• Die Ukraine-Krise droht nicht nur die deutsche Wirtschaft in eine Rezession zu schicken.
  • Als Kornkammern der Welt stehen die Ukraine und Russland für einen Großteil der Weizenexporte.
  • Bleiben die Exporte aus, droht eine Hungersnot.

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Der Angriff Russlands auf die Ukraine trifft auf eine fragile Weltwirtschaft. Mit dem Abflachen der Corona-Pandemie hatten Autoindustrie, Restaurantbetreiber oder Fluggesellschaften Morgenluft geschnuppert, was sich an den wichtigen makroökonomischen Lichtern auf dem Armaturenbrett der Volkswirtschaften ablesen ließ: Fast alle Kennziffern schalteten auf grün.

Viele Staaten haben ihre Arbeitslosigkeit inzwischen wieder auf Vorkrisenniveau reduziert, Unternehmen vermelden rekordverdächtige Absatzzahlen, die große Herausforderung für zahlreiche Firmen ist nach zwei Jahren Corona-Flaute ein Fachkräftemangel. Der militärische Konflikt im Osten Europas könnte diese Aufholjagd nun abrupt stoppen.

Das lässt sich zum Beispiel an den weltweiten Aktienmärkten ablesen, einem wichtigen Seismografen für die Entwicklung der kommenden Monate. Sie blinken seit Wochen rot. Der breit gefasste MSCI-Index für asiatische Aktien hat binnen eines Monats rund ein Zehntel an Wert verloren, ähnlich wie der deutsche Aktienindex DAX. Beim Han Seng, der die Kurse der 50 größten Unternehmen an der Hongkonger Börse abbildet, liegt der Verlust sogar bei über 20 Prozent. Es ist vor allem die Unsicherheit, die vielen Anlegern die Laune verdirbt.

Die Ukraine-Krise betrifft nicht nur Europa

Doch der Ukraine-Konflikt hat die ovalen Trading-Desks längst verlassen und ist in die Realwirtschaft übergeschwappt. Erst am vergangenen Donnerstag kündigte der Internationale Währungsfonds (IWF) an, die weltweite Wachstumsprognose für das laufende Jahr senken zu wollen, ohne dass das Gremium eine neue Prognose vorlegen konnte. Auch das ist ein Indikator für die massive Unsicherheit, zumal die meisten ökonomischen Modelle Krieg nur unzureichend bemessen können. In Deutschland rechnen die meisten Konjunkturforscher zwar noch mit einem Wachstum von drei bis vier Prozent für dieses Jahr. Doch man fragt sich: Wie lange noch?

Spricht man mit Wirtschaftsexperten, dann wird schnell klar, dass sich kaum eine Weltregion vom Krieg entkoppeln kann – mag sie noch so viele Flugstunden von Kiew und Moskau entfernt sein. Zu sehr ist die heutige Welt miteinander verflochten, zu unübersichtlich sind die verschiedenen Wirkungsketten.

Kaum einer zweifelt jedoch daran, dass es Europa besonders hart treffen wird, obwohl Russland als elftgrößte Volkswirtschaft der Welt ökonomisch gerade einmal die Bedeutung eines größeren Entwicklungslandes hat. Staaten wie Deutschland, Österreich oder Polen haben es im vergangenen Jahrzehnt verpasst, sich mit dem Bau von Flüssiggasterminals, Solarparks oder dem Weiterbetrieb von Atomkraftwerken von russischem Rohöl und Erdgas unabhängig zu machen.

Im Falle Deutschlands hielt man sogar so lange an der Pipeline Nord Stream 2 fest, ein Projekt, das die deutsche Abhängigkeit von Russland auf Jahre hin zementiert hätte, bis es nicht mehr anders ging. "Europa ist wegen der engeren Vernetzung mit Russland und der Ukraine besonders von dem Konflikt betroffen, während die USA energiepolitisch nahezu autark sein können", sagt Michael Hüther, Chef des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln, im Gespräch mit der Redaktion und weist darauf hin: "Insgesamt wird nicht nur die russische Volkswirtschaft isoliert. Das Risiko einer global vernetzten Wirtschaft ist gestiegen."

