Seit fünf Monaten tobt ein Krieg im Gazastreifen, in dem die Bundesregierung fest an der Seite Israels steht. Zu fest? Die Bundestagsabgeordneten Gregor Gysi (Linke) und Michael Roth (SPD) diskutieren über deutsche Verantwortung, die Lieferung von Waffen und eine Feuerpause in Nahost.

Ein Interview

Nach dem Massaker der Hamas am 7. Oktober herrschte im Bundestag große Einigkeit: Ohne Gegenstimme sicherte das Parlament dem angegriffenen Israel "jedwede Unterstützung" zu. Auch die Abgeordneten Gregor Gysi (Die Linke) und Michael Roth (SPD) hoben an diesem Tag die Hand.

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Fünf Monate später treffen die beiden für eine Diskussion in den Räumen des Auswärtigen Ausschusses aufeinander. Die Situation ist jetzt eine andere: Während weite Teile des Gazastreifens durch das israelische Militär zerstört wurden und schätzungsweise 30.000 Palästinenser tot sind, wächst international das Unverständnis für Deutschlands Haltung in dem Konflikt.

"Deutschland könnte mehr Druck ausüben", kritisiert Linken-Ikone Gysi die Bundesregierung. Waffenlieferungen nach Israel lehnt er ab. Michael Roth, Mitglied der Kanzler-Partei und Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses, kontert: "Israel wird jeden Tag von seinen Feinden attackiert." Die Einstellung der Militärhilfe sei unverantwortlich.

Herr Roth, Herr Gysi, ist Deutschland zu zögerlich mit Kritik am Vorgehen Israels im Gazastreifen?

Michael Roth: Nein. Es erfordert derzeit mehr Mut, sich an die Seite Israels zu stellen. Wir sollten Deutschlands Rolle auch nicht überhöhen. Nach meinem Eindruck ist nur noch der amerikanische Präsident in der Lage, Einfluss auf den israelischen Premierminister Netanjahu zu nehmen. Und sogar seine Möglichkeiten sind sehr begrenzt.

Gregor Gysi: Deutschland trägt die Verantwortung für die Ermordung von sechs Millionen Jüdinnen und Juden. Die Geschichte und diese Verantwortung werden wir zu Recht nicht los. Manche vergessen in der aktuellen Situation, den 7. Oktober zu erwähnen. Der Hamas-Angriff war ein furchtbares Verbrechen. Selbst wenn man hasst, darf man nicht Mädchen und Frauen vergewaltigen, darf man keine Kinder und Babys töten. Allerdings ist Deutschland manchmal zu zögerlich, die eine oder andere Wahrheit auszusprechen.

Unsere Reporter Joshua Schultheis (l.) und Fabian Busch (2.v.l.) im Gespräch mit Michael Roth (SPD, r.) und Gregor Gysi (Die Linke, 2.v.r.) im Paul-Löbe-Haus in Berlin. © Hannes Jung

Was meinen Sie damit?

Gregor Gysi: Israel sagt, die Hamas verstecke sich hinter der Zivilbevölkerung in Gaza. Wenn das stimmt, begeht die Hamas damit ein Kriegsverbrechen. Aber deshalb darf Israel trotzdem keine Zivilisten in Gaza töten. Man darf ein Kriegsverbrechen nicht mit einem anderen Kriegsverbrechen bekämpfen. Deutschland könnte mehr Druck ausüben – zum Beispiel für eine bessere Gesundheitsversorgung. Bei der humanitären Hilfe gibt es noch viel zu tun.

Herr Roth, unternimmt Deutschland in dieser Hinsicht zu wenig?

Michael Roth: Deutschland gehört seit Jahrzehnten zu den größten Gebern humanitärer Hilfe für die palästinensischen Gebiete. Europa und die USA leisten deutlich mehr als arabische Staaten, die die Palästinenserinnen und Palästinenser gerne als ihre Schwestern und Brüder bezeichnen. Wir suchen ständig nach neuen Wegen, damit die Hilfe bei den Menschen im Gazastreifen ankommt, die nicht verantwortlich sind für diese furchtbaren Terrorakte.

"Ich bin generell gegen Waffenlieferungen."

Gregor Gysi, Bundestagsabgeordneter

Deutschland liefert aber auch Waffen an Israel. Wie passt das zusammen?

