Zu lasch, zu wenig wirksam, zu mutlos? Anne Will diskutiert mit ihren Gästen über die Bundesnotbremse. Vor allem Wirtschaftsminister Peter Altmaier gerät dabei unter Beschuss.
Im politischen Berlin hat sich am Sonntagabend der Streit um die Kanzlerkandidatur der Union zugespitzt. Nach einer kurzen und unbestimmten Wasserstandsmeldung von Korrespondentin Tina Hasselt blendet
In der ARD-Talkrunde geht es um die Bundesnotbremse gegen die Corona-Pandemie, die die Bundesregierung über eine Änderung des Infektionsschutzgesetzes verankern will. Es wird so engagiert diskutiert, dass das Söder-Laschet-Duell angenehmerweise ziemlich irrelevant wird.
Das sind die Gäste bei "Anne Will"
Peter Altmaier : Die Änderung des Infektionsschutzgesetzes dauere "vier, fünf Tage länger" als nötig, gibt der Bundeswirtschaftsminister (CDU) zu: "Wir waren 2008, 2009 im Stande, in der Banken- und Börsenkrise innerhalb eines Wochenendes einen Schutzschirm von 300 Milliarden aufzuspannen." Er habe sich gewünscht, dass der Bundestag auch jetzt notfalls am Wochenende oder in Nachtsitzungen zusammenkommt.Katrin Göring-Eckardt : Die Grünen-Fraktionsvorsitzende war selbst an COVID-19 erkrankt. Es sei zwar ein milder Verlauf gewesen. "Aber das hat gereicht." Göring-Eckardt sieht beim geplanten Bundesgesetz erheblichen Nachbesserungsbedarf. Sie befürchtet vor allem, dass es nicht wirken wird: "Weil wir die Arbeitswelt nach wie vor nicht anpacken."Christian Lindner : Der FDP-Vorsitzende kritisiert die angedachten Ausgangssperren im Zuge der Bundesnotbremse als unverhältnismäßig – und er versteht nicht, warum der Bund diese überhaupt einführen soll: "Die Länder und die Landkreise haben jetzt schon alle rechtlichen Möglichkeiten zu handeln."Michael Müller : Der Regierende Bürgermeister von Berlin (SPD) verteidigt seinen Beschluss, die Schüler der Klassenstufen 7 bis 9 wieder in den Unterricht gehen zu lassen. Diese Jahrgänge seien nun schon vier Monate nicht mehr in der Schule gewesen, jetzt drohe auch noch die Ausgangssperre. "Da muss ich kein Wissenschaftler sein, um zu verstehen, was das anrichtet."- Melanie Amann: Die Leiterin des Hauptstadtbüros des "Spiegels" befürchtet einen "Jo-Jo-Lockdown", wenn die Landkreise nun zwischen Lockerungen und Lockdown hin- und herwechseln. Sie wünscht sich entschlosseneres Handeln der Politik: "Es ist Aufgabe des Staates, Gesundheit und Leben der Bürger zu schützen."
- Michael Hallek: "Bedrückt und erzürnt" ist der Direktor der Klinik für Innere Medizin der Universitätsklinik Köln. Seiner Meinung nach bekämpft die Politik die Pandemie viel zu langsam. Auch die geplante Verankerung der Notbremse über den Bund komme zu spät: "Wir haben keine Zeit für ein Gesetzgebungsverfahren, das in drei Wochen nicht entschieden ist."
Das ist das Rededuell des Abends
Vor allem Peter Altmaier gerät unter Dauerbeschuss. Katrin Göring-Eckardt wirft ihm vor, die Pandemie nicht richtig zu bekämpfen. Christian Lindner beklagt sich, die Bundesregierung habe die Änderungswünsche der Liberalen zur geplanten Bundesnotbremse ignoriert. Zum härtesten Schlag holt am Ende aber Melanie Amann aus.
"Sie sind ein Mitglied dieser Bundesregierung, die seit 13 Monaten dafür verantwortlich ist, diese Pandemie zu managen", schimpft die Journalistin. "Der Punkt ist doch, dass man bei Ihnen seit Monaten keine weitsichtige Strategie sehen kann, wie Sie gegen diese Pandemie vorgehen wollen."
Es dürfte den CDU-Politiker wenig trösten, dass Amann in diese Kritik auch den Berliner SPD-Bürgermeister Müller neben ihr einschließt: "Ich finde, von Ihnen beiden kriegt man kein Signal: Wie wollen Sie uns durch diese Pandemie bringen?"
Das ist der Moment des Abends bei "Anne Will"
Die Runde hat sich im wilden Parteienstreit verhakt, als der Mediziner Michael Hallek die Diskussion mit einer Notbremse kurz zum Stillstand bringt.
Ruhig aber bestimmt trägt der Klinikdirektor seine Fundamentalkritik vor: "Wir in den Krankenhäusern haben das Gefühl bekommen, unsere Demokratie, unsere demokratische Konstitution ist nicht mehr in der Lage, mit einer Bedrohung wie in einer Pandemie so zurechtzukommen, dass die Menschen sich sicher fühlen und die Mitarbeiter im Gesundheitswesen und die Patienten sich geborgen fühlen."
Dieses fehlende Gefühl müssten alle demokratischen Parteien wiederherstellen, sagt Hallek. Das geschieht seiner Meinung nach nicht mit einem Streit um Einzelheiten. Pandemiebekämpfung sei ein Gesamtkunstwerk mit vielen Dingen, die man richtig machen muss. "Deswegen bitte ich Sie eindringlich, sich in den kommen Wochen zusammenzusetzen und dann so schnell wie möglich eine gemeinsame Lösung zu erzielen."
Das ist das Ergebnis
Für Peter Altmaier ist es nicht gerade der erfolgreichste seiner vielen Talkshow-Auftritte. Sein Versprechen, eine Überfüllung der Intensivstationen zu verhindern, passt schlecht zum zögerlichen Kampf gegen Infektionen am Arbeitsplatz.
Zudem muss der Wirtschaftsminister einräumen, dass er sich weitreichendere Änderungen am Infektionsschutzgesetz gewünscht hätte. Als er dann noch den Mediziner Hallek fragt, was er denn so für Vorschläge zur Pandemiebekämpfung habe, klingt das reichlich hilflos.
Weil engagiert gestritten wird, ist es eine durchaus unterhaltsame Sendung. Allerdings hat Klinikdirektor Hallek völlig recht: Was nützen all die Diskussionen, wenn die Politik dadurch in einer Notsituation nicht mehr in der Lage ist, zu Lösungen zu kommen? Sein Appell klingt nach dem einzig angebrachten Schritt: Regierung und demokratische Opposition müssten jetzt schnell die richtigen Maßnahmen auf den Weg bringen und sie dann auch gemeinsam vertreten.
Ab und zu blitzt wirklich so etwas wie parteiübergreifende Einigkeit auf. Etwa als FDP-Chef Christian Lindner seine Konkurrenten Altmaier und Müller vor zu viel Kritik in Schutz nimmt: Pandemie-Bekämpfung sei eben schwierig. Als Anne Will aber zum Schluss kommen will, redet die Runde schon wieder wild durcheinander. Pandemie-Bekämpfung, ganz schnell und im großen Konsens? Dieses Szenario ist wohl doch zu schön, um wahr zu sein.
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