Seit 2010 wird Großbritannien von den Tories regiert. Doch wie aktuelle Umfragen zeigen, könnten die Konservativen am 4. Juli ein Wahldebakel erleben, das den Chef der Labour-Partei Keir Starmer zum Nachfolger des amtierenden Premierministers Rishi Sunak macht.

Ein Porträt
Dieser Text enthält neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Stefan Matern sowie ggf. von Expertinnen oder Experten. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Laut gewichteten Umfragen von "Politico" liegt Labour seit Juli 2023 bei konstant über 40 Prozent und damit deutlich vor den Konservativen, die sich sogar in einem leichten Abwärtstrend befinden und bei derzeit 21 Prozent stehen.

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Keir Starmer hatte nach der Niederlage bei den Parlamentswahlen im Jahr 2017 die Direktive vorgegeben, dass die Labour-Partei eine bedeutungsvolle und inhaltliche Vision der Zukunft entwerfen müsse: "Du gewinnst Wahlen nicht, indem du den Menschen erzählst, wogegen du bist. Wir sind sehr gut darin, Dinge aufzulisten, die uns an der Arbeit der Tories nicht gefallen. Aber man gewinnt Wahlen, indem man erzählt, wofür man steht und was besser werden wird", so Starmer im Guardian.

Labour-Chef Keir Starmer: "Wahlen zu gewinnen ist alles, wofür ich hier bin"

Gleichermaßen hatte Starmer angekündigt, dass er die Arbeit in der Labour-Partei vorantreibe, um Wahlen zu gewinnen: "Wahlen zu gewinnen ist alles, wofür ich hier bin." Damals wurde er noch belächelt. Doch nach einer weiteren Wahlniederlage bei den vorzeitigen Parlamentswahlen im Dezember 2019, als Jeremy Corbyn ein historisch schlechtes Ergebnis für Labour einfuhr, steht Starmer nun kurz vor seinem größten politischen Erfolg.

Dabei war Ende Mai beim letzten "Prime Minister’s Questions", einem ritualisierten Vorgang, bei dem sich die Regierung der Kritik der Parlamentarier stellen muss, noch überhaupt nicht klar, dass die Wahlen im Vereinigten Königreich schon Anfang Juli stattfinden würden. Das hatte Premier Rishi Sunak nach dem parlamentarischen Rededuell nämlich angekündigt.

Gut möglich also, dass die Aussprache Ende Mai die letzte war, die Starmer als Oppositionsführer führte. Er hatte den Premier vor allem im Hinblick auf den nationalen Gesundheitsdienst NHS angegriffen und Reformen gefordert.

Das schlägt sich auch im jüngst vorgestellten Wahlprogramm der Labour-Partei nieder, das mit de Versprechen von "Change", also Wandel, einen der wohl ältesten Wahlkampfslogans bedient. Die Reformen im Gesundheitswesen, Wirtschaftswachstum – Labour spricht von einem "Kickstart" – und klimaneutrale Energie sind die Hauptthemen, denen sich Starmer widmen will.

Gleichermaßen betreibt er Erwartungsmanagement und stellt unter Verweis auf den Schaden, den Liz Truss der britischen Wirtschaft in unter 50 Tagen zugefügt habe, fest: "Wir leben in den schwierigsten Verhältnissen seit langer Zeit." Diese defensive Art kommt jedoch nicht bei allen an.

Nicht alle Labour-Mitglieder sind von Starmer überzeugt

Wenngleich Starmers zurückhaltende, abwägende und rationale Vorgehensweise nach der krachenden Niederlage unter dem Linksaußen Jeremy Corbyn verständlich ist – immerhin erlitt die Labour-Partei gemessen an der Zahl der Mandate im Unterhaus die schlimmste Niederlage seit dem Zweiten Weltkrieg – stehen nicht alle Labour-Mitglieder hinter Starmers Kurs. Die Leiterin der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung in London, Michèle Auga, sagte dem Tagesspiegel: "Nicht alle Labour-Mitglieder überzeugt das."

Wenig defensiv ist dagegen Starmers Vorgehen gegen den ehemaligen Parteichef gewesen. Er hatte sich scharf von Corbyn distanziert und ihn aus der Partei geworfen. Corbyn wird nun als unabhängiger Kandidat in seinem Wahlkreis antreten und könnte damit der Labour-Partei Stimmen am linken Rand stehlen.

Denn Starmer steht mittlerweile für einen Mitte-Rechts-Kurs innerhalb der Partei. Kritiker werfen ihm vor, seine linkeren Positionen zugunsten des politischen Erfolgs verkauft zu haben. Kein Wunder also, dass Premier Sunak Starmer laut "derstandard" als "Mann ohne jede Überzeugung" kritisiert.

Dabei ist Starmer so verwurzelt in der Labour-Partei, wie man es nur sein kann. Er ist ein Sohn von Eltern aus der Arbeiterklasse, die ihn nach dem Sozialisten Keir Hardie benannten. Er möge seinen Namen heute, habe aber in der Schule Probleme damit gehabt, sagte Starmer dem Guardian. "Wir hatten nicht viel Geld und sie waren Eltern, die den Guardian lasen und der Labour Party zuneigten. Das schuf unweigerlich eine Atmosphäre, in der sich mein Denken entwickelte", so Starmer.

Die Geschichte vom Kind aus der Arbeiterklasse

Als zweites von vier Kindern ist der Labour-Chef das einzige Kind der Familie, das es auf die Universität schaffte. Starmer studierte Jura in Leeds und in Oxford. Seine Eltern hätten es aber geschafft, trotz des unterschiedlichen beruflichen Erfolges alle Kinder gleichzubehandeln.

