Die zukünftige Koalition denkt über die Einführung eines Primärarztsystems nach: Einen Termin beim Facharzt zu vereinbaren, soll in den meisten Fällen nur noch über den Hausarzt möglich sein. Das Modell soll Kosten sparen und das lange Warten auf Arzttermine beenden. Doch es bleiben Fragen.
Von 2004 bis Ende 2012 galt in Deutschland die Praxisgebühr. Gesetzlich Krankenversicherte mussten 10 Euro pro Arztbesuch zahlen – es sei denn, sie hatten von Hausarzt oder Hausärztin eine Überweisung zu einem Fachmediziner bekommen. Dann entfiel die Gebühr. Das Ziel lautete, Kosten im Gesundheitswesen zu sparen. Patientinnen und Patienten sollten nicht mehr von Facharzt zu Facharzt laufen, wenn das gar nicht nötig war.
Trotzdem galt die Praxisgebühr als unbeliebt. Ende 2012 schaffte der Bundestag sie wieder ab – einstimmig. Jetzt wird über ihre Rückkehr spekuliert. Hintergrund sind die gesundheitspolitischen Pläne von CDU, CSU und SPD für die nächste Bundesregierung.
Primärarztsystem – das steckt dahinter
Die Arbeitsgruppe Gesundheit der zukünftigen schwarz-roten Koalition hat sich auf die Einführung eines sogenannten Primärarztsystems geeinigt. Das Ziel lautet wie damals bei der Praxisgebühr: Patienten sollen davon abgehalten werden, eigenständig zu viele Facharzttermine auszumachen.
Noch ist nichts beschlossen. Doch so stellen sich Union und SPD ein zukünftiges Primärarztsystem vor:
- Die Vermittlung von Facharztterminen soll in Zukunft nur über die Primärärzte (das sind Haus- und Kinderärzte) oder die Kassenärztliche Vereinigung unter der Nummer 116-117 laufen. Jeder Patient kann seinen Primärarzt selbst wählen.
- Die Primärärzte stellen fest, ob und in welchem Zeitrahmen ein Facharzttermin notwendig ist. Die Kassenärztliche Vereinigung ist dann verpflichtet, dem Patienten einen Termin zu vermitteln.
- Gelingt die zeitnahe Terminvermittlung nicht, sollen Patienten stattdessen auch zu einem ambulanten Facharzt ins Krankenhaus gehen können.
- Ausnahmen sollen für die Augenheilkunde und die Gynäkologie gelten – und für Menschen mit schweren chronischen Erkrankungen. In diesen Bereichen sollen die Patienten auch weiterhin selbst einen Facharzttermin vereinbaren können.
Langes Warten auf Termine
Susanne Johna, Vorsitzende der Ärztegewerkschaft Marburger Bund, findet eine stärkere Lenkung der Patientinnen und Patienten prinzipiell richtig. "Wir haben in Deutschland zu viele ungesteuerte Arztkontakte", sagt sie unserer Redaktion. "Im Moment wählen Patientinnen und Patienten oft den falschen Versorgungsbereich und nehmen zum Teil mehrere Ärzte in Anspruch." Das könne sich das Gesundheitssystem nicht mehr leisten. "Eine bessere Lenkung wäre ein Gewinn für alle – auch für die Patienten, weil so mehr Kapazitäten für Facharzttermine frei werden."
In der Tat warten viele Menschen zum Teil sehr lange auf Facharzttermine. Bei einer Mehrheit der Deutschen untergräbt dieser Missstand inzwischen das Vertrauen ins Gesundheitssystem. Die Pläne von Union und SPD klingen nach einer Art Tauschgeschäft: Die Patienten sollen sich nicht mehr selbst um Termine bei Fachärztinnen und ärzten kümmern, das soll nur noch über den Hausarzt oder die Hotline 116-117 möglich sein. Doch im Gegenzug sollen sie praktisch eine Garantie auf einen schnellen Termin bekommen, wenn der Facharztbesuch wirklich notwendig ist.
