Im Entwurf für ihr neues Grundsatzprogramm fordert die CDU "Mut zur Leitkultur". Was haben wir uns unter dem Begriff vorzustellen? Ein Erklärungsversuch mit CDU-Politikerin Serap Güler.

Ein Interview

Der Begriff ist mehr als 20 Jahre alt – und er hat schon im Jahr 2000 polarisiert. CDU-Politiker forderten Zugewanderte damals auf, sich an die Leitkultur in Deutschland zu halten. Jetzt ist die Debatte zurück: Die CDU arbeitet an einem neuen Grundsatzprogramm, einen ersten Entwurf hat Generalsekretär Carsten Linnemann vor Kurzem vorgestellt. Auch dort spielt der Begriff eine Rolle.

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Aber was genau bedeutet er eigentlich? CDU-Chef Friedrich Merz erklärte in den Zeitungen der Funke-Mediengruppe, auch der Kauf eines Weihnachtsbaumes gehöre zu Leitkultur. Da das nur bedingt weiterhilft, haben wir bei Serap Güler nachgefragt, Bundestagsabgeordnete und stellvertretende Vorsitzende der CDU-Programmkommission.

Frau Güler, wenn Sie einem Menschen aus dem Ausland den deutschen Begriff Leitkultur erklären müssten – wie würden Sie das machen?

Serap Güler: Deutschland ist ein Einwanderungsland, in dem Menschen aus unterschiedlichen Ländern leben. Die Leitkultur ist ein Regelwerk für den Umgang miteinander: Für Menschen, die schon immer hier gelebt haben, aber eben auch für diejenigen, die neu hinzukommen. Wir müssen den gesellschaftlichen Zusammenhalt gewährleisten und uns auf ein paar Grundregeln einigen.

Welche Grundregeln sind das konkret?

Das Grundgesetz als Versprechen des Staates an seine Bürgerinnen und Bürger gehört natürlich dazu. Es gewährleistet den Menschen Freiheiten. Die eigene Freiheit kann aber auch da enden, wo die Freiheit eines anderen beginnt. Wir brauchen deshalb auch Regeln für das Leben der Bürgerinnen und Bürger untereinander. In diesen Tagen wird besonders deutlich, dass die Anerkennung des Existenzrechts Israels auf jeden Fall zur Leitkultur gehört. Für mich gehört aber auch das Ehrenamt dazu.

Sind das für die allermeisten Menschen hierzulande nicht eigentlich Selbstverständlichkeiten?

Die vergangenen Wochen haben gezeigt, dass das Existenzrecht Israels leider nicht für alle Menschen hier eine Selbstverständlichkeit ist. Wenn am Tag nach dem Terrorangriff der Hamas Leute auf unseren Straßen Süßigkeiten verteilen, ist das erschreckend. Es gibt auch Menschen in diesem Land, die damit sozialisiert wurden, das Existenzrecht Israels infrage zu stellen. Zu glauben, dass sie diese Vorstellung einfach von sich werfen, sobald sie in Deutschland sind, war vielleicht auch ein Stück weit naiv von uns.

Das Beispiel zeigt doch: Was man unter Leitkultur versteht, ist offenbar auch eine Frage aktueller politischer Diskussionen. So wichtig das Existenzrecht Israels auch ist: Vor dem Hamas-Überfall auf Israel am 7. Oktober hätten Sie es vielleicht nicht so explizit erwähnt.

Ich kann für mich belegen, dass mir das Thema schon immer sehr wichtig war. Ich habe 2016 einen Gastbeitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung dazu geschrieben. Spätesten ab 2015 war klar, dass auch Menschen in dieses Land kommen, die mit dem Existenzrecht Israels ein Problem haben.

"Ich glaube nicht, dass sich eine Leitkultur politisch verordnen lässt"

Serap Güler

Fordert die CDU das Bekenntnis zur Leitkultur nur von Menschen, die neu nach Deutschland kommen? Es gibt auch Deutsche ohne Einwanderungsgeschichte, die das Existenzrecht Israels oder demokratische Werte infrage stellen – zum Beispiel manche Rechts- und Linksextremisten.

Natürlich gilt die Leitkultur nicht nur für Zugewanderte. Sie gilt auch für Menschen, die nie woanders gelebt haben als in Deutschland.

Die CDU fordert im Entwurf für das neue Grundsatzprogramm "Mut zur Leitkultur". Ist das ein weiteres Zeichen, dass die Partei nach den Merkel-Jahren wieder konservativer wird?

Ich verstehe den Begriff nicht nur als etwas Konservatives, sondern durchaus auch als etwas Soziales. Natürlich geht es auch um die Bewahrung unserer Werte. Im Entwurf für unser Grundsatzprogramm machen wir aber deutlich: Wir wollen alle drei Wurzeln – das Konservative, Soziale und Liberale – wieder in den Mittelpunkt stellen.

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Werte und ungeschriebene Regeln sind in einer Gesellschaft vielfältig. Wenn man Deutschland mit anderen Ländern vergleicht, könnte man auch sagen: Die Deutschen sind sehr umweltbewusst. Und sie sind auch trotz Abstrichen immer noch relativ offen im Umgang mit Flüchtlingen. Gehören solche Werte auch zur Leitkultur, die der CDU vorschwebt?

Kultur ist nie etwas Statisches, es kann immer etwas Neues hinzukommen. Ich habe eben das Beispiel Ehrenamt genannt. Unsere Vereinslandschaft zum Beispiel ist weltweit einmalig und ein positiver Wert. Und unzählige ehrenamtliche Initiativen und Vereine beschäftigen sich zum Beispiel mit der Betreuung von Flüchtlingen. Auf dieses ehrenamtliche Engagement kann man stolz sein, auch das macht uns Deutsche aus.

Ein Grundsatzprogramm ist kein Regierungsprogramm. Trotzdem stellt sich die Frage: Wenn die CDU einmal wieder regiert – wie wollen Sie den "Mut zur Leitkultur" in praktische Politik umsetzen?

Wir müssen darüber nachdenken, wie wir die Zivilgesellschaft dafür gewinnen können, die Leitkultur zu definieren. Der Beitrag von Vereinen und Initiativen ist da ganz wichtig. Diesen gesellschaftlichen Prozess muss eine Regierungspartei einleiten und gestalten. Ich glaube nicht, dass sich eine Leitkultur politisch verordnen lässt. Sie muss ein gesamtgesellschaftliches Regelwerk sein und deshalb auch von der Gesellschaft geformt werden. Wir haben als Partei jetzt einen Aufschlag gemacht, weil wir überzeugt sind, dass eine Leitkultur für den Zusammenhalt wichtig ist.

Über die Gesprächspartnerin

  • Serap Güler wurde 1980 in Marl im Ruhrgebiet geboren. Ihre Eltern waren als Gastarbeiter aus der Türkei nach Deutschland gekommen, ihr Vater war Bergmann. Güler machte nach dem Abitur zunächst eine Ausbildung als Hotelkauffrau und studierte danach Kommunikationswissenschaft und Germanistik. Armin Laschet holte sie in die CDU und damit in die Politik und machte sie später zur Staatssekretärin im Integrationsministerium von Nordrhein-Westfalen. 2021 wechselte Güler als Bundestagsabgeordnete nach Berlin.
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