Die deutsche Industrie ist besonders verwundbar

Deutschland ist in der von russischem Öl ohnehin besonders abhängigen EU auch deshalb ein Solitär, weil die heimische Industrie mit Konzernen wie BASF (Chemie), Heidelberg Cement (Baustoffe) oder Thyssen-Krupp (Stahl) zu den energieintensivsten der Welt gehört. Insbesondere margenschwache Sektoren wie die Stahlgewinnung sind bei steigenden Energiepreisen verwundbar, manche auch existenziell bedroht, zumal der Strompreis in Deutschland auch ohne Krieg zu den Höchsten in der EU gehört.

Dazu kommt, dass Russland nach wie vor ein wichtiger Absatz- und Produktionsmarkt für Deutschland ist. VW baut im zentralrussischen Kaluga Autos, Bosch Siemens Hausgeräte (BSH) Kühlschränke und Metro betrieb in Russland zuletzt fast 100 Großhandelsmärkte. 2021 exportierte Deutschland Maschinen, Autos und Chemie von knapp 13 Milliarden Euro. Bricht all das weg, und danach sieht es gerade aus, wird es für zahlreiche Industrien düster – und damit möglicherweise auch auf dem Arbeitsmarkt.

Konjunkturforscher Hüther rät der Politik vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Belastungen, vor denen Unternehmen aktuell stehen, nochmal zu einem Instrument zu greifen, das schon aus der Coronakrise bekannt ist und im Jahr 2020 viele Arbeitsplätze gesichert hat: "Eine erste Hilfe würde Kurzarbeitergeld bieten, das Beschäftigungsverhältnisse stabilisieren, Kosten senken und Liquidität sichern kann." Als zweite Sofortmaßnahme schlägt er eine negative Unternehmenssteuer vor. "Sie wäre schnell umsetzbar, ohne übermäßige Bürokratie möglich und ließe sich über die Finanzbehörden schnell abwickeln."

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Energiemangel könnte Verteilungskämpfe provozieren

Doch nicht nur Unternehmen werden im Schatten der Ukraine-Krise ihre Bilanzen nach unten korrigieren müssen. Der Energiemangel wird auch in der Gesellschaft neue Verteilungskämpfe provozieren. Sollte die Bundesregierung etwa beschließen, russische Energieimporte bei einer weiteren Eskalation zu boykottieren, würde sich Berlin auf einen Schlag von etwa 30 Prozent seiner Primärenergie abkoppeln.

In diesem Worst-Case-Szenario, das die Bundesregierung zum Entsetzen ihrer europäischen Partner eigentlich verhindern will, träten auf dem Energiemarkt Privatverbraucher und Betriebe als Wettbewerber um jeden Kubikmeter Gas auf.

Rationierungen bis hin zu Stilllegungen ganzer Fabriken wären die Folge, weil die Bundesregierung in keinem Fall Privatverbraucher zum Stromsparen zwingen will. Das sei weder zweckmäßig, heißt es aus den Ministerien, noch sei es politisch vertretbar, wenn Polizisten künftig die Thermostate ablesen.

Was sich kaum verhindern ließe ist jedoch, dass die Energiekosten auch für Privatverbraucher durch die Decke steigen, was sich aktuell schon an den Tankstellen bemerkbar macht. Menschen mit kleinerem Verdienst wären davon besonders betroffen, weil sie einen überproportional hohen Anteil ihres Einkommens für Energiekosten ausgeben. Konjunkturexperte Hüther fordert deshalb die Politik dazu auf, Menschen "zielgenau zu unterstützen", wo finanzielle Schieflagen drohen. "Dazu gibt die Schuldenbremse mit der Notfallklausel hinreichend Spielraum", so der Wirtschaftsforscher.

