• Ricarda Lang ist mit 28 Jahren bereits Parteivorsitzende, Aminata Touré mit 29 Vizepräsidentin des Landtags von Schleswig-Holstein.
  • Im Interview sprechen die beiden Grünen-Politikerinnen über die Bedeutung von jungen Frauen in der Politik, die Energiewende und die sozialen Folgen des Krieges in der Ukraine.
Ein Interview

Woran denken Sie, wenn Sie die Zahl 449 hören?

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Aminata Touré: Das ist der Regelsatz für Hartz IV.

Der beträgt derzeit für Alleinstehende 449 Euro pro Monat. Lassen sich davon die Ausgaben für das tägliche Leben bezahlen?

Ricarda Lang: Nein. Deshalb haben wir uns in den Koalitionsverhandlungen dafür eingesetzt, dass er deutlich steigt. Eine Anhebung war mit den Koalitionspartnern leider nicht möglich. Unser Ziel bleibt es, dass die Regelsätze neu berechnet werden. Für uns ist klar, dass es am Ende auch wirklich zum Leben reichen muss.

Wie hoch müssten die Regelsätze dafür sein?

Lang: Dazu gibt es unterschiedliche Kalkulationen, etwa die des Paritätischen Wohlfahrtsverbands.

Der schlägt für einen armutsfesten Hartz-IV-Regelsatz derzeit 678 Euro vor. Auf jeden Fall ist das Leben für viele Menschen teurer geworden. Die Bundesregierung reagiert mit einmaligen Zahlungen wie Energiezuschlag, Heizkostenzuschuss, Kinderzuschlag. Da behilft sich die Ampel-Koalition doch kurzfristig mit Stückwerk, statt eine langfristige Lösung zu bieten.

Lang: Es gehört zur Aufgabe von Politik, akut zu handeln. Wir werden mittelfristig aber auch Hartz IV reformieren und eine Kindergrundsicherung einführen, um Familien aus der Armut zu holen. Für ein belastbares soziales Sicherheitsnetz setzen wir auf Lösungen, die lange tragen. Wir müssen zudem über Effizienz und Klimaschutz sprechen. Wenn wir Häuser sanieren, Wärmepumpen einbauen, wegkommen von Öl und Gas, dann sind das auch soziale Maßnahmen. Denn die Leute werden so unabhängiger von teuren Energieträgern.

"Die Menschen erwarten zu Recht, dass wir die Dinge zu Ende denken"

Die Preissteigerungen sind auch eine Folge des Krieges in der Ukraine und der Sanktionen gegen Russland. Die Regierung fordert Solidarität mit der Ukraine ein. Glauben Sie, dass die Menschen im Land dazu bereit sind?

Touré: Ich sehe eine große Solidarität mit den Menschen in der Ukraine und mit denen, die auf der Flucht sind. Aber es gibt eben auch viele in Deutschland, die nicht genügend Geld haben und besonders stark von den Preissteigerungen betroffen sind. Die dürfen und werden wir nicht alleine lassen. Als Gesellschaft können wir der Ukraine nur dauerhaft beistehen, wenn wir uns nicht spalten lassen. Deswegen waren die Entlastungspakete die richtige Antwort. Sie ersetzen aber nicht die langfristigen Lösungen.

Zum Energiesparen würde auch ein Tempolimit beitragen. Wann überzeugen Sie die FDP davon?

Lang: Wir wissen, was das für ein schwieriger Schritt für unseren Koalitionspartner ist. Das will ich gar nicht kleinreden. Ich würde mich bloß freuen, wenn Alternativen genannt würden. Ein Tempolimit bietet die Möglichkeit, die Abhängigkeit von russischem Öl schnell zu senken. Gleichzeitig bin ich zu jeder anderen Maßnahme bereit, die den Verbrauch im Verkehr so schnell senkt. Was hingegen nicht geht: dass beim Verkehr gar nicht über Reduktion gesprochen wird.

Deutschland hat seine Abhängigkeit von russischem Öl stark verringert. Vor einem Gas-Embargo schrecken aber sogar die Grünen zurück, die mal die Partei der großen Visionen sein wollten. Haben Sie Ihren Mut verloren?

Touré: Das ist keine Frage des Mutes, sondern der gesamtgesellschaftlichen Verantwortung. Wir müssen uns fragen: Was würde ein sofortiger Importstopp von russischem Gas für die Industrie und für Arbeitsplätze, für Energie- und Lebensmittelpreise bedeuten? Denn: Sanktionen sind nur wirksam, wenn wir sie auch durchhalten. Ich finde, Robert Habeck hat hier in kurzer Zeit schon krass viel erreicht.

