Bei "Anne Will" wird während des Abends klar: Die sinkende Zahl an Neuinfektionen in Deutschland darf uns nicht den Blick für die Gefahr nehmen. Kanzleramtsminister Helge Braun sagt: "Sie werden die Führung übernehmen" - während Intensivmediziner Uwe Janssens ergänzt, die in Südafrika und Brasilien entdeckten Varianten seien gefährlicher als die in Großbritannien aufgetretene. Die Kontroverse des Abends aber liefern sich zwei andere Gäste.

Eine Kritik
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Welche Mutante ist gefährlicher? Bei "Anne Will" überbieten sich ein Merkel-Vertrauter und ein Mediziner in Schreckensszenarien. Und ein Wirtschaftsforscher stellt unumwunden fest, dass wir auch ein Jahr nach Pandemiebeginn vieles nicht wissen.

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Die Mutanten sind bereits unter uns! Nein, die ARD hat nach dem "Tatort" nicht versehentlich einen Horrorfilm versendet, sondern wie geplant "Anne Will" - gruselig ist trotzdem, was da am Sonntagabend über den Bildschirm flimmert: Kanzleramtsminister Helge Braun (CDU) rechnet fest damit, dass die zuerst in Großbritannien entdeckte B.1.1.7-Variante des Coronavirus sich in Deutschland durchsetzt. Und ein Intensivmediziner warnt eindringlich vor der brasilianischen Mutante.

Was ist das Thema bei "Anne Will"?

Weniger als die Hälfte der Bevölkerung zeigt sich laut "Deutschlandtrend" noch zufrieden mit dem Krisenmanagement, jede weitere Woche im Lockdown zehrt an den Nerven, Angela Merkel nennt die Pandemie eine "Zumutung". Will lotet mit ihren Gästen den Spielraum der Politik aus: "Gefahr durch neue Corona-Mutanten – wie viel 'Zumutung' braucht es jetzt?"

Wer sind die Gäste?

  • Zahlen runter, aber schnell! Dieses Mantra wiederholt Braun an diesem Abend immer wieder. "Die Mutante wird die Führung übernehmen", sagt der Kanzleramtsminister, kontrollierbar sei das Geschehen dann nur bei niedrigen Infektionsraten.
  • Diskutiert wird als Schwellenwert immer wieder ein Sieben-Tage-Inzidenzwert von 50, dabei war das einmal "unser Schreckensgespenst", erinnert Intensivmediziner Uwe Janssens: "Wir wollen unter zehn."
  • Der Journalistin Vanessa Vu von ZEIT Online schwebt ein noch niedrigerer Wert vor: null. Dann könne man auch regional zum normalen Leben zurückkehren "Die Leute sind völlig zermürbt, und das bietet eine Zukunftsperspektive."
  • "Das halte ich für Europa nicht für realistisch", sagt Malu Dreyer (SPD), Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz. Dafür seien die Länder zu verbunden. Und dann ist da noch die Corona-Müdigkeit: "Den Menschen zu vermitteln, dass wir auf null kommen müssen, halte ich im Moment für keine gute Idee."
  • "Die Frage ist: Was ist dauerhaft für uns erträglich?", sagt Michael Hüther, Direktor des Instituts der Deutschen Wirtschaft. Die Antwort gibt er selbst: "Eine Inzidenz von 100 ist eine, mit der wir leben können."

Was ist der Moment des Abends?

"Wir müssen den Menschen beibringen, was auf sie zukommt." Der pandemiegeschulte Zuschauer weiß: Sagt ein Mediziner so einen Satz, sollte man schnell zur Fernbedienung greifen und umschalten, wenn man ruhig schlafen möchte.

Janssens, Ex-Präsident der Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin e.V., wirkt - bei allem Respekt – so überreizt, als würde er derzeit überhaupt nicht schlafen. Die Bettenbelegung auf den Intensivstationen sei noch immer zu hoch, das Personal überarbeitet. Und ach ja, die Mutanten kommen. "Die britische Variante ist nicht die, die mir Sorgen macht", sagt Janssens, und nur für den Hinterkopf: Er redet von B.1.1.7, rund 35 Prozent ansteckender und für explodierende Zahlen in England und Nordirland verantwortlich. "Die südafrikanische ist da noch eine Qualität mehr", fährt Janssens fort, "und die brasilianische erheblich."