Michael Roth: Im vergangenen Jahr hat Israel Rüstungsgüter im Umfang von 326 Millionen Euro aus Deutschland bekommen. Gemessen an der milliardenschweren militärischen Unterstützung durch die USA ist das aber eher bescheiden. Ich will daran erinnern, dass Israel jeden Tag von seinen Feinden attackiert wird. Von der Hamas, der Hisbollah, von den Huthis, aus Syrien, aus dem Irak. Dagegen muss es sich wehren können. Wer jetzt die Militärhilfe einstellt, der riskiert, dass Israels Sicherheit geschwächt wird und dass weitere Israelis zu Tode kommen.

Gregor Gysi: Von Deutschland ging der schlimmste Krieg der Menschheitsgeschichte aus: der Zweite Weltkrieg mit 50 Millionen Toten. Trotzdem sind wir der fünftgrößte Waffenexporteur der Welt, auch in diesem Jahr wieder. Ich bin überzeugt, dass wir nicht das Recht haben, an Kriegen zu verdienen. Und deshalb bin ich generell gegen Waffenexporte.

Auch wenn sie nach Israel gehen?

Gregor Gysi: Wenn ich generell gegen Waffenexporte bin, kann ich bei Israel nicht einfach eine Ausnahme machen. Ich möchte aber auch betonen: Ein sicheres, souveränes Israel ist enorm wichtig. Dass Deutschland an der Seite Israels steht, ist für mich eine Selbstverständlichkeit.

Wenn Deutschland Israel aber keine Waffen zur Verteidigung liefern würde – was wäre dieses Versprechen dann Wert?

Gregor Gysi: Eine Menge. Wir leisten ja auch humanitäre Hilfe. Wir werden vielleicht eines Tages beim Aufbau eines zweiten Staates, also eines palästinensischen Staates, helfen. Möglicherweise werden dann Menschen in andere Gebiete umziehen. Diese Menschen werden Wohnungen und Arbeitsplätze brauchen. Das alles kann Israel allein gar nicht bezahlen.

Auch Sie haben am 10. Oktober allerdings einer Resolution des Bundestages zugestimmt, Herr Gysi. Darin hat der Bundestag Israel "jedwede Unterstützung" zugesichert. Das schloss doch Waffenlieferungen mit ein.

Gregor Gysi: Das kann man so und so interpretieren. Ich war sehr dafür, dass wir uns bei einem so wichtigen Beschluss mit einer Verurteilung des Angriffs des 7. Oktober nicht enthalten oder mit Nein stimmen.

"Deutschland ist von Antisemitismus und Israelhass erschüttert."

Michael Roth, Bundestagsabgeordneter

Inzwischen ist viel passiert. Bräuchte es jetzt eine neue Resolution, die Israel zur Besonnenheit aufruft?

Gregor Gysi: Wir diskutieren in der Linken über einen Antrag. Ich bin inzwischen für einen Waffenstillstand. Sonst hat die Zivilbevölkerung keine Chance: Sie darf nicht nach Israel, sie darf nicht nach Ägypten, es herrschen furchtbare Zustände. Ich bin derselben Meinung wie Michael Roth: Die Strukturen der Hamas müssen zerstört werden. Aber die Zivilbevölkerung muss geschont werden. Kinder wachsen dort ohne ihre getöteten Eltern auf, dadurch entsteht doch ein unglaublicher Hass.

Michael Roth: Ich habe überhaupt nichts gegen eine neue Resolution. Nach meinem Eindruck ist der Deutsche Bundestag gerade ein Hort der Stabilität und Solidarität in einem Land, das von Antisemitismus und Israelhass zutiefst erschüttert wird. Ich bin allen dankbar, die hier eine Stimme der Vernunft sind. Aber hinter Ihrer Frage steht ja etwas ganz anderes.

Per Du: Michael Roth (l.) und Gregor Gysi sitzen seit vielen Jahren gemeinsam im Bundestag. © Hannes Jung

Was denn?

Michael Roth: Den Freundinnen und Freunden Israels wird gerne eine falsch verstandene Solidarität mit der Netanjahu-Regierung unterstellt. Das ist unfair. Ich könnte genügend Punkte benennen, bei denen ich dezidiert nicht übereinstimme mit dieser in Teilen rechtsextremen Regierung. Wir kritisieren beispielsweise regelmäßig den völkerrechtswidrigen Bau von Siedlungen im Westjordanland. Auch einzelne Äußerungen israelischer Minister waren absolut inakzeptabel. Aber im Konflikt mit der Hamas dürfen wir Ursache und Wirkung nicht vertauschen.

