Eine Mehrheit der Deutschen hält die AfD für rechtsextrem. Trotzdem befindet sich die Partei im Aufwind. Wie kann das sein?

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Fabian Hartmann sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Nicolai Boudaghi hatte irgendwann genug. Dabei schien er Karriere zu machen. Er saß im Vorstand des AfD-Bezirks Düsseldorf und hatte es bis zum Bundesvize der Jungen Alternative (JA), der Jugendorganisation der AfD, gebracht. Doch im September 2020 hat Boudaghi sein Parteibuch zurückgegeben.

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"Die Äußerungen bei uns wurden immer radikaler, Extremisten aus dem Burschenschaften-Lager oder von der Identitären Bewegung wurden nicht nur geduldet, sie haben auch den Ton bestimmt", sagt er im Gespräch mit unserer Redaktion. Inzwischen wird die Junge Alternative vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem eingestuft. Eine Entwicklung, die auch der Partei als Ganzes drohen könnte.

Ein bürgerlicher Anstrich? Das war einmal.

Studie: Die extrem Rechten bestimmen den Kurs der AfD

Die Radikalen haben jetzt das Sagen. Zu diesem Ergebnis kommt auch eine kürzlich veröffentlichte Studie der Otto Brenner Stiftung, die zur IG Metall gehört. Es sei den extrem Rechten gelungen, "die strategische Vorreiterrolle in der Partei zu übernehmen", heißt es darin. Antiliberale und autoritäre Politik bilde inzwischen den ideologischen Fixpunkt der AfD, schreiben die Studienautoren, zwei Politikwissenschaftler.

Die Untersuchung fällt in eine Zeit, in der die Republik zunehmend nervös auf die AfD blickt. In den Umfragen erreicht die Partei immer neue Höchstwerte. Zuletzt kam sie auf bis zu 22 Prozent (Insa-Umfrage vom 22.07.), liegt damit nur noch wenige Prozentpunkte hinter der Union. AfD-Chefin Alice Weidel kokettiert bereits mit einem eigenen Kanzlerkandidaten.

Es ist paradox: Einerseits findet eine Mehrheit der Deutschen (57 Prozent), dass der Begriff "rechtsextrem" die passende Beschreibung für die AfD ist. Andererseits scheint viele Wähler – siehe Umfragen – das nicht zu beeindrucken. Spricht daraus eine Protesthaltung oder doch Überzeugung?

"Im Osten könnten etwa 30 Prozent der AfD-Protestwähler sein, bei rund 60 Prozent beobachten wir bestimmte rechtspopulistische und nativistische Einstellungen – etwa die Ablehnung von Eliten oder ein Demokratieverständnis, das nicht alle Menschen einschließt", sagt Hans Vorländer. Er ist Politikwissenschaftler an der Technischen Universität Dresden und beobachtet die AfD und ihre Wähler schon über einen langen Zeitraum.

Was Vorländer in der Diskussion um die AfD wichtig ist: "Studien zeigen trotz alledem, dass der Anteil der Menschen mit geschlossen rechtsextremen Weltbildern in Deutschland zurück geht." Darunter verstehen Sozialwissenschaftler eine Zustimmung zu nationalsozialistischer Ideologie oder Diktaturbefürwortung.

Andererseits, auch das zeigen Studien, haben Ressentiments gegen bestimmte Gruppen, etwa Sinti und Roma oder Muslime, besonders im Osten zugenommen. Davon profitiert die AfD.

Hinzu kommt, dass die Partei in bestimmten Regionen Ostdeutschlands, in Teilen Thüringens oder Sachsens, seit Jahren fest verwurzelt ist, sie konnte, wie Vorländer es nennt, "organisatorische Schlagkraft" aufbauen. Die AfD ist dort in der Gesellschaft verankert. Der Mainstream ist rechts.

Da stört es auch nicht, wenn der Verfassungsschutz die Partei als "rechtsextremistischen Verdachtsfall" einstuft. Im Gegenteil. "Es stärkt die Außenseiterrolle der AfD, die sie bewusst inszeniert", sagt Politologe Vorländer im Gespräch mit unserer Redaktion.

AfD: Der Weg der Professoren-Partei nach rechtsaußen

Das war nicht immer so – oder zumindest nicht in dem Maße. Als die AfD gegründet wurde, 2013, war sie als eurokritische Professoren-Partei gestartet. Eine liberal-konservative Kraft rechts von CDU und CSU wollte sie sein.

