Nach dem Terror der Hamas sichern Deutschland und andere westliche Staaten Israel jegliche Unterstützung zu. Gerät dadurch die Unterstützung der Ukraine gegen Russland in den Hintergrund? Der CDU-Politiker Roderich Kiesewetter warnt: "Aktuell verlieren wir diesen Test."

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Die Weltöffentlichkeit blickt derzeit geschockt und gebannt nach Israel. Die massiven Terrorangriffe der Hamas haben Erschütterung ausgelöst – und viel Solidarität hervorgerufen. Die USA haben Kriegsschiffe ins Mittelmeer verlegt. Deutschland prüft die Lieferung von Munition, und nach Außenministerin Annalena Baerbock reist auch Bundeskanzler Olaf Scholz nach Israel.

Damit rückt zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung der russische Krieg gegen die Ukraine, der Europa zuvor in Atem gehalten hat, an die zweite Stelle. Muss die Ukraine nun befürchten, weniger Aufmerksamkeit aus dem Westen zu bekommen? Oder auch weniger militärische Unterstützung? Schließlich sind die diplomatischen und militärischen Kapazitäten auf der Welt endlich.

Roderich Kiesewetter (CDU): "Der Zusammenhalt bröckelt"

Roderich Kiesewetter, Obmann der CDU/CSU-Fraktion im Auswärtigen Ausschuss des Bundestags, vermutet: Russland, Iran und auch China haben ein Interesse daran, den Krieg im Nahen Osten möglichst zu verlängern – damit militärische Ressourcen der USA und anderer westlicher Staaten dort gebunden sind. "Russland setzt darauf, dass die westliche Unterstützung für die Ukraine nachlässt", sagt Kiesewetter zu unserer Redaktion.

Schon vor den Entwicklungen im Nahen Osten war die Ukraine etwas aus dem Blickfeld der deutschen Öffentlichkeit geraten. Im September nannten noch 9 Prozent der Deutschen in der repräsentativen Umfrage "Deutschlandtrend" von Infratest Dimap im Auftrag der ARD die Lage in der Ukraine als wichtigstes politisches Thema. Das waren 16 Prozentpunkte weniger als im August.

Auch in anderen Staaten des westlichen Bündnisses sind Zweifel an der militärischen Unterstützung der Ukraine zuletzt lauter geworden – in Osteuropa, aber auch bei den Republikanern in den USA.

Die USA planen zwar ein 100 Milliarden Euro teures Unterstützungspaket für die Ukraine. Aber, so Kiesewetter: "Die Unterstützung für die Ukraine hat bereits nachgelassen, der Zusammenhalt bröckelt, die Stimmen werden lauter, die einen Diktatfrieden fordern."

Der Direktor des ukrainischen Geheimdiensts HUR, Kyrylo Budanow, sagte in einem Interview mit "Ukrainska Pravda", er rechne mit einem eher kurzen Konflikt im Nahen Osten. Dann habe auch die Ukraine nichts zu befürchten. "Aber wenn die Situation sich in die Länge zieht, wird es sicherlich zu Problemen kommen, weil nicht nur die Ukraine mit Waffen und Munition versorgt werden muss", zitierte die "Kyiv Post" aus dem Interview mit Budanow.

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Russland greift weiter Infrastruktur an

Russland setzte in den vergangenen Tagen vor allem die Angriffe auf die Wasser- und Stromversorgung fort. Bei Luftangriffen auf die vor rund einem Jahr von der Ukraine zurückeroberte Stadt Cherson wurde am Sonntag Elektrizitätsleitungen und Wohnhäuser zerstört. Das berichtete die regionale Militärverwaltung. Auch in anderen Teilen des Landes kam es zu Versorgungsausfällen.