Gleichheit, Gerechtigkeit, Arbeiterklasse – auch sein persönlicher Werdegang scheint Starmers politische Positionen widerzuspiegeln. So jedenfalls in der Erzählung des Politikers, die er zu verschiedenen Anlässen wiederholt.

Dazu gehört auch seine Liebe für den Fußball. Der Fan von Arsenal London spielt auch selbst gerne und verknüpft die sportliche Betätigung mit seiner politischen Ausrichtung: "Wenn man Fußball spielt, spielt man mit allen möglichen Leuten Fußball, und wenn man danach mit jemandem, der arbeitslos ist, in der Kneipe sitzt, ist ein gewisses Maß an Scherzen vorprogrammiert", so Starmer im Guardian. Auch seine Arbeit als Anwalt spiegelt diejenigen Werte wider, für die sich Starmer einsetzen will.

Als Menschenrechtsanwalt hatte er sich gegen die Todesstrafe in Commonwealth-Staaten eingesetzt und Aktivisten vertreten, die gegen irreführende Werbung des Konzerns McDonald’s opponiert hatten. Im Jahr 2003 hatte er den Irakkrieg seines Parteifreundes Tony Blair als völkerrechtswidrig kritisiert.

Er habe seine Meinung dazu nicht geändert und werde das auch nicht tun, sagt Starmer heute dem Guardian: "Ich bin immer noch der Meinung, dass es nach internationalem Recht illegal war."

Boris Johnson nennt Starmer "nichtssagenden menschlichen Poller"

Der Startschuss seiner politischen Karriere erfolgte, aufgrund seines anwaltlichen Erfolges, erst mit 52 Jahren, als sich Starmer zu einer Kandidatur für das britische Unterhaus durchrang. Und das, obwohl er bereits seit seiner Jugend Labour-Mitglied war.

Dass ihm der Wechsel von der Juristerei in die Politik auch heute noch schwerfällt, illustriert der Vorwurf, den ihm auch seine potenziellen Wähler machen. Meinungsforscher von Savanta (Studie hier zum Download) hatten nach Attributen gefragt, die Wähler verschiedenen Politikern zuordneten.

Das Urteil über Starmer, das auch durch die Medien ging: langweilig. Denn Starmers Politikstil ähnelt der Beweisführung im Gerichtssaal: Nüchtern, rational, besonnen – ohne Unwahrheiten, ohne Emotionen. Boris Johnson nannte Starmer laut der Nachrichtenagentur PA daher wenig schmeichelhaft einen "nichtssagenden menschlichen Poller."

Im Gegensatz zu Boris Johnson, dessen Brexit-Kampagne die Zusammenarbeit mit der Europäischen Union nicht erleichtert hat, ist Starmer überzeugter Anhänger der Europäischen Union. Nach dem Brexit-Referendum hatte er sich für ein zweites Votum eingesetzt, um den Austritt doch noch verhindern zu können.

Während er offiziell eine Rückkehr in den Binnenmarkt oder die Freizügigkeit ausschließt, dürfte klar sein, dass sich die Verbindungen zwischen der Europäischen Union und Großbritannien unter einem Premierminister Starmer verstärken würden.

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Zentrale Botschaft: Sind für die Wirtschaft und die Arbeitnehmer

Kurz vor der britischen Parlamentswahl mehren sich die Anzeichen, dass der Aufschwung der britischen Wirtschaft zum Stillstand gekommen ist. Da stoßen die Worte Starmers bei vielen Wählern auf Wohlwollen: "Die Schaffung von Wohlstand ist unsere oberste Priorität. (...) Wir sind für die Wirtschaft und für die Arbeitnehmer."

Fast klingt Starmer wie ein Kandidat aus dem Märchen, der darüber hinaus von konstant hohen Umfragen für seine Partei getragen wird. Ein Arbeiterkind, das den sozialen Aufstieg geschafft hat, dabei seine Wurzeln nicht vergisst und es mit seinen Leistungen als Staatsanwalt sogar zum Titel "Sir" gebracht hat. Was kann den Labour-Chef da noch aufhalten, möchte man fragen?

Was kann den Labour-Chef noch aufhalten, Premierminister zu werden?

Paradoxerweise ist es gerade seine Aufstiegsgeschichte, die ihm offenbar viele Menschen nicht abnehmen. Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov antworteten 46 Prozent der Befragten auf die Frage, ob Starmer eine Verbindung mit normalen Menschen hätte: Nein. So könnte Starmer nach Olaf Scholz ein weiterer sozialdemokratischer Regierungschef sein, der vor allem aufgrund der Schwäche seiner Konkurrenten ins Amt gespült wird.

Denn, obwohl der Ausgang des ersten TV-Duells zwischen Starmer und Sunak laut "Standard" umstritten war und das spezielle Format mit zeitlich begrenzten Beiträgen Sunak deutlich besser lag, gewannt Starmer die Nachfragen des Meinungsforschungsinstituts Savanta nach persönlichen Attributen.

Die Befragten hielten Starmer in der Mehrheit für ehrlicher und gelassener und gaben darüber hinaus an, er habe die durchdachtesten Antworten gegeben. Und das sind, so viel ist sicher, für die Entscheidung an den Wahlurnen, nicht die schlechtesten Attribute.

Verwendete Quellen:

So läuft die Parlamentswahl in Großbritannien ab

Am 4. Juli wird in Großbritannien ein neues Parlament gewählt. Insgesamt gibt es 650 Wahlkreise. Jeder Kandidat, der eine Mehrheit in seinem Wahlkreis gewinnt, zieht ins Unterhaus ein. Die Wahllokale öffnen um sieben Uhr morgens und schließen um 22:00 Uhr.
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