Lang: Die Menschen erwarten zu Recht von uns, dass wir in schwierigen Situationen die Dinge zu Ende denken. Dabei darf eine Regierung nicht nur vom bestmöglichen Szenario ausgehen. Wenn das Bruttoinlandsprodukt im Falle eines Gas-Importstopps um zwei bis drei Prozentpunkte schrumpft, sind das nicht nur leere Zahlen. Dann besteht die Gefahr, dass bestimmte Wirtschaftszweige und ihre Arbeitsplätze dauerhaft verloren gehen. Das tagtäglich abzuwägen mit dem Wunsch, den Menschen in der Ukraine bestmöglich beizustehen, ist unendlich schwierig. Aber es ist Teil der Aufgabe, die sich einer Regierung in diesen Zeiten stellt.

"Wir brauchen eine gleichwertige Behandlung von Ausbildung und Studium"

Der grüne Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck will Terminals für LNG, also für Flüssiggas, vorantreiben, um Deutschland unabhängiger von russischer Energie zu machen. In Schleswig-Holstein haben sich die Grünen aber gegen LNG-Terminals ausgesprochen. Ist der Minister da weiter als die Partei?

Touré: Wir haben dazu in Schleswig-Holstein viele, auch hitzige Debatten geführt. Nun herrscht Krieg auf europäischem Boden. Vor diesem Hintergrund sind wir uns einig: Gas ist ausschließlich eine Brückentechnologie und keine Zukunftstechnologie. Kurzfristig macht uns LNG unabhängiger von Wladimir Putin, die Zukunft aber ist komplett erneuerbar. Neue Infrastruktur muss deshalb auch mittelfristig für Wasserstoff einsetzbar sein. So bereiten wir gleichzeitig auch die massive Nutzung von grünem Wasserstoff vor.

Schleswig-Holstein produziert bereits mehr Strom aus erneuerbaren Energien, als es selbst verbraucht. Was kann der Rest Deutschlands da vom Norden lernen?

Touré: Dass wir die Debatte nicht nur theoretisch führen dürfen. Alle sagen, dass sie für die Energiewende sind, dass das eine super Strategie für die Zukunft ist. Sogar Markus Söder von der CSU in Bayern. Wenn es dann aber an die Umsetzung geht, sieht es plötzlich ganz anders aus. Wir dagegen fragen: Wie können wir in Schleswig-Holstein noch mehr grünen Strom produzieren, damit die gesamte Bundesrepublik davon profitiert? Wir erfüllen schon jetzt das Ziel, zwei Prozent der Landesfläche für Windkraftanlagen zu nutzen. Nun wollen wir drei Prozent erreichen und unsere Vorreiterrolle, unseren Standortvorteil ausbauen.

Lang: In Nordrhein-Westfalen hält die Landesregierung immer noch an Abstandsregeln fest und blockiert damit den Ausbau der Windenergie. Schleswig-Holstein dagegen geht entschlossen voran. Das zeigt: Grün macht den Unterschied. Allerdings reichen die Netze bei Weitem noch nicht aus. Die müssen wir ausbauen und gleichzeitig die Grundlage dafür schaffen, dass überschüssige Energie zum Beispiel in die Produktion von Wasserstoff fließt, statt zu verpuffen. Da gehen die Länder und der Bund jetzt Hand in Hand.

Allerdings sind für die Energiewende nicht nur Platz und Geld nötig. Es mangelt auch an Fachkräften.

Touré: Das gilt nicht nur für den Klimabereich, sondern auch für Kitas und Schulen. Überall herrscht Fachkräftemangel. Das ist definitiv eine Herausforderung unserer Zeit. Wir müssen das Fachkräfte-Einwanderungsgesetz so anpassen, dass mehr Menschen zu uns kommen können, die uns mit ihrem Wissen und ihren Fähigkeiten unterstützen möchten. Gleichzeitig haben wir schon jetzt ein Riesenpotenzial auch bei den Menschen hier im Land. Wir müssen Anreize schaffen für alle, die in Bereichen mit Fachkräftemangel arbeiten möchten. In der Vergangenheit wurde oft so getan, als wäre ein Studium besser als eine Ausbildung. Das ist falsch. Wir brauchen eine gleichwertige Behandlung von Ausbildung und Studium.

"Gleiche Teilhabe muss in allen Parteien möglich sein"

Sie sind beide noch keine 30 und schon Parteivorsitzende beziehungsweise Vizepräsidentin eines Landtags. Sind Sie der Beweis dafür, dass junge Frauen in der Politik da angekommen sind, wo sie hingehören?

Touré: Ja und nein. Es ist sicher ein wichtiges Signal, wenn junge Frauen in Verantwortung sind. Es reicht aber nicht, wenn ein paar von ihnen in Schlüsselpositionen sitzen. Schauen wir doch auf die Gesamtheit der Parlamente in der Republik: Sie sehen immer noch deutlich älter und männlicher aus.

