Die privaten Pflegeheimkosten steigen – genau wie der Fachkräftemangel: Die Zukunft der Pflege in Deutschland ist eine große Baustelle. Was unternimmt die Politik? Ein Gespräch mit der früheren Altenpflegerin und heutigen Pflegebevollmächtigten der Bundesregierung, Claudia Moll.

Ein Interview

Von Claudia Molls Büro aus kann man über die Dächer von Berlin-Mitte schauen. Jens Spahn hat von hier aus als Bundesgesundheitsminister die Corona-Krise gemanagt, sein Nachfolger Karl Lauterbach hat ebenfalls in diesem Büro gearbeitet. Inzwischen ist er in ein anderes Gebäude gewechselt – und Claudia Moll ist eingezogen.

Mehr aktuelle News

Seit etwas mehr als zwei Jahren ist die resolute SPD-Politikerin mit dem rheinischen Dialekt Pflegebevollmächtigte der Bundesregierung. Ihre Aufgabe: Sie soll in der Politik die Interessen der rund fünf Millionen pflegebedürftigen Menschen in Deutschland vertreten. Mit dem Thema kennt sie sich aus.

Frau Moll, Sie haben selbst als Pflegekraft gearbeitet. Jetzt sind Sie als Politikerin dafür zuständig, Missstände in der Pflege zu beheben – und wissen am besten, dass das nicht so einfach ist. Wie ernüchtert sind Sie?

Claudia Moll: Natürlich ist das schwierig. Wir sind an Koalitionspartner und an die finanziellen Möglichkeiten gebunden. Außerdem gibt es in der Pflege die Selbstverwaltung der Kassen und Einrichtungen. Ernüchtert bin ich aber nicht. Mir macht die Politik einen Riesenspaß, deshalb habe ich für den Bundestag kandidiert. Und wir haben unter diesen schwierigen Umständen enorm viel für die Pflege bewegt, für die Berufsangehörigen genauso wie für die Menschen mit Pflegebedarf. Ich mag es deshalb auch nicht, wenn immer nur über Missstände gesprochen wird. Es gibt so viel Positives.

Worüber sollte denn aus Ihrer Sicht mehr gesprochen werden?

Wir sollten öffentlich mehr darüber sprechen, wie toll dieser Beruf ist. Wir haben die Ausbildung modernisiert, das Pflegestudium wird jetzt vergütet und außerdem hat sich die Bezahlung in den letzten Jahren enorm verbessert. Die Pflege ist ein Berufsfeld mit großen Herausforderungen, aber auch mit großen Chancen und vielen Weiterbildungsmöglichkeiten. Man arbeitet mit unterschiedlichen Berufsgruppen zusammen und Kommunikation ist total wichtig. Auch darüber müssen wir reden, wenn wir wollen, dass junge Menschen auch künftig noch Lust haben, als Pflegekraft zu arbeiten.

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach, bei dem Ihr Amt angesiedelt ist, will die Befugnisse der Pflegekräfte ausweiten und den Beruf damit attraktiver machen. Was erhofft sich die Bundesregierung davon?

Konkret geht es darum, dass Pflegekräfte zukünftig viel eigenständiger arbeiten und entscheiden dürfen, zum Beispiel wenn es um Demenz, Diabetes und Wundversorgung geht. Ich halte das für völlig richtig. Vor allem akademisch ausgebildete Pflegekräfte und solche mit Fachweiterbildungen haben eine ganz große Fachkompetenz. Die müssen sie doch anwenden dürfen. Pflegekräfte lernen in der Ausbildung viel, dürfen aber nicht alles eigenständig tun. Vieles davon machen sie zwar heute schon, aber eben in einem gesetzlichen Graubereich, hier braucht es endlich Rechtssicherheit. Ich weiß nicht, wie oft ich früher in der Pflege meine Kompetenzen überschritten habe.

Allerdings wird das Pflegekompetenzgesetz kaum reichen, um die Personallücke zu schließen. Das Statistische Bundesamt hat berechnet, dass bis zur Mitte dieses Jahrhunderts in Deutschland 280.000 bis 690.000 Pflegekräfte fehlen könnten.

Nein, diese Lücke lässt sich nicht mit einem Gesetz allein schließen. Es hilft aber ungemein, denn mehr Selbstständigkeit wird den Beruf deutlich attraktiver machen. Um diese Lücke zu schließen, müssen wir Pflege gänzlich neu denken, darauf weise ich immer wieder hin.