Russland stellt die Ukraine nun als geschwächt dar. Präsident Wladimir Putin sagte am Sonntag, seine Streitkräfte würden auf dem gesamten Gebiet ihre Lage verbessern. Den britischen Geheimdiensten zufolge baut Russland gerade den Schienenverkehr in den besetzten Gebieten aus, um Munition, Rüstung, Treibstoff und Personal an die Front zu transportieren.

Zudem versucht Russland, den Hamas-Terror gegen Israel für die eigenen Propaganda-Zwecke zu nutzen. Der Sprecher des Unterhauses des russischen Parlaments, Wjatscheslaw Wolodin, behauptete, die Ukraine habe Waffen aus dem Westen in den Nahen Osten weiterverkauft und damit die Hamas aufgerüstet.

Diese Behauptung klingt reichlich absurd. Schließlich befindet sich die Ukraine selbst im Verteidigungskrieg gegen Russland und ist auf Waffen dringend angewiesen. Doch die unbelegte Erzählung wird zum Beispiel in Deutschland von der AfD weiterverbreitet. "Die Hamas bedankt sich für westlichen Waffen aus Afghanistan und der Ukraine", behauptete der AfD-Abgeordnete Matthias Moosdorf in der vergangenen Woche im Bundestag.

Nils Schmid (SPD): "Müssen dafür sorgen, dass die Auswirkungen erträglich sind"

Die deutsche Politik wird an der Unterstützung der Ukraine festhalten – auch langfristig. Davon ist jedenfalls der SPD-Bundestagsabgeordnete Nils Schmid überzeugt. "Dieser Konsens wird weit in die nächste Legislaturperiode hineinreichen. Egal welche Koalition gebildet wird: Sie wird sich aus den vier Parteien speisen, die die Ukraine mit finanziellen und militärischen Mitteln unterstützen", sagt der außenpolitische Sprecher seiner Fraktion im Gespräch mit unserer Redaktion.

Die Gefahr einer bröckelnden Unterstützung rühre nicht von der Lage im Nahen Osten her. Sie ergebe sich, wenn überhaupt, aus der schieren Dauer des Krieges gegen die Ukraine. "Die Republikaner im US-Repräsentantenhaus haben die Finanzierung der Militärhilfen für die Ukraine schon vor dem Hamas-Angriff auf Israel infrage stellt", sagt Schmid. "Angesichts rechtspopulistischer Bewegungen und russischer Desinformationskampagne im Westen müssen wir sehr wehrhaft sein gegenüber demokratiezersetzenden Angriffen."

Der SPD-Politiker sieht die Bundesregierung auch vor innenpolitischen Aufgaben: "Wir müssen dafür sorgen, dass die Auswirkungen des Krieges für die Bevölkerung, den Arbeitsmarkt, die Energieversorgung erträglich sind", sagt er. "Wenn es zu Zweifeln an der Unterstützung der Ukraine kommt, ergeben die sich eher aus ungelösten Alltagsproblemen – wenige aus der Frage, wie man zur Ukraine steht." Deshalb sei es wichtig, die hohen Industriestrompreise zu senken und auch die Migration zu regulieren.

"Es ist auch ein Abnutzungskrieg gegen den Westen, nicht nur was Ressourcen anbetrifft, auch mental."

Roderich Kiesewetter (CDU)

CDU-Politiker Roderich Kiesewetter pocht auf weitere militärische Unterstützung für Kiew: "Konkret fehlt es der Ukraine an allem, an Masse und Quantität im Sinne von Schlagkraft", sagt er. Aus seiner Sicht muss der Westen an Russland ein "Signal der Stärke und Geschlossenheit" senden.

"Es ist auch ein Abnutzungskrieg gegen den Westen, nicht nur was Ressourcen anbetrifft, auch mental. Es wird getestet, ob westliche Demokratien wehrhaft sind", sagt Kiesewetter. "Aktuell verlieren wir diesen Test und das zeigt sich an einer nachlassenden Unterstützung für die Ukraine."

Verwendete Quellen:

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