Doch mit jedem Wechsel in der Führung rückte die Partei weiter nach rechts. Die früheren Vorsitzenden Bernd Lucke, Konrad Adam, Frauke Petry und Jörg Meuthen haben die AfD längst verlassen. Inzwischen bestimmen Extremisten wie der Thüringer Landeschef Björn Höcke den Kurs der Partei.

"Der westliche Liberalismus wurde zunehmend abgelehnt. Hinzu kamen offen rassistische Äußerungen. Und darauf hatte ich keine Lust mehr."

Nicolai Boudaghi, AfD-Aussteiger

Den Rechtsdrall konnte auch der frühere JA-Vize Nicolai Boudaghi nicht aufhalten. Er hat mit einem weiteren Aussteiger ein Buch über das Innenleben der Partei verfasst. Heute beschreibt er die Entwicklung so: "Der westliche Liberalismus wurde zunehmend abgelehnt. Hinzu kamen offen rassistische Äußerungen. Und darauf hatte ich keine Lust mehr.“ Nun ist es nicht so, dass Boudaghi plötzlich linksliberal tickt. Er ist ein Konservativer, der von der Union enttäuscht ist. Das Migrationsthema, sagt er, ist für ihn immer noch wichtig.

Auf die Frage, warum die AfD trotz ihrer zunehmenden Radikalisierung in den Umfragen so erfolgreich ist, antwortet Boudaghi daher auch: "Das Thema Zuwanderung beschäftigt die Menschen und es beschert der AfD Zulauf."

Die AfD profitiert von den Krisen der Gesellschaft

Doch es gibt, natürlich, auch andere Erklärungsansätze. In einem lesenswerten Beitrag in der "Süddeutschen Zeitung" (Bezahlinhalt) hat der Sozialforscher Klaus Hurrelmann vor einigen Tagen versucht, den Erfolg der AfD zu ergründen. Seine Kernthese: Die Gesellschaft leide an einer Art posttraumatischen Belastungsstörung.

Klimawandel, Corona, Krieg, Inflation – die Krise als Dauerzustand. Viele Menschen fühlten sich machtlos und überfordert. Das mache sich die Partei zunutze, die die Probleme einfach negiert: die AfD. Hinzu komme das schlechte Bild, das die Ampelkoalition in Berlin abgibt.

"Die AfD saugt die Unzufriedenheit mit der Regierungspolitik auf", sagt auch der Dresdener Politikwissenschaftler Hans Vorländer. Die Zustimmungswerte für die Ampel seien historisch niedrig. Und die Union – zerrissen im Flügelkampf zwischen denen, die mit der Ära Merkel brechen wollen und denen, die sie fortsetzen möchten – konnte sich in der Opposition noch nicht als Alternative zur Ampel präsentieren.

Was aber müssten die etablierten Parteien tun, um die Konkurrenz vom rechten Rand wieder schrumpfen zu lassen?

Politik-Kenner Vorländer sagt, die Union brauche Führung, jemanden, der die Lager wieder vereint. Und die Ampel müsste handwerklich sauberer agieren, ihren Kurs auch kommunikativ besser verkaufen. "Das Heizungsgesetz hat zu Missverständnissen geradezu eingeladen", sagt der Forscher. Die Koalition brauche einen Neustart.

So aber zeigt sich vor allem eines: Wenn Regierung und Opposition gleichzeitig am Boden liegen, ein desolates Bild abgeben, profitiert davon nur – die AfD. Egal, wie radikal sie ist.

Zu den Personen:
Hans Vorländer (68) ist Politikwissenschaftler an der Technischen Universität Dresden. Er ist Direktor des Zentrums für Verfassungs- und Demokratieforschung sowie Direktor des Mercator Forum Migration und Demokratie.
Nicolai Boudaghi, Jahrgang 1991, ist studierter Sozialwissenschaftler. Er trat der AfD unmittelbar nach ihrer Gründung 2013 bei. Im September 2020 hat er die Partei verlassen. Zusammen mit Alexander Leschik schrieb er das Buch "Im Bann der AfD".

Verwendete Quellen:

  • Gespräche mit Hans Vorländer und Nicolai Boudaghi
  • sueddeutsche.de: "Partei der Profiteure"
  • taz.de: "Die etablierten Parteien"
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