Forscher hatten von erneuten Ansteckungen in Manaus berichtet, wo schon das Stammvirus gewütet hatte. "Das Immunsystem war nicht mehr in der Lage, mit den Antikörpern, die sich gebildet hatten, die Mutation zu erfassen." Was auch die Frage aufwerfe, ob eine Impfung gegen diese Mutante helfe.

Ein guter Moment, um ins Bett zu gehen und bis mindestens 14. Februar zu schlafen.

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Was ist das Rede-Duell des Abends?

Die Zahlen müssen runter, darin ist sich die Runde einig, nur über die Dimensionen nicht. Besonders heftig geraten "Zero Covid"-Verfechterin Vu und Wirtschaftsforscher Hüther aneinander. Die Journalistin spricht von einem "zynischen Umgang mit Menschenleben", weil Hüther mit einer Inzidenz von 100 "leben will".

"Dann sage ich Ihnen, Sie nehmen Todesfälle in Kauf, die aus der Zerrüttung resultieren, die Sie mit Ihrem Modell verursachen", kontert Hüther. Die Strategie habe "mit realer Wirtschaft nichts zu tun": "Sie unterbrechen Wertschöpfungsketten, Sie unterbrechen Innovationsketten."

Einspruch von Vu: Die Daten zeigten, dass Staaten, die den Virus in den Griff bekommen haben, auch wirtschaftlich besser davongekommen sind. Auf den Hinweis hat Hüther nur gewartet: "In China hat das gut geklappt." Ein Ablenkungsmanöver, das Vu durchschaut: "Wir reden nicht nur von autokratischen Staaten, sondern auch von Taiwan, Südkorea." Das hat für Hüther etwas mit dem anderen Verständnis von Datenschutz zu tun, was er nicht tiefer begründen kann – aber offenbar geht es sowieso nur darum, das letzte Wort zu behalten.

Wie hat sich Anne Will geschlagen?

Manchmal müssen Journalisten gegen das Lehrbuch verstoßen. Dort steht: Ja/Nein-Fragen vermeiden, lieber offene Fragen stellen. Also nicht: Hat die Bundesregierung versäumt, die Gesundheitsämter vernünftig auszustatten? Sondern: Warum arbeiten im 21. Jahrhundert inmitten einer Pandemie noch weit mehr als die Hälfte der Gesundheitsämter mit Zettel, Stift und Fax?

Will wählt oft einen dritten Weg: Sie stellt gar keine Fragen. Zu den Gesundheitsämtern sagt sie: "Das sind doch Versäumnisse." Zu den Todeszahlen in Deutschland: "Die sind so hoch wie in den USA. Wir haben immer gesagt, unter Trump wurde Corona katastrophal gemanaged. Da sind wir jetzt auch." Und zu Brauns Eingeständnis, es hätten Todesfälle verhindert werden können: "Damit sagen Sie doch eigentlich: Die falschen politischen Entscheidungen haben Menschen das Leben genommen."

Feststellungen statt Fragen – ein raffinierter Trick: Wer widersprechen will, muss das schon sehr gut begründen. Braun versucht es übrigens gar nicht erst, sondern weicht weitestmöglich aus. Auch eine Antwort.

Was ist das Ergebnis?

Immer wieder fragt Will an diesem Abend nach einem Strategiewechsel, und auch, wenn Braun es nicht offen ausspricht, scheint sich der Fokus von der Belegung der Intensivbetten auf die Kontrolle des Infektionsgeschehens zu verlagern. Die Gesundheitsämter sollen wieder in die Lage versetzt werden, die Fälle "liebevoll nachzuvollziehen", wie es Braun ausdrückt. Momentan ist das nicht der Fall, "echt frustrierend, Herr Braun", wirft Will ein.

Frustrierend ist auch die Datenlage, ein wichtiger Punkt, auf den Hüther aufmerksam macht: Die Infektionen seien zu 80 Prozent nicht nachvollziehbar, es fehle an Begleitstudien – und im Bildungssystem an Ideen und Konzepten, wie die verlorene Zeit aufgeholt und die verlorenen Kinder wieder aufgefangen werden können.

Es folgt ein Stoßseufzer der Gastgeberin, der nicht nur diese Stunde, sondern auch die Gesamtsituation gut zusammenfasst: "Warum ist das alles so nach fast 12 Monaten?"

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