Überarbeitung ist längst kein exotisches Phänomen aus Japan mehr, man findet sie inzwischen überall. Den Teilrückzug von Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht nahm Anne Will am Sonntagabend zum Anlass, über Arbeitsüberlastung zu sprechen. Der wichtigsten Frage wich Anne Will aber immer wieder aus.

Christian Vock
Eine Kritik

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Sahra Wagenknecht will sich nicht nur aus ihrer Bewegung "Aufstehen" zurückziehen, sondern auch nicht mehr als Fraktionsvorsitzende der Linken kandidieren. Doch während sich die meisten Kommentare auf die politischen Folgen konzentrieren, rückten die Gründe ihres Rückzugs in den Hintergrund: Stress und Überlastung.

Diese Lücke wollte Anne Will am späten Sonntagabend nun schließen und fragte deshalb: "Zwischen Höchstleistung und Überlastung – wann macht Arbeit krank?"

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Mit diesen Gästen diskutierte Anne Will:

  • Sahra Wagenknecht (Die Linke), Fraktionsvorsitzende im Bundestag
  • Thomas de Maizière (CDU), ehemaliger Bundesinnenminister
  • Katja Suding (FDP), Stellvertretende Fraktionsvorsitzende im Bundestag
  • Alexander Jorde, Auszubildender in der Gesundheits- und Krankenpflege
  • Klaus Lieb, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Uni Mainz

Darüber wurde gesprochen:

Sahra Wagenknecht:

Die Linken-Politikerin sei im vergangenen Jahr bereits häufig krank gewesen, 2019 sei sie dann zwei Monate ausgefallen und habe gemerkt, dass sie "den Dauerstress nicht mehr aushalte."

Trotzdem sei sich Wagenknecht bewusst, dass sie sich in einer privilegierten Position befinde, denn viele Menschen, die den gleichen oder noch mehr Stress hätten, könnten nicht kürzer treten.

Dass sich das ändert, dafür wolle sie eintreten und habe sich deshalb auch nicht völlig aus der Politik zurückgezogen.

Arbeitsbelastung von Politikern:

Die sei in der Tat hoch, so die generelle Einschätzung, vor allem das Leben unter permanenter Beobachtung und die ständige Erreichbarkeit würden Politikern, insbesondere denen in höheren Ämtern, zu schaffen machen: "Ein Innenminister muss eigentlich ständig erreichbar sein, immer – Tag und Nacht. Ich habe immer mit dem auf laut gestellten Handy auf dem Nachttisch geschlafen", erklärte beispielsweise Thomas de Maizière.

Beklagen wollte sich aber niemand, schließlich habe man sich freiwillig dafür entschieden.

Arbeitsbelastung in der Pflege:

Hier berichtete vor allem Alexander Jorde von seinen Erfahrungen und die seien alles andere als schön: "Natürlich ist es die enorme Arbeitsbelastung vor Ort, die diesen enormen Stress erzeugt."

Stressauslöser seien das fehlende Personal, der Zeitdruck, der Organisationsaufwand und vor allem die enorme Verantwortung, die man gegenüber Patienten und Angehörigen habe.

Stress an sich:

"Psychische Erkrankungen haben als Ursache für Krankschreibungen auch für Frühberentung deutlich zugenommen", erklärte Psychiater Klaus Lieb und ergänzte, dass es aber auch Strategien gebe, die eigene Resilienz zu stärken.

Das dürfe aber nicht den Arbeitnehmern alleine überlassen werden, auch die Arbeitgeber müssten ein Arbeitsumfeld schaffen, das Stress reduziere.

Worüber nicht gesprochen wurde

Es war leider ein Abend der verpassten Chancen. Es wurde zwar viel über Arbeitsbelastung geredet, aber nur wenig darüber, was man dagegen tun kann. Klaus Lieb gab zwar ein paar kurze Anregungen, aber am Ende ging es nur darum, wie man es schafft, im System zu überleben.

Dass aber das System, das diese permanente Überlastung und Ausbeutung nicht nur generiert, sondern in seiner eigenen Logik geradezu voraussetzt, geändert werden sollte, darüber wurde nicht diskutiert.

Dabei hatte Anne Will mehrfach Gelegenheit dazu, schließlich spielte ihr Sahra Wagenknecht mehrfach einen Steilpass zu, um das große Ganze aufzugreifen: "Wir müssen viel stärker darüber diskutieren: Was wollen wir für eine Gesellschaft sein? Ist der Mensch für die Wirtschaft da oder die Wirtschaft für den Menschen? Ist das sinnvoll, was wir machen, dass sich alles rechnen muss?"

Wie sehr es im gesellschaftlichen Räderwerk knirscht, machte Wagenknecht klar, als sie über den permanenten Leistungs- und Zeitdruck, die Angst vor Hartz IV, die Personalnot, den ständigen Renditedruck und andere Folgen des aktuellen Systems sprach: "Das muss sich dringend ändern. Das macht unsere ganze Gesellschaft kaputt. Das ist so eine Kälte, das ist so zerstörerisch."

Auch als es um die Privatisierung von Krankenhäusern ging und was das für Folgen hat, hätte Will den Bogen zum großen Ganzen spannen können. Zwar ermahnte sie Katja Suding einmal, doch beim Thema zu bleiben, ließ ihr ein erneutes Abschweifen zum Thema Digitalisierung dann doch durchgehen und widmete sich wieder anderen Themen.

So musste Azubi Alexander Jorde der FDP-Politikerin den Zusammenhang zwischen Privatisierung und gestiegenem Arbeitsdruck erklären.

Das stimmte bei der Zusammensetzung der Gäste nicht

Dass Sahra Wagenknecht alleine schon der Aktualität wegen in der Runde saß, ist nur konsequent. Dass auch Thomas de Maizière dabei war, kann man noch nachvollziehen, wenn man über die Arbeitsbelastung von Ministern mehr erfahren wollte.

Warum aber auch noch Katja Suding dabei war und damit von fünf Gästen drei aus der Politik kamen, war dann doch etwas irritierend. Insbesondere, da die Wortbeiträge von Suding nicht nur selten waren, sondern die Diskussion auch inhaltlich nicht voranbrachten, es sei denn man interessiert sich dafür, dass Suding mit dem Druck durch Social Media ganz gut zurechtkommt.

Hier wäre vielleicht eine zweite Stimme aus der Wissenschaft spannender gewesen oder aber jemand, der eine Alternative zum System der Selbstausbeutung gefunden hat und trotzdem zufrieden ist.

Das Fazit

Man wusste nicht, an wen sich die Sendung nun eigentlich richtet: an überarbeitete Politiker, an Menschen, die sich für die überarbeitete Politiker interessieren, an Menschen, die selbst überarbeitet sind und Hilfe brauchen oder an Menschen, die daran interessiert sind, am gesellschaftlichen Grundproblem der Dauerüberforderung etwas ändern wollen – im Zweifel sollten das natürlich auch Politiker sein.

Für jede diese Gruppen war ein bisschen was dabei, aber eben nur ein bisschen. Hätte man von Anfang an gewusst, was man will und sich nur darauf konzentriert, hätte der Zuschauer jedenfalls deutlich mehr gehabt.

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