Irgendwann endet jeder Krieg. Doch der Weg dahin kann lang sein – und er ist mit einem Friedensvertrag noch nicht zu Ende. Ein Gespräch mit dem Historiker Jörn Leonhard über vermeintlich kriegerische Zeiten und die Aussichten auf Frieden in der Ukraine und im Nahen Osten.

Ein Interview

Der russische Krieg gegen die Ukraine scheint kein Ende zu nehmen, das Land befindet sich in seinem zweiten Kriegswinter. Und dann ist nach dem Überfall der radikalislamischen Hamas auf Israel auch noch ein weiterer schwerer Konfklit ausgebrochen. Mit 2023 geht dem Anschein nach ein besonders kriegerisches Jahr zu Ende.

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Ist das wirklich so? Jörn Leonhard hat in seinem Buch "Über Kriege und wie man sie beendet" zehn Thesen zu Krieg und Frieden aufgestellt. Im Interview mit unserer Redaktion sagt der Professor für Geschichte an der Universität Freiburg: Krieg stellte über weite Phasen der Neuzeit den Normalfall dar.

Herr Leonhard, leben wir in besonders kriegerischen Zeiten?

Jörn Leonhard: Aus historischer Sicht waren die überwiegend friedlichen 70 Jahre Europas zwischen 1945 und den 2020er Jahren eher eine Ausnahme. In dieser Phase gelang es, aus dem Kriegsraum Europa einen Friedensraum zu machen. Krieg stellte über weite Phasen der Neuzeit den Normalfall dar. Jetzt sind wir erneut mit einem Wechselspiel von Krieg und Frieden konfrontiert, das wir in Europa glaubten, überwunden zu haben. Das begann in den frühen 1990er Jahren mit den Kriegen in Jugoslawien, und spätestens mit dem Konflikt in der Ukraine ist der Krieg ins europäische Bewusstsein zurückgekehrt.

Jörn Leonhard. © Ekko von Schwichow

Also täuscht das Gefühl, dass die Welt erst in den vergangenen Jahren besonders unsicher geworden ist?

Die aktuellen Kriege reichen nicht annähernd an die Opferzahlen der Phase zwischen 1914 und 1945 heran. Trotzdem ist das subjektive Bedrohungsgefühl sehr stark, weil moderne Medien eine ganz elementare Nähe zu den Ereignissen vermitteln. Wir sind heute über die Berichterstattung unmittelbare Zeugen kriegerischer Gewalt, egal ob zwischen Aserbaidschan und Armenien, in Lateinamerika, Nordafrika oder natürlich im Nahen Osten und der Ukraine. Das beeinflusst unsere Wahrnehmung von erodierender Sicherheit.

Eine These Ihres Buches lautet: Die Natur eines Krieges bestimmt sein Ende. Was ist die Natur des russischen Krieges gegen die Ukraine?

Aus russischer Sicht hat er viel mit imperialen Kriegsbildern zu tun, man könnte vom Phantomschmerz eines früheren Imperiums sprechen. Es handelt sich aber auch um einen Wertekrieg, denn keine Rede Putins kommt ohne die Disqualifizierung des angeblich moralisch diskreditierten Westens aus. Aus ukrainischer Sicht ist dieser Krieg wesentlich ein Verteidigungskampf um nationale Selbstbestimmung, um die Souveränität als unabhängiger Staat und ein integriertes Territorium. Es gibt sogar ein Element des Religionskrieges, wenn Sie sich die Auseinandersetzungen mit der Russisch-Orthodoxen Kirche ansehen. Das alles macht diesen Krieg so kompliziert.

Ist damit auch ein Weg zum Frieden kompliziert?

Meine These lautet, dass alle Erbschaften eines Krieges in dem Augenblick sichtbar werden, in dem es um ein mögliches Kriegsende geht. Einen glaubwürdigen Frieden zu finden bedeutet, Antworten auf diese Erbschaften zu finden – und in der Ukraine kommen sehr unterschiedliche Konflikte und Kriegskategorien zusammen.

Dabei handelt es sich um einen Krieg zwischen Staaten. Eigentlich müsste er relativ einfach zu beenden sein.

Auf den ersten Blick scheint das so, aber in der Ukraine haben wir es zugleich mit einer massiven Internationalisierung zu tun. Es gibt viel mehr Akteure als die unmittelbaren Kriegsparteien. Die Vereinigten Staaten sind involviert, genau wie die europäischen Staaten, die die Ukraine unterstützen. Auf russischer Seite ist China längst involviert, genau wie der Iran. Die Türkei spielt eine besondere Rolle. Staaten wie Indien und Brasilien nutzen den Krieg, um sich auf der Weltbühne in Position zu bringen. Weil es zwei Kriegsparteien, aber viele weitere beteiligte Akteure gibt, ist die Suche nach einem glaubwürdigen, neutralen Vermittler so schwierig. Das ist im Nahen Osten bei allen Problemen einfacher.

