- Mit Kurzvideos werden russische Männer dazu aufgerufen, sich freiwillig zum Militärdienst zu melden.
- Wer sie herstellt und wer sie in Auftrag gibt, bleibt unklar.
- Doch die Filmchen verraten mehr, als die "Regisseure" sagen wollen.
Die billig produzierten Streifen als Filme zu bezeichnen, wäre übertrieben. Die Schauspieler sind schlecht, die Dialoge plump und unglaubwürdig. Der Schauplatz: enge Zimmer in russischen Wohnungen. Doch über das Ziel gibt es keine Zweifel: Es handelt sich um Appelle an russische Männer, sich freiwillig zum Militärdienst zu melden.
Auf hierzulande bekannten Plattformen wie WhatsApp oder YouTube sind diese Videos nicht zu finden. Die Russland-Expertin Sarah Pagung von der deutschen Körber-Stiftung vermutet, sie würden wohl über das russische Netzwerk "Odnoklassniki", den Facebook-Ersatz "VKontakte", aber auch über Kanäle wie Telegram in Umlauf gebracht.
Sie reihen sich ihrer Meinung nach ein in die Taktik von Desinformation, Verschleierung und offener Fälschung, wie sie auch im russischen Staatsfunk üblich sei – etwa in den Sendungen der Journalistin Margarita Simonowna Simonjan.
Als "befremdlich", und "unglaublich aggressiv" schildert Sarah Pagung die Propagandistin. Ähnlich bekannt ist der Moderator Wladimir Solowjow, dessen Sonntagabend-Talkshow seit dem Überfall auf die Ukraine als eine der wichtigsten russischen Propagandasendungen gilt.
Vier Themenbereiche listet die Wissenschaftlerin auf, die sich die russische Propaganda in Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg vornehme:
- Russland wird als von Feinden umgebene "belagerte Festung" dargestellt.
- Die Bevölkerung der Ukraine wird als "nazihörig" und faschistisch geschildert. In diesen beiden Fällen werden Parallelen zum "großen Vaterländischen Krieg" gegen Nazideutschland geschaffen.
- Die Welt wird in Freunde und Feinde aufgeteilt: Russlandfeindlich gesinnt sei nur der Westen, der globale Süden stehe auf der Seite Russlands.
- Der Westen sei ein verkommenes, überholtes, dekadentes System, das kurz vor dem Zusammenbruch stehe.
Stets geht es um Überhöhung Russlands und die Abwertung anderer Länder
"Durch all diese Narrative", so Pagung, "ziehen sich die Überhöhung der eigenen, russischen Position und die Abwertung von allem anderen".
Simonjan und Solowjow stehen mittlerweile auf westlichen Sanktionslisten. Für ihre Sendungen sind die "Rekrutierungsvideos" wohl zu einfach gestrickt. Eines der Videos zeigt ein russisches Mädchen, das sich bei einer Freundin beklagt, ihr Vater könne ihr nicht einmal ein neues Handy kaufen. Der belauscht das Gespräch und fasst den Entschluss, sich freiwillig zu melden. Ein schneller Schnitt, dann sieht man den Vater aus dem Krieg zurückkehren – mit einem neuen Handy für die Tochter, die ihm glücklich um den Hals fällt. Ein anderes Video zeigt junge Männer, die von ihrer Vergangenheit beim Militär schwärmen und sich zu Hause nutzlos fühlen. Sie beschließen gemeinsam, in der Ukraine zu kämpfen und kehren schnell als Kriegshelden zurück.
Filme dieser Art habe es in Russland auch schon zu früheren Zeiten gegeben, sagt die Russland-Expertin Mariëlle Wijermars von der Universität Helsinki – zum Beispiel als schnell produzierte Wahlaufrufe, allerdings in deutlich besserer Qualität als die nun hergestellten. Wer die Aufträge für solche Produktionen gebe und wer sie herstelle, sei damals so unbekannt gewesen wie heute und derzeit wegen des Kriegszustandes und der russischen Zensur nicht zu klären.
Wijermars kann nur Vermutungen anstellen: "Offensichtlich hat jemand gemeint, solche Videos seien notwendig und könnten nützlich sein", erklärt sie. Infrage kämen lokale Politiker, Militärs, die Regierung, Ministerien. Vorstellbar findet sie auch, dass zynische Filmemacher einfach Geschäfte machen wollen. "Sie produzieren das, bieten es an – und wenn diese Qualität dem Abnehmer ausreicht, wenn es bezahlt wird, dann liefert man eben etwas ganz Primitives."
Die Videos zeigen auch ökonomische Probleme der Bevölkerung
Doch so verquer und billig produziert die Videos auch sein mögen, sie zeigten doch einen Teil der russischen Realitäten. Im Video mit der handylosen Tochter etwa sieht die Forscherin ein Beispiel für die Lebensverhältnisse von modernen Stadtbewohnern: "Sie haben gewisse Ansprüche, wollen zum Beispiel ein iPhone haben, aber sie können sich so etwas nicht mehr leisten." Auch wenn man beim Militär nicht reich werde, könne man dort doch immerhin Geld verdienen und habe die Hoffnung, nach der Rückkehr ökonomisch besser dazustehen.
Auch das zweite Video, in dem junge, offensichtlich arbeitslose Männer die Hauptrolle spielen, spiegelt ungewollt russische Realitäten: Die Akteure haben das Gefühl, dem "Vaterland" helfen zu müssen. Gleichzeitig fühlen sie sich nutzlos, haben keinen Job, trinken Alkohol, schwärmen vom Zusammenhalt beim Militär und sehen im freiwilligen Einrücken eine Lösung für ihre Probleme. "Arbeitslosigkeit, Alkoholismus, soziale Not" zeige das Video, sagt Wijermars. Nicht ausgesprochen werde, dass der Staat offensichtlich nicht helfen könne; stattdessen sollen umgekehrt die Menschen dem Staat helfen.
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Nicht der Staat unterstützt die Bevölkerung, sondern die Bevölkerung den Staat
So wird auch klar, an wen sich diese Videos richten: An all jene, die sich ökonomisch und/oder gesellschaftlich ausgegrenzt fühlen, und das sind viele in Russland. Die Arbeitslosigkeit steigt, die Lebenshaltungskosten sind für große Bevölkerungsschichten immer öfter nur noch schwierig zu finanzieren.
Doch dass die zum freiwilligen Militärdienst aufrufenden Videos solche Missstände sogar hervorheben, dass sie auch auf Armut und soziale Missstände hinweisen, wird den Konsumenten oft nicht bewusst. Sie hoffen stattdessen, mithilfe eines Krieges, der nicht so genannt werden darf, ihre eigene Lage zu verbessern.
Man habe den Menschen so lange erzählt, der Westen wolle Russland zerstören, sagt Mariëlle Wijermars. Nun erscheine es ihnen "logisch", dass sie sich "verteidigen" müssten – und das, obwohl sie auf Kanälen wie Telegram durchaus auch schreckliche Bilder von der "Sonderoperation" in der Ukraine zu sehen bekämen.
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