Lang: Spannend ist, dass dieses Gespräch hier ja kein Newcomer-Interview ist. Wir machen das beide schon eine Weile. Das zeigt: Es bildet sich durchaus eine neue Normalität heraus. Aber natürlich hat Aminata recht: Es gibt immer noch strukturelle Probleme. Wer hat denn überhaupt Zeit und Mittel, politisch mitzuwirken? Da müssen wir ran. Und es wird auch nicht genügen, wenn nur wir Grüne den Frauenanteil stärken. Gleiche Teilhabe ist in allen Parteien unabdingbar, macht sie stärker und muss deshalb möglich sein.

Warum ist das so wichtig?

Touré: Wenn immer die gleichen Menschen Politik machen, haben wir ein Repräsentationsproblem. Wenn in einem Parlament etwa 70 Prozent Männer sitzen und die Gesetze für eine Gesellschaft schreiben, die gut zur Hälfte weiblich ist, ist das ein Demokratiedefizit. Hinzu kommt: Die Wählerinnen und Wähler sollten sich mit denjenigen identifizieren können, die politische Entscheidungen für sie treffen. Man kann natürlich auch Menschen vertreten, ohne deren individuelle Erfahrungen gemacht zu haben. Aber gemessen an der Gesamtbevölkerung haben wir einen Überhang an Politikerinnen und Politikern aus bestimmten gesellschaftlichen Gruppen. Das verstellt womöglich den Blick bei wichtigen Entscheidungen.

Lang: Gerade Menschen mit geringem Einkommen haben immer wieder das Gefühl, am Ende werde ich vergessen. Und wenn wir so manche politische Entscheidung der letzten Jahrzehnte anschauen, hatten sie dieses Gefühl zu Recht. Stattdessen muss Politik zeigen: Hier ist ein Ort, an dem du dich einbringen kannst und andere ernsthaft für deine Interessen streiten, gern gemeinsam mit dir.

In den USA demonstrieren vor allem junge Frauen gerade vor dem Supreme Court. Das Oberste Gericht könnte das Recht auf Abtreibung kippen. Was geht Ihnen da durch den Kopf?

Touré: Wir sehen, dass in mehreren Ländern der Welt am Selbstbestimmungsrecht der Frauen gerüttelt wird. Konservative Kräfte haben offenbar ein Interesse daran, dass Selbstbestimmung, Emanzipation und Feminismus gebremst werden. Viele haben schlichtweg Angst davor, dass Frauen Teil von politischen Diskussionen und Entscheidungen sind. Das ist eine fatale Entwicklung.

Lang: Wir müssen uns alle bewusst machen, was es bedeutet, wenn das Urteil "Roe versus Wade" wirklich gekippt wird. 1973 wurden damit Schwangerschaftsabbrüche in den USA für Millionen von Frauen sicher, weil sie ein Recht darauf und damit auch auf entsprechende Gesundheitsversorgung hatten. Sollte dieses Urteil nun fallen, würden wahrscheinlich viele Bundesstaaten Schwangerschaftsabbrüche wieder kriminalisieren. Ungewollt Schwangere hätten dann keinen Zugang mehr zu sicheren Abbrüchen und damit auch keinen Zugang zu einer ausreichenden Versorgung. Das würde Frauen ganz konkret in Gefahr bringen. Am Ende sind Frauenrechte immer auch ein Gradmesser für die Demokratie. Das zeigt sich hier erneut auf erschreckende Weise.

Hätte ein Ende des Abtreibungsrechts in den USA auch Einfluss auf die Diskussion in Deutschland?

Lang: Für die Regierung nicht, denn da sind wir ganz klar auf einer Linie. Wir werden den Paragrafen 219a im Strafgesetzbuch abschaffen, die Information und Gesundheitsversorgung in dem Bereich verbessern. Die Debatte in den USA führt uns eines aber sehr deutlich vor Augen: Auch hart erkämpfte und sicher geglaubte Freiheitsrechte sind niemals in Stein gemeißelt. Sie können immer wieder angegriffen werden. Heißt im Umkehrschluss: Wir müssen sie jeden Tag aufs Neue verteidigen.

Zu den Personen:
Ricarda Lang wurde 1994 in Filderstadt geboren und ist bei einer alleinerziehenden Mutter aufgewachsen. Das Jura-Studium brach sie ab, machte dafür schnell politische Karriere bei Bündnis 90/Die Grünen. 2021 zog sie in den Bundestag ein, Anfang dieses Jahres wurde sie zusammen mit Omid Nouripour Parteivorsitzende.
Aminata Touré kam 1992 in Neumünster zur Welt. Ihre Eltern waren kurz zuvor aus Mali nach Deutschland geflohen. Sie absolvierte ein Bachelor-Studium in Politikwissenschaft und Französischer Philologie an der Universität Kiel. 2017 zog sie in den Landtag von Schleswig-Holstein ein, 2019 wurde sie dessen Vizepräsidentin. Bei der Landtagswahl ist sie Spitzenkandidatin ihrer Partei neben Finanzministerin Monika Heinold.
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