Im Herbst wird in Brandenburg, Sachsen und Thüringen gewählt. Die Umfragen lassen schwierige Regierungsverhältnisse vermuten – und eine starke AfD. Staatsminister Carsten Schneider (SPD), der Ostbeauftragte der Bundesregierung, spricht im Interview über Distanz, Politikverdruss und Hoffnung.
Am Fenster rauschen Felder und Baumreihen vorbei. Der Himmel wirkt niedrig, wie so oft oben im Norden. Schäfchenwolken und das Versprechen, dass das Meer nicht weit entfernt ist.
Staatsminister Carsten Schneider (SPD), der Ostbeauftragte der Bundesregierung, sitzt in der ersten Reihe eines Reisebusses.
Gemeinsam mit seinem Team und einem Tross der Hauptstadtpresse ist er in Nordbrandenburg und Mecklenburg-Vorpommern unterwegs. Es ist seine jährliche Pressereise, das Motto 2024: Energie.
Herr Schneider, Sie sind der Ostbeauftragte der Bundesregierung, in diesem Jahr sind Wahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg. Trotzdem führt Ihre Reise nach Mecklenburg-Vorpommern. Warum?
Carsten Schneider: Mir ist es wichtig, ganz Ostdeutschland in den Blick zu nehmen. Und in Mecklenburg-Vorpommern passiert mit Blick auf Industrie, Forschung und Energie ziemlich viel. Darauf wollte ich aufmerksam machen.
Mit Blick auf die Transformation hin zu erneuerbaren Energien: Ist jetzt die Zeit des Ostens gekommen?
Mecklenburg-Vorpommern produziert schon jetzt viel grünen Strom und hat zudem das Potential, große Mengen grünen Wasserstoff zu produzieren. Das Land leistet einen unglaublich wichtigen Beitrag für die Energiewende. Bei dem Thema entscheidet sich übrigens, ob Deutschland seinen Wohlstand halten kann und ob wir unabhängig in der Energieversorgung werden. Das muss sichtbarer werden.
Es gibt auch Ansiedlung neuer Industrieunternehmen, etwa mit Intel in Sachsen-Anhalt oder Tesla in Brandenburg. Wieso kommt dieser Wandel bei der Bevölkerung nicht an?
Die Früchte der aktuellen Arbeit von Wirtschaft, Gesellschaft und Politik für den Osten wird man erst in zehn bis 20 Jahren so richtig spüren. Hinzu kommt: Viele Menschen glauben nicht daran, dass die Politik einen Unterschied macht. Und sie machen sich Sorgen, wie die vielen Krisen auf der Welt ihr Leben beeinflussen werden. Besonders der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine ist Auslöser für neue Unsicherheit, die auch die Menschen hier spüren. Das nutzen Populisten wie
In Sachsen und Thüringen könnte die AfD bei den Landtagswahlen stärkste Kraft werden. Manche Unternehmen sehen darin ein Standortrisiko.
Das größte Standortrisiko wäre es, wenn Menschen nicht mehr in bestimmte Gegenden ziehen wollen, weil sie sich nicht willkommen fühlen. In den vergangenen 35 Jahren sind viele Menschen aus Ostdeutschland weggegangen, weil es an Arbeit fehlte. Jetzt hat sich das gedreht und es mangelt an Arbeitskräften. Deshalb muss der Osten Zuzugsland werden, denn ohne Zuzug gibt es keine Zukunft. Das macht was mit einer Gesellschaft.
Und zwar?
Die Leute hier haben in den vergangenen Jahrzehnten viele Veränderungen erlebt und sind deshalb vielleicht auch skeptischer und Zuwanderung nicht gewohnt. Wir brauchen nicht nur die Rückwanderung von Menschen, die aus der Region weggegangen sind, sondern auch gezielte Zuwanderung aus dem Ausland. Ich kann es gut verstehen, wenn Menschen nicht dorthin ziehen wollen, wo die AfD die Mehrheit hat. Jedem muss klar und bewusst sein, dass eine Wahlentscheidung auch Konsequenzen für das Zusammenleben und die Entwicklungschancen hat.
Sie meinen, die Ostwahlen könnten für Sachsen und Thüringen viele positive Entwicklungen der vergangenen Jahre kaputtmachen?
Es besteht die Gefahr, dass vieles dort ins Stocken gerät. Die AfD – und wenn wir die Außen- und Sicherheitspolitik noch dazunehmen, auch das BSW – stehen für nationalistische Positionen. Das ist für eine offene Volkswirtschaft gefährlich. Ich appelliere daher an die Verantwortung der Menschen.
Wie machen Sie das?
Ich sage ihnen: Ihr entscheidet für euer Land, entscheidet klug und macht daraus keine Abrechnung mit Berlin. Vielen ist nicht bewusst, was eine regierende AfD tatsächlich bedeuten würde. Die Partei will zum Beispiel die Rolle der Frau zurück in die westdeutschen 50er-Jahre katapultieren. Auch ist sie gegen Mindestlöhne. Ich setze auf Vernunft und einen Erkenntnisgewinn, jedenfalls spüre ich das in den vielen Gesprächen, die ich führe.
Vor der Frankreichwahl gab es ähnliche Befürchtungen vor einem Rechtsruck wie vor den Ostwahlen. Macht Ihnen der Sieg der dortigen Linken Mut?
