Wer hätte das gedacht: Nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs in Luxemburg kann Großbritannien das Brexit-Austrittsverfahren nach Artikel 50 der EU-Verträge nun tatsächlich ohne Zustimmung der übrigen EU-Länder stoppen. Dass der Rücktritt vom Rücktritt einen einfachen Weg aus dem politischen Chaos im Vereinigten Königreich weisen kann, muss beim Blick auf die aktuelle Situation aber bezweifelt werden.
Fast zweieinhalb Jahre ist es her, dass sich die Mehrheit der Briten in einem Referendum für den Austritt aus der Europäischen Union entschied: 51,89 Prozent der Wähler stimmten am 23. Juni 2016 für den Brexit. Die Regierung folgte dem Auftrag und kündigte die britische EU-Mitgliedschaft zum 29. März 2019.
Leichter verkündet als getan. Denn seither kommt das Land nicht zur Ruhe, haben die Verhandlungen über die Bedingungen des Austritts im Königreich zu einer permanenten innenpolitischen Krise geführt.
Am heutigen Dienstag muss das britische Parlament entscheiden, ob es dem federführend von Regierungschefin
May trifft am Dienstag vor der Abstimmung noch mit dem niederländischen Regierungschef
Die Premierministerin will nun unter anderem in Berlin vorfühlen, auf welche weitere Zugeständnisse sie hoffen kann. Regierungssprecher
Im Parlament hatte May angekündigt, sie werde ihren EU-Kollegen die "deutlichen Bedenken" des britischen Unterhauses vortragen und "weitere Zusicherungen" aus Brüssel verlangen.
Das Parlament ist weiterhin gespalten zwischen Brexit-Befürwortern und Ausstiegsgegner. Verschärft wird das Problem durch taktische Manöver: Bei der Labour-Party überwiegen zwar diejenigen, die den Brexit ablehnen. Doch viele von ihnen wagen das nicht öffentlich zu sagen.
"Manche Abgeordnete kommen aus Wahlkreisen, in denen die Brexit-Befürworter in der Mehrheit sind", sagt Dr. Walther Michl vom Lehrstuhl für Recht und Europarecht an der Universität München. Das führe dazu, "dass man auch bei Labour klare Aussagen scheut und zwischen allen Stühlen sitzt".
Hinzu kommt, dass Labour uneinig ist: Es gibt Gegner und Befürworter eines Brexit, ebenso Stimmen, die gleich ein ganz neues Referendum fordern. Und es gibt die Fraktion um Parteichef Jeremy Corbyn, die auf Neuwahlen spekuliert.
EuGH: Rücktritt vom Austritt möglich
Auch die Stimmung in der Bevölkerung ist derzeit nicht klar. Würde ein neues Referendum zu klaren Verhältnissen führen? Eher nein, meint Jürgen Matthes vom Institut der Wirtschaft (IW) in Köln: "Im Moment gibt es auch bei den Wählern kein deutliches Stimmungsbild für oder gegen den Brexit."
Ein neues Referendum, von Brexit-Gegnern in Großbritannien immer wieder in die Diskussion gebracht, würde deshalb wohl kaum endgültige Klarheit schaffen - bei Labour wie bei den konservativen Tories fürchtet man, durch eine neue Volksbefragung die eigene Wählerschaft weiter zu spalten.
So ist denn auch das spektakuläre EuGH-Urteil keine wirkliche Hilfe im Streit. Großbritannien könnte demnach den für 2019 angekündigten Brexit noch einseitig und ohne Zustimmung der übrigen EU-Länder stoppen. .
Ähnlich einem Ehepaar, dass noch im Gerichtssaal beschließen darf, sich doch nicht trennen zu wollen, könnte demnach die britische Regierung in letzter Minute von der angestrebten "Scheidung" von der EU zurücktreten.
Zwar wissen die Briten nun, dass sie selbständig den Austritt beenden und zu denselben Bedingungen wie zuvor EU-Mitglied bleiben könnten. Doch ohne vorherige Volksbefragung will keine Partei diesen Schritt wagen.
Da ein neues Referendum von den Parteien kritisch gesehen wird, bietet sich hier kein schneller Ausweg aus dem Dilemma. Wie aber könnte es nun weitergehen?