Patientenschützer sind skeptisch
Der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch, ist skeptisch, ob das System funktionieren würde. Er warnt vor einer Mehrbelastung für die Hausärztinnen und -ärzte, wenn diese bei der Kassenärztlichen Vereinigung auch noch unzählige Facharzttermine melden sollen. Wegen des allgemeinen Ärztemangels seien bereits 40 Prozent der Landkreise mit Hausärzten unterversorgt, teilt Brysch auf Anfrage unserer Redaktion mit. Beim Primärarztsystem rechnet er mit 2.000 zusätzlichen Patienten pro Jahr und Hausarztpraxis.
Schon heute seien "niedergelassene Medizinerinnen und Mediziner telefonisch kaum erreichbar und rar gesäte Termine meist nur online buchbar", kritisiert Brysch. "Es besteht die Gefahr, dass der dadurch massiv erhöhte Terminbedarf zu Lasten alter, pflegebedürftiger und mehrfach erkrankter Menschen geht." Schon heute gebe es Regionen, in denen Hausärzte Neupatienten ablehnen. "Zu befürchten ist, dass kranke Menschen unter der neuen Doppelstruktur leiden werden", sagt Brysch.
Auch der Weg über die Hotline der Kassenärztlichen Vereinigung dürfte bei vielen Menschen auf Skepsis stoßen. Wer unter der 116-117 anruft, muss dort zum Teil lange warten. Die Hotline müsse personell und strukturell besser ausgestattet werden, damit sie zu den Stoßzeiten besser besetzt ist, sagt Ärztevertreterin Johna. "Innerhalb von fünf Minuten sollten Patienten dort einen Kontakt bekommen und nicht eine halbe Stunde in der Warteschleife hängen."
Doch das wird Geld kosten, das der Staat zuschießen müsste. Denn die Kosten für die Krankenkassen steigen und steigen – zum Jahreswechsel hat die große Mehrheit der gesetzlichen Kassen ihre Zusatzbeiträge erhöht. Bundesgesundheitsminister
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Bundesärztekammer für höhere Kostenbeteiligung
Unklar ist aber, wie das geplante Primärarztsystem genau umgesetzt werden soll. Möglich wäre es etwa, die Praxisgebühr wieder einzuführen. Der Präsident der Bundesärztekammer, Klaus Reinhardt, hat Anfang des Jahres im Interview des Redaktionsnetzwerks Deutschland eine höhere Kostenbeteiligung für Menschen gefordert, die mehrere Ärzte in Anspruch nehmen wollen. Allerdings taucht das Wort Praxisgebühr in den Plänen der zukünftigen Koalition bisher nicht auf. Womöglich, weil die Gesundheitspolitiker wissen, wie unbeliebt es ist.
Auch Ärztegewerkschafterin Johna sieht die Gebühr sehr kritisch. "Wenn sie sehr hoch ausfällt, kann sie unsozial sein und bräuchte viele Ausnahmen – das schafft dann einen hohen bürokratischen Aufwand", sagt sie. "Wenn sie dagegen sehr niedrig ausfällt, hat sie kaum eine Steuerungswirkung."
Was Johna wichtig findet: Die Politik müsse eine mögliche Reform schon jetzt öffentlich erklären. Dafür sei etwa eine Informationskampagne nötig. "Die Patienten dürfen nicht das Gefühl bekommen, in ihrer freien Arztwahl oder Versorgung beschnitten zu werden", sagt sie. Deswegen müsse die Politik ihnen vermitteln: "Wenn die Zahl der unnötigen Arztkontakte verringert wird, bleibt insgesamt mehr Zeit für die Versorgung der Patientinnen und Patienten. Davon profitieren alle."
Verwendete Quellen
- Gespräch mit Susanne Johna
- Stellungnahme von Eugen Brysch
- Abschlusspapier der Arbeitsgruppe Gesundheit der Koalitionsverhandlungen zwischen CDU/CSU und SPD
- Rnd.de: Ärztepräsident Reinhardt: "Die medizinische Versorgung ist Teamarbeit"