Sie meinen den 7. Oktober.

Michael Roth: Ja. Ich will Gregor Gysi ausdrücklich danken. Er hat immer wieder darauf hingewiesen, dass dieser Krieg nur eine einzige Ursache hat: das Massaker vom 7. Oktober, das in Israel tiefe Wunden geschlagen und zu einer großen Traumatisierung geführt hat. Zu den bewegendsten Begegnungen in meiner bisherigen politischen Arbeit gehörten die Gespräche mit den Angehörigen von Geiseln. Sie erwarten, dass alles dafür getan wird, dass ihre Kinder, Enkel, Brüder oder Eltern befreit werden. Das kommt in der Debatte nach so vielen Monaten leider viel zu kurz.

In der deutschen Politik ist man sich auch einig, dass der Nahostkonflikt langfristig nur mit der Zwei-Staaten-Lösung zu befrieden ist, also einem palästinensischen Staat neben Israel. Die israelische Regierung will davon derzeit aber nichts wissen.

Gregor Gysi: Ich habe vor einem Jahr noch gesagt: Eine Zwei-Staaten-Lösung im Nahen Osten werde ich nicht mehr erleben. Inzwischen bin ich mir nicht mehr so sicher. Es klingt vielleicht absurd. Aber gerade jetzt ist eine Zwei-Staaten-Lösung noch notwendiger. Möglicherweise spielt Netanjahu auf Zeit und wartet darauf, dass Donald Trump die Wahl in den USA gewinnt und sich noch stärker auf die Seite Israels schlägt als Joe Biden. Doch auch Trump wird unter dem Druck arabischer Staaten stehen. Und vielleicht ist die Regierungszeit von Netanjahu ohnehin bald Geschichte.

Michael Roth: Da sind wir beide ähnlicher Auffassung. Die Zwei-Staaten-Lösung ist ein langer und beschwerlicher Weg, und die israelische Regierung strebt sie derzeit leider nicht an. Doch die relevanten Kräfte in der Region – hoffentlich auch die moderaten arabischen Staaten – machen hier zurecht Druck. Denn sonst wird es keinen dauerhaften Frieden geben. Allerdings kann ich mir keine Zwei-Staaten-Lösung vorstellen, mit einer weiterhin aggressiven Präsenz der Terrororganisation Hamas. Deshalb halte ich es für richtig, die verbliebene Infrastruktur der Hamas zu zerstören.

"Kriegsverbrechen darf man nicht mit Kriegsverbrechen beantworten."

Gregor Gysi, Außenpolitiker

Südafrika klagt vor dem Internationalen Gerichtshof und wirft Israel Völkermord an den Palästinensern vor. Wenn Sie Israel Kriegsverbrechen vorwerfen, Herr Gysi, finden Sie dann auch den Vorwurf des Völkermords gerechtfertigt?

Gregor Gysi: Der Begriff wird oft viel zu schnell verwendet. Völkermord bedeutet, dass Zivilisten ermordet werden, um ein ganzes Volk oder eine Bevölkerungsgruppe zu beseitigen. Israels Ziel besteht aber nicht darin, die Palästinenser auszulöschen. Ich verwende dieses Wort jedenfalls nicht. Ich sage nur: Kriegsverbrechen darf man nicht mit einem anderen Kriegsverbrechen beantworten. An meiner Solidarität mit Israel ändert das nichts.

Michael Roth: Ich finde den Vorwurf eines Völkermords abenteuerlich, ehrabschneidend und ahistorisch. Das Verbot des Völkermords wurde erst nach 1945 als Reaktion auf den Holocaust entwickelt. Jetzt Israel einen Völkermord zu unterstellen – das muss wirklich jeden Menschen jüdischen Glaubens schwer treffen.

Auch ohne einen Völkermord bleiben aber nach den meisten Schätzungen etwa 30.000 Tote in Gaza.

Michael Roth: Natürlich hat Israel die völkerrechtliche Verantwortung, die palästinensische Zivilbevölkerung zu schützen. Jedes zivile Opfer ist eines zu viel. Die israelische Armee steht aber vor einem schweren und herzzerreißenden Dilemma. Der Gazastreifen ist der Lebensort von rund zwei Millionen Menschen auf engstem Raum. Gleichzeitig ist er aber das größte Terrorcamp der Welt. Die Hamas missbraucht Moscheen, Krankenhäuser, Wohnungen, Schulen als Terrorzentralen und Waffenlager. Leider ist es da nicht immer leicht, die Zerschlagung ihrer Infrastruktur und den Schutz von Zivilisten klar voneinander abzugrenzen. Natürlich erwarte ich von der israelischen Armee, dass sie bei ihren Militäraktionen so zielgenau wie möglich vorgeht und humanitäre Hilfe nicht behindert.

