese Menschen, die freiwillig vorangehen und der Gesellschaft etwas zurückgeben wollen. Im Übrigen: Sollte der Verteidigungsfall, was wir natürlich nicht hoffen, eines Tages eintreten, würde es ohnehin zu einer Wehrpflicht kommen.
Was bedeutet es konkret für den persönlichen Alltag, wenn man sich für den Wehrdienst entscheidet?
Natürlich ist ein Begleitumstand des Wehrdienstes, dass man seltener zu Hause ist. Ich habe damals in Nordrhein-Westfalen gelebt, unter der Woche aber an der Ostseeküste gewohnt. Man wird definitiv aus seiner Komfortzone und seinem normalen Lebensumfeld herausgerissen. Hinzu kommt, dass man in einer Gemeinschaftsunterkunft mit vier, fünf anderen Menschen zusammenleben muss.
Was bedeutet das?
Das hat Auswirkungen auf die Privatsphäre. Zudem wird der ganze Tagesablauf von anderen Menschen beziehungsweise vom Dienstplan bestimmt. Dass Vorgesetzte einen anderen Ton anschlagen als die eigenen Eltern, kann ebenfalls ein Kulturschock sein. Zumindest mir ist es so ergangen, weil bei uns zu Hause nie geschrien wurde.
Läuft es nach wie vor so ab, wie wir es aus vielen Filmen, wenn auch überspitzt dargestellt, kennen?
Während meiner eigenen Grundausbildung wurde auch mal geschrien, wenn es sein musste. Es gehört einfach dazu, dass man als Soldat geprägt und geschliffen wird. Befehle zu befolgen, sich unterzuordnen und die Bedeutung von Disziplin und Gehorsam zu verstehen, sind wichtige Voraussetzungen, die während eines Einsatzes Leben retten können.
In welchen Punkten hat sich die Ausbildung zu früher verändert?
Früher wurde man primär für die Auslandseinsätze ausgebildet, sei es für Afghanistan oder für Mali. Diese Aufträge und deren Rahmenbedingungen waren natürlich ganz andere. Jetzt sprechen wir über Länder- und Bündnisverteidigung. Darauf liegt mittlerweile auch wieder der Fokus bei der Ausbildung.
Mit welchen Folgen?
Aufgaben wie das Betreiben von Checkpoints oder das Beschützen von Einrichtungen, womit ich mich zu meiner Dienstzeit vorrangig beschäftigt habe, fallen größtenteils weg. Es muss wieder kriegsnäher ausgebildet werden. Die Kriegsführung mit Blick auf die Ukraine ist im Großen und Ganzen mit der von vor 100 Jahren vergleichbar – was die Schützengräben und den Kampf um wenige Meter angeht. Es geht bei der Ausbildung wieder deutlich ernsthafter zu.
Über den Gesprächspartner
- Niklas Voß ist ein ehemaliger Zeitsoldat, er war in der Küsteneinsatzkompanie in Eckernförde stationiert. Im Anschluss an seine Grundausbildung absolvierte er die Vollausbildung zum Marineinfanteristen. Zwischen 2018 und 2019 war Voß im UNIFIL-Auslandseinsatz der Bundeswehr, eingesetzt in der Force Protection. Nachdem er die Bundeswehr im Juli 2021 verlassen hatte, gründete er die Firma "PPF Germany" mit Sitz in Landshut. Mit seinem Team bereitet der Ausbilder Polizisten, Soldaten und weitere Einsatzkräfte auf Auswahlverfahren vor.
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