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Wirklich? Der Nahostkonflikt wirkt doch besonders schwer lösbar.

Hier können die USA immerhin auf Israel einwirken - und Katar, Saudi-Arabien sowie Ägypten auf die Palästinenser. Solche Vermittler sind in der Ukraine in dieser Form noch nicht erkennbar. Die lange Vorgeschichte des Nahostkonflikts bedeutet, dass man auf bestimmte Lösungsmodelle zurückgreifen und sie weiterentwickeln kann. Es gibt immerhin ein Konzept für eine Zweistaatenlösung – auch wenn es im Moment wenig Chancen hat, umgesetzt zu werden. Was mich für den Nahen Osten optimistischer macht: Die am Anfang befürchtete Internationalisierung ist bisher ausgeblieben. Es gibt keine zweite Front Israels mit dem Iran und der Hisbollah. Bis jetzt hat die Eindämmung funktioniert – auch wegen der klaren militärischen Abschreckungssignale der USA.

Also sind erste Schritte in Richtung Frieden zwischen Israel und der Hamas wahrscheinlicher als zwischen Russland und der Ukraine?

Dass es im Nahen Osten immerhin zu ersten Waffenruhen und zu einem Geiselaustausch gekommen ist, war ein wichtiger erster Schritt. Dieser Konflikt ist auch viel kleinräumiger. Vor diesem Hintergrund ist eher als in der Ukraine vorstellbar, mit Hilfe aus Europa und Anrainerstaaten wie Ägypten eine Sicherheitszone einzurichten. Ich will den Konflikt nicht kleinreden, aber all diese Ansätze wären in der Ukraine mit deutlich mehr Aufwand verbunden. Zudem fehlen die Akteure, die auf Russland in vergleichbarer Weise Einfluss nehmen könnten.

Jörn Leonhard: "Frieden ist eine Generationenaufgabe"

In beiden Konflikten erscheint ein dauerhafter, stabiler Frieden aber noch aus einem anderen Grund schwer vorstellbar: Die Kriege haben in den Seelen der Menschen gewütet und in der Bevölkerung viel Hass auf die Gegenseite gesät.

Das ist ein entscheidender Punkt. Erst wenn ein Friedensvertrag unterzeichnet ist, beginnt die Arbeit am Frieden. Der Blick in die Geschichte zeigt, wie lange das etwa zwischen Deutschland und Frankreich oder Deutschland und Polen gedauert hat. Belastbares Vertrauen entsteht nicht in einem Moment, es wächst über viele Generationen. Frieden geht nicht allein im Ende der akuten militärischen Kämpfe oder in den politischen Bestimmungen eines Friedensvertrages auf, er muss gesellschaftlich gestaltet werden. Die Geschichte der Deutschen, Franzosen und Polen zeigt, dass das auch nach entsetzlichen Gewalterfahrungen gelingen kann. Aber Frieden ist eine Generationenaufgabe, die Engagement, Geduld und Ausdauer braucht.

Bis dahin war es ein langer Weg: Frankreichs Staatspräsident Francois Mitterand und der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl 1984 bei einer Feierstunde in Verdun. © dpa/Sven Simon

Welche Rolle spielt dabei die Stimmung in der Öffentlichkeit?

Am Ende des Dreißigjährigen Kriegs 1648 oder nach den Napoleonischen Kriegen 1815 konnten Monarchen und Diplomaten noch Frieden schließen, ohne größere Rücksicht auf die Öffentlichkeit zu nehmen. Das Konzept der nationalen Selbstbestimmung wurde mit dem Ersten Weltkrieg zu einer Weltvokabel und einer Hoffnung, auf die sich Menschen weltweit beriefen. Mit dem Durchbruch der Demokratie nach 1918 fanden in vielen Gesellschaften nach den Pariser Friedensschlüssen gleichsam Volksabstimmungen über die Bedingungen des Friedens statt. In Deutschland erwies sich der Versailler Vertrag als schwere außen- und innenpolitische Belastung der Weimarer Demokratie.

Machen die Erwartungen der Menschen in der Ukraine und Russland es auch für die beiden Regierungen schwieriger, Frieden zu schließen?

In Demokratien sind Fragen von Krieg und Frieden bedeutende politische Fragen. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj wird auch an dem Ziel gemessen, die territoriale Integrität und Souveränität seines Landes wiederherzustellen. Auch Benjamin Netanjahu in Israel muss fürchten, diese Krise politisch nicht zu überleben – so wie es schon seiner Vorgängerin Golda Meir in den 1970er Jahren nach dem Jom-Kippur-Krieg ergangen ist.

Und Putin?