Der schlimmste Fall: Austritt ohne Vertrag
Im schlimmsten Fall könne die "äußerst verfahrene Situation", so Michl, zum No-Deal-Exit führen, zu einem Austritt der Briten ohne Vertrag mit der EU. Solch ein völlig ungeregelter Austritt wäre nach Ansicht der Experten für die EU zwar unangenehm, aber durchaus zu verkraften.
Echte Probleme bekämen hingegen die Briten: "Nach derzeitigen Stand"; betont Walther Michl, "könnten die Engländer nicht einmal mehr dringend benötigte Medikamente aus der EU einführen" - weil alle rechtlichen Grundlagen dafür mit einem Schlag wegfallen würden, weil beispielsweise Zoll-, Haftungs- und Bezahlungsfragen völlig offen wären.
"Die Katastrophe", bilanziert Michl, "wäre für Großbritannien weit größer als für uns."
Die beste Lösung: Deal akzeptieren
Die beste Lösung für die Briten sehen daher beide Experten darin, den von Theresa May mit der EU ausgehandelten "Deal" zu akzeptieren und ihn zügig umzusetzen. Das würde, so Michl, eine "Mitgliedschaft ohne Institutionen" bedeuten.
Für Großbritannien würde sich vorerst kaum etwas ändern, die wirtschaftlichen Vereinbarungen blieben zunächst erhalten. Das Land würde allerdings alle Mitgliedschaften in den EU-Institutionen aufgeben - und damit auch alle Mitwirkungsmöglichkeiten einbüßen.
Kein Weg würde in diesem Fall daran vorbeiführen, dass mitten durch das Vereinigte Königreich eine Art Zollgrenze führen würde, weil Irland in der EU bleiben möchte.
Ein äußerst brisantes Thema, da sowohl London als auch Brüssel ein Wiederaufflammen des mühsame befriedeten Nordirland-Konflikts unbedingt verhindern wollen.
Das im Austrittsvertrag vorgesehene "Backstop"-Verfahren soll diesem stark psychologisch aufgeladenen Problem Rechnung tragen. "Wenn die Iren das nicht mittragen", so Michl, "ist eine Lösung unvorstellbar".
In der Tat hält der Widerstand aus Irland an: Die Democratic Unionist Party (DUP) lehnt die Backstop-Lösung ab, gleichzeitig ist Theresa Mays Minderheitsregierung von der Unterstützung der DUP abhängig.
Kompromisse kaum mehr möglich
Substanzielle Änderungen am vorliegenden Austrittsvertrag sehen beide Experten auch trotz des heutigen Treffens von May mit Merkel und Rutten auch weiterhin nicht.
Die EU habe klargemacht, betont Matthes, dass es weitere Verhandlungen nicht geben werde: "Die aktuelle Position gegenüber Großbritannien ist: friss oder stirb!" Gering scheint den Experten auch die Chance, dass die EU die Austrittsfrist verlängern könnte.
Es ist also kaum vorauszusehen, was am kommenden Dienstag geschehen wird. Die Abgeordneten hätten bereits deutlich gemacht, sagt Walther Michl, dass sie Theresa May das Heft aus der Hand nehmen und den Brexit selbst organisieren wollten.
"Die Situation ist ziemlich verfahren" betont der Wissenschaftler, "auch weil die britische Regierung viel Zeit verschwendet hat".
Selbst wenn die Politik plötzlich den Mut für ein neues Referendum fände, sei es dafür aufgrund des festen Austrittsdatums im März 2019 mittlerweile zu spät.
Angesichts der drohenden ökonomischen Risiken wachse zwar bei vielen Politikern die Bereitschaft, "die Notbremse zu ziehen und den Brexit doch noch abzubrechen".
Doch ob am Ende die Lösung der Krise im Rücktritt vom Austritt stehen könnte, weiß niemand zu sagen.
Verwendete Quellen:
- Schlussanträge des Generalanwalts in der Rechtssache C-621/18 Wightman u. a. / Secretary of State for Exiting the European Union
- Gespräch mit Dr. Walther Michl, Uni München.
- Gespräch mit Jürgen Matthes, Institut der deutschen Wirtschaft.
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