"Die meisten Menschen möchten bis zum Schluss in ihrer Wohnung leben."

Claudia Moll, Pflegebevollmächtigte

Der Gesundheitsminister will in Zukunft auch "stambulante" Pflege ermöglichen: Pflegebedürftige Menschen sollen möglichst lange – sogar bis zum Lebensende – in ihrer Wohnung bleiben können, dort aber wie in einer Einrichtung versorgt werden.

Die meisten Menschen möchten bis zum Schluss in ihrer Wohnung leben. Wir sind da auf einem guten Weg und haben schon viel vorangebracht. Da müssen aber alle mitziehen: Angehörige, Ehrenamtler, die Kommunen und Länder und natürlich der Bund. Die Zahl der Pflegebedürftigen wird in den nächsten Jahren steigen. Das ist eine Herausforderung für die gesamte Gesellschaft.

Viele Menschen können sich einen Platz in einem Pflegeheim nicht mehr leisten. Die privaten Zuzahlungen belaufen sich im bundesweiten Schnitt inzwischen auf knapp 2600 Euro pro Monat. Was unternimmt die Politik dagegen?

Wir sind im Bund mit den Leistungszuschlägen durch die Pflegekassen vorangegangen. Die Bundesländer könnten ebenfalls zu einer Entlastung beitragen. Sie sind für die Investitionskosten zuständig, also für die Pauschalen für die Erhaltung des Gebäudes. Diese Kosten machen inzwischen pro Person 200 bis 700 Euro aus und müssten per Gesetz eigentlich von den Bundesländern bezahlt werden. Viele machen sich da aber einen ganz schlanken Fuß. In Nordrhein-Westfalen können Bewohner von stationären Pflegeheimen Wohngeld beantragen. Das ist eine gute Sache, aber die gibt es leider nicht in allen Ländern.

Die Pflegeversicherung ist eine Teilkaskoversicherung. Das heißt: Sie deckt nicht alle Ausgaben ab, private Zuzahlungen sind vorgesehen. Ihre Partei, die SPD, hat sich im Wahlprogramm 2021 für die Einführung einer Pflege-Vollversicherung ausgesprochen. Ist das auch Ihr Ziel?

Eine Vollversicherung wäre wünschenswert. Ich halte deren Umsetzung derzeit aber nicht für realistisch. Ich will nichts versprechen, was ich nicht halten kann, denn im Moment sehe ich dafür keine politischen Mehrheiten.

Die Arbeitgeber in der Pflege beklagen auch die gestiegenen Personalkosten. Die Politik habe für bessere Löhne in der Pflege gesorgt, ohne sich darüber im Klaren zu sein, wer die Zeche zahlt.

Ich finde es völlig richtig, dass Pflegekräfte jetzt vernünftig bezahlt werden. Die Refinanzierung der Tarifsteigerung bezahlen nicht die Arbeitgeber, sondern eins zu eins die Pflegekasse.

Trotzdem führen Arbeitgeber die Lohnkosten als Grund an, warum viele Pflegedienste oder Einrichtungen aufgeben müssen.

Wir waren auch alarmiert und haben uns die Zahlen angeschaut. Es gibt aber ungefähr so viele Neugründungen wie Insolvenzen. Wir werden diese Entwicklung weiter sehr genau verfolgen, es lässt sich aber sagen: Die meisten Einrichtungen, die in die Insolvenz gehen, werden schon kurz danach aufgekauft oder sind unter einem neuen Namen am Start. Natürlich muss sich die eine oder andere Pflegeeinrichtung verkleinern – häufig aber, weil es nicht genug Pflegekräfte gibt. Deswegen ist die Attraktivität des Berufs, deshalb sind gute Arbeitsbedingungen und die Bezahlung so wichtig.

Über die Gesprächspartnerin

  • Claudia Moll wurde 1968 in Eschweiler in der Nähe von Aachen geboren. Sie besuchte die Fachschule für Soziales und Gesundheitswesen, arbeitete als Pflegehelferin und als staatlich examinierte Altenpflegerin. 2017 zog sie erstmals als direktgewählte Abgeordnete im Wahlkreis Aachen II in den Bundestag ein. Seit Januar 2022 ist die Pflegebevollmächtigte der Bundesregierung.
JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.