Deutschland hat die Zahlungen an das UN-Flüchtlingshilfswerk UNRWA eingestellt. Der Grund waren Vorwürfe, dass UN-Mitarbeiter am Massaker des 7. Oktober beteiligt waren. War das der richtige Schritt?

Gregor Gysi: Ich bin natürlich dafür, diese Vorwürfe zu untersuchen. Wir dürfen deshalb aber die Hilfe für die Zivilbevölkerung nicht einschränken. Wenn es mit UNRWA nicht mehr geht, muss man einen anderen Weg finden.

"Die Hamas hat eine Feuerpause abgelehnt."

Michael Roth, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Bundestages

Michael Roth: Deutschland kürzt keine Mittel, wir stocken die humanitäre Hilfe permanent auf. Nur geht sie derzeit nicht an die UNRWA, sondern an andere Hilfsorganisationen. Die UNRWA wurde ursprünglich für den Schutz der Palästinenserinnen und Palästinenser gegründet. Wir brauchen eine UN-Organisation, die auf palästinensischer wie auf israelischer Seite Vertrauen genießt. In Israel ist dieses Vertrauen derzeit nicht mehr vorhanden. Deswegen sind die Untersuchungen wichtig.

Es gibt aber auch Stimmen, wonach die Strukturen der UNRWA in Gaza unersetzbar sind. Ohne ihre Infrastruktur könnten andere Hilfsorganisationen es schwer haben, Hilfe effektiv zu verteilen.

Michael Roth: Deswegen ist eine temporäre Feuerpause so wichtig. Sie würde es anderen Hilfsorganisationen ermöglichen, ihre Nahrungsmittel und Medikamente dorthin zu bringen, wo sie händeringend gebraucht werden. Außerdem müssen die verbliebenen israelischen Geiseln endlich befreit werden. Mit jedem Tag, den die Geiseln länger in den Händen der Hamas sind, sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass sie lebend aus dieser Hölle herauskommen. Allerdings hat die Hamas diese Feuerpause abgelehnt.

Sie sind also für eine Pause der Kämpfe – aber nicht für einen dauerhaften Waffenstillstand?

Michael Roth: Wir unterstützen Israel in seinem Verteidigungskampf und im Ziel, die Hamas-Strukturen im Gazastreifen zu zerstören. Gleichzeitig gibt es aber zwei weitere Prioritäten: erstens die Befreiung der israelischen Geiseln und zweitens gesicherte Zugänge für humanitäre Hilfe. Das alles zusammen ist nur mit einer humanitären und zeitlich befristeten Feuerpause zu erreichen.

Herr Gysi, Ihre Partei fordert dagegen einen dauerhaften Waffenstillstand. Ist das nicht eine Zumutung gegenüber Israel? Schließlich gab es diesen Waffenstillstand schon – vor dem 7. Oktober.

Gregor Gysi: Ich sage auch: Die Hamas-Strukturen müssen zerstört werden. Ich höre aber, dass diese Strukturen schon ziemlich beeinträchtigt sind. Ich denke, dass Israel sich jetzt einen Waffenstillstand leisten kann. Wenn es nur eine Pause gibt, geht das Töten danach wieder weiter. Eine Feuerpause wäre besser als gar nichts – aber eigentlich brauchen wir einen Waffenstillstand.

Über unsere Gesprächspartner:

  • Michael Roth ist 1970 im hessischen Heringen geboren. Seit 1998 sitzt der studierte Politologe für die SPD im Bundestag. Roth war von 2013 bis 2021 Staatsminister für Europa im Außenministerium und ist seit 2021 der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages.
  • Gregor Gysi, geboren 1948 in Berlin, begann seine politische Karriere in der DDR und war maßgeblich an der Transformation der SED zur Partei Die Linke beteiligt. Von 1990 bis 2002 und erneut seit 2005 ist Gysi Mitglied des Deutschen Bundestages. Bis September 2023 war er der außenpolitische Sprecher der Linksfraktion im Bundestag.
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Teaserbild: © Hannes Jung