Der Aufstand von Jewgeni Prigoschin in diesem Jahr ließ das Regime jedenfalls plötzlich sehr fragil erscheinen. Kriege können in autoritären Regimen auch zu Kippmomenten führen. Und so sind in Russland viele Szenarien denkbar. Einer langen Belastbarkeit könnte eine Palastrevolte, ein Staatsstreich folgen. Solche Szenarien erhöhen den Druck auf Putin. Jemand, der aber fürchten muss, in einer inneren Krise nicht nur die Macht, sondern vielleicht auch das eigene Leben zu verlieren, wird umso weniger zu echten Zugeständnissen bereit sein.

Das bedeutet also nichts Gutes für die Aussicht auf Frieden?

Die nächsten zwölf Monate werden entscheidend sein. Putin beobachtet derzeit, wie stark die Unterstützung der Ukraine in den europäischen Gesellschaften und in den USA in Frage gestellt wird. Es ist sicherlich kein Zufall, dass er jetzt noch einmal viele Milliarden Rubel in die russische Kriegswirtschaft steckt. Er hofft darauf, dass die Unterstützung für die Ukraine erodiert, er kalkuliert mit dem Faktor Zeit. Und er hat aus seiner Sicht gar keinen Grund, Konzessionen anzubieten, wenn er von einem langen Krieg am Ende erwarten kann, doch noch seine Ziele zu erreichen. Insofern befürchte ich, die militärische Situation ist noch nicht wirklich reif für eine politische oder diplomatische Lösung.

Wann wäre das denn der Fall?

Die Reife eines Krieges für ein Fenster der Diplomatie setzt voraus, dass alle Kriegsparteien von der Fortsetzung der Kämpfe auf dem Schlachtfeld weniger zu erwarten haben als von einer politischen Lösung. In der Ukraine kann ich das so noch nicht erkennen. Und auch wenn es zu diesem Ausgang aus dem Krieg kommt, ist die Wahrscheinlichkeit eines klassischen Friedensvertrages gering. Denn nach 1945 endeten immer weniger Kriege auf der Welt mit solchen Verträgen.

Sondern?

Sie gingen vielmehr in eingefrorene Konflikte über. So endete der Koreakrieg mit einem Waffenstillstand, der seitdem über 100.000 Mal gebrochen wurde. Das ist auch ein Szenario für die Ukraine – mit einer Art blutender Grenze, an der immer wieder lokale Konflikte ausbrechen.

Ist der Satz "Irgendwann endet jeder Krieg" trotzdem gültig?

Alle Kriege enden irgendwann, aber es kann eben sehr lange dauern. Und ob ein Frieden wirklich stabil ist oder sich nur als taktische Unterbrechung erweist, weiß man in der Geschichte häufig erst nach vielen Jahren. Mit dieser Unsicherheit müssen wir leben. Ich habe das Buch auch geschrieben, um eine Art von Erwartungsmanagement zu betreiben: Wir müssen uns bewusst machen, mit welchen Faktoren, Hürden, Problemen man rechnen muss, wenn man einen Krieg beenden will. Was kann man unmittelbar in einer politischen Verhandlung erreichen, was vielleicht erst in einigen Jahren und was braucht die Arbeit einer ganzen Generation, um Frieden erfolgreich zu gestalten?

Welche Friedensordnungen haben in der Geschichte gut funktioniert?

Es braucht einen Akteur mit der Bereitschaft, auch nach der Unterzeichnung eines Waffenstillstands oder eines Friedensvertrags in der Region engagiert zu bleiben und die Umsetzung der Bestimmungen notfalls auch militärisch zu erzwingen. Die USA übernahmen diese Rolle nach dem Zerfallskrieg Jugoslawiens. Bereits nach dem Zweiten Weltkrieg spielten sie in Europa eine entscheidende Rolle, indem sie den Menschen in den Nachkriegsgesellschaften durch das Wiederaufbauprogramm des Marshall-Plans eine wirtschaftliche und demokratische Zukunftsperspektive vermittelten. Für uns ist Frieden heute viel mehr als nur die Abwesenheit kriegerischer Gewalt.

Was gehört noch dazu?

Dazu gehören auch die Anerkennung der Opfer, Gerechtigkeit, Verfolgung von Kriegsverbrechen, eine langfristige Perspektive von Sicherheit und Stabilität. Das ist ein hoher Anspruch – und er erfordert einen langen Atem.

Über den Gesprächspartner

  • Prof. Dr. Jörn Leonhard hat Geschichte, Politische Wissenschaft und Germanistik in Heidelberg und Oxford studiert. Nach Promotion und Habilitation wurde er 2006 Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Freiburg. Sein Buch "Über Kriege und wie man sie beendet" ist vor kurzem im Verlag C.H. Beck erschienen. Für 2024 wurde Leonhard der Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft zugesprochen.
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