Es zeigt zumindest, dass Wahlen nicht so ausgehen müssen wie Umfragen. Mir ist aber auch klar, dass die Wahl des Thüringer Landtags unter besonderen Umständen stattfindet. Wir haben es mit einer starken rechtsextremen Partei zu tun, die dabei ist, sich in der Gesellschaft zu verankern. Um das zu ändern, brauchen wir einen langen Atem. Aber: Etwa 70 Prozent der Menschen in Thüringen haben zur Europawahl nicht die AfD gewählt, die Mehrheit unterstützt keine rechtsextremistischen Positionen. Um diese Mehrheit kämpfe ich.
Die Streitereien der Ampelkoalition sorgen doch auch für viel Politikverdruss.
Sie haben jedenfalls nicht geholfen. Vorschläge wie das Heizungsgesetz führen dazu, dass sich die Menschen vor den Kopf gestoßen fühlen. Wir müssen stärker für bestimmte Entscheidungen werben und Konflikte besser hinter verschlossenen Türen austragen.
Sie sind nicht nur Ostbeauftragter, sondern auch Sozialdemokrat. Ihre Partei ist wahnsinnig unbeliebt, in Sachsen könnte sie aus dem Landtag fliegen. Wie erklären sie sich das?
Die SPD ist nicht unbeliebt, sie spielt für die Menschen derzeit nur keine große Rolle. Das ist ein Unterschied. In Thüringen war es schon immer schwer. Dort haben wir mit der Linkspartei eine Konkurrentin, die sich inhaltlich nicht groß von der SPD unterscheidet. Wo wir sehr gute Leute haben, holen wir aber auch deutlich mehr Stimmen, das hat man bei den Kreistagswahlen gesehen. Das strukturelle Problem im Osten ist, dass insgesamt zu wenig Menschen Mitglied einer demokratischen Partei sind.
Das bedeutet, der Wahlkampf in Ostdeutschland ist anders als im Westen?
Wir haben kaum Mitglieder, wir können nicht auf die Mund-zu-Mund-Propaganda setzen. Und die Plakate hängen sich nicht von selbst auf. Die, die dabei sind, sind unfassbar aktiv, aber es sind noch zu wenige.
Dieses Problem hat nicht nur die SPD in Ostdeutschland, sondern auch andere Parteien. Woran liegt das?
Es gibt kaum Vorbilder, etwa in der eigenen Familie, die Mitglied einer Partei sind. Außerdem haben viele Ostdeutsche eine Distanz zum Staat. Die hat auch mit den Erfahrungen aus der DDR und den Umbrüchen und Enttäuschungen der letzten 35 Jahre zu tun. Denn im Osten ging die Demokratie für viele mit Arbeitslosigkeit einher. Immer wieder höre ich auch von Leuten: Ich war einmal in einer Partei, ich gehe in keine mehr. Viele haben sich zwar von ihrer DDR-Erfahrung befreit, aber die Distanz zum Staat ist geblieben. Das macht es sehr schwer.
Wie kann man damit umgehen?
Wir müssen akzeptieren, dass Ostdeutschland ein eigener Erfahrungsraum ist, politisch und gesellschaftlich. Das macht die Vielfalt unseres Landes aus. Ich stelle mir die Frage, ob wir eine andere Form der demokratischen Einbindung brauchen, wie es der Soziologe Steffen Mau in seinem neuen Buch "Ungleich vereint" vorschlägt.
Also eine direktere Demokratie?
Ich bin ein Verfechter der parlamentarischen Demokratie, aber vielleicht müssen wir gesellschaftliche Themen stärker in Bürgerräten diskutieren. So könnten wir mehr Repräsentanz herstellen, nicht nur für Ostdeutsche, sondern auch für andere gesellschaftliche Gruppen, die in der Politik nicht genug vertreten sind. Andernfalls kann es passieren, dass Menschen sich nicht gehört fühlen und auch nicht repräsentiert sehen. Das ist ein Problem.
Könnte diese Einbindung die Stärke der AfD, die wir aktuell – nicht nur, aber auch – in Ostdeutschland beobachten, eindämmen?
Es könnte den Populisten den Wind aus den Segeln nehmen, die immer nur gegen "Die da oben" wettern. Und wer das Gefühl hat, selbst etwas verändern zu können, setzt sich auch mehr mit konkreten Inhalten auseinander, anstatt nur auf diffuse Panik-Postings in den sogenannten sozialen Medien zu regieren. Wir haben als ganzes Land in den letzten 35 Jahren echt viel geschafft und wir können auch künftig viel schaffen, wenn wir zusammenhalten, wie es auch Bundestrainer Julian Nagelsmann in beeindruckender Weise kürzlich gesagt hat.
Über den Gesprächspartner
- Carsten Schneider wurde 1976 in Erfurt geboren. Nach dem Abitur machte er eine Lehre als Bankkaufmann. 1998 zog er erstmals für die SPD in den Deutschen Bundestag ein – damals war er mit 22 Jahren der bis dahin jüngste Abgeordnete jemals. Seit Antritt der Ampelkoalition ist er Staatsminister und Beauftragter der Bundesregierung für Ostdeutschland im Bundeskanzleramt. Schneider ist verheiratet und Vater von zwei Kindern.
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