Wer den Blick über die Ränder Europa hinaus weitet, stellt fest, dass der Ukraine-Krieg auch in anderen Weltregionen zu heftigen Verwerfungen führen kann. Denn die Ukraine und Russland gelten als Kornkammern der Welt, gemeinsam exportieren beide Länder Getreide in rund 50 Staaten, etwa nach Syrien, Jemen, Bangladesch, Ägypten oder in die Türkei. Weil wegen des Kriegs Handelswege gekappt sind, Infrastruktur zerstört wurde und womöglich alle verbleibenden Produktionskräfte in der Ukraine auf eine Kriegswirtschaft ausgerichtet werden, bleibt derzeit ein Großteil der Lieferungen stecken.

Dazu kommt, dass die Ukraine zahlreiche Schiffe nicht in See stechen lassen kann, weil wichtige Häfen umkämpft sind. Und weil viele Menschen, die in der Landwirtschaft arbeiten, geflüchtet sind, könnten die Felder selbst nach einer Beruhigung der Lage auf Monate hinaus ungeerntet bleiben. Das UN-Welternährungsprogramm schätzt in einer aktuellen Studie, dass rund 13,5 Millionen Tonnen Weizen nicht aus den beiden Staaten exportiert werden können, das entspricht etwa der 1,5-fachen Menge, die jedes Jahr in Deutschland konsumiert wird.

Wirtschaftsinstitut rechnet mit "eklatanten" Preissteigerungen

Gemeinsam mit einem Team von Konjunkturforschern hat das Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW) berechnet, welche konkreten Folgen der Ukraine-Krieg für Weizenimporteure haben kann. Die Wissenschaftler kommen zu dem Ergebnis, dass nicht nur in Deutschland Getreide, Futtermittel, Betriebsmittel und Dünger knapp werden könnten, sondern insbesondere jene Weltregionen unter dem Krieg leiden, in denen schon heute Menschen hungern.

"Da die Ukraine einer der wichtigsten Getreideexporteure der Welt ist, insbesondere für den afrikanischen Kontinent, wird dies die dortige Versorgungssituation spürbar verschlechtern", sagt Stefan Kooths, Vizepräsident des IfW, im Gespräch mit unserer Redaktion

Den Wissenschaftlern zufolge, die in ihrem Szenario von einem langfristigen Handelsstopp von Weizen und sonstigem Getreide für die Lebensmittelproduktion ausgehen, würden vor allem Tunesien und Ägypten negativ betroffen sein, was zu einem Preisanstieg von bis zu 24 Prozent führen kann. Auch das wirtschaftlich bankrotte Libyen müsste mit einer Preissteigerung von neun Prozent rechnen. "Wenn weniger Getreide zur Verfügung steht, steigen in der Folge die Preise – teilweise eklatant", so Kooths.

Die Folgen zeigen sich bereits jetzt. Mit jedem Cent, um den sich Korn verteuert, werden immer mehr Menschen die Kosten für das überaus wichtige Grundnahrungsmittel nicht mehr aufbringen können, demnächst könnten Milliarden von Menschen an Hunger leiden. Schon jetzt musste das Welternährungsprogramm im Jemen die Nahrungsrationen für Hungernde drastisch reduzieren – und bittet um Spenden.

Eine Hungersnot wäre dann eine globale wahrnehmbare Folge des desaströsen Krieges in der Ukraine.

Verwendete Quellen:

  • Interview mit Stefan Kooths (IfW Kiel)
  • Interview mit Michael Hüther (Institut der deutschen Wirtschaft Köln)
  • World Food Programme - Ukraine war: More countries will ‘feel the burn’ as food and energy price rises fuel hunger, warns WFP
  • Institut für Weltwirtschaft Kiel - Getreide-Exporte: Ausfall der Ukraine trifft afrikanische Staaten spürbar
  • Reuters - IMF chief Georgieva says Ukraine war to lower global growth forecast
  • Statista – Exportstatistik Deutschland
  • Statista – Energieimportstatistik Deutschland
ukrainischer Präsident Wolodymyr Selenskyj

Selenskyj nach Verhandlungen vorsichtig optimistisch

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat sich zu den Gesprächen mit Russland über ein Ende des Krieges vorsichtig optimistisch geäußert. Die Verhandlungspositionen hörten sich realistischer an, sagte er in einer in der Nacht zu Mittwoch veröffentlichten Videobotschaft.
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