Seit einiger Zeit wühlt Sahra Wagenknecht ihre Partei, Die Linke, auf. Sollte sie eine neue Partei gründen, schlägt der ehemalige Fraktionsvorsitzende Gregor Gysi im Interview mit unserer Redaktion vor: Statt eines Parteiausschlusses soll sich die Partei auf fünf Kernthemen konzentrieren. Außerdem geht es um Frust in Ostdeutschland, die AfD, den Ukraine-Krieg und sein neues Buch.

Ein Interview

Herr Gysi, wenn Sie aktuell den Zustand Ihrer Partei anschauen – was geht Ihnen durch den Kopf?

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Gregor Gysi: Die Linke ist in einer existenziellen Krise. Wichtig ist, dass wir unsere Schlussfolgerungen daraus ziehen. Sollte Sahra Wagenknecht tatsächlich eine neue Partei gründen, müssen wir entschieden auftreten – und uns auf unsere Kernthemen konzentrieren. Ich gebe so schnell nicht auf.

Ihr Parteikollege Klaus Ernst sagte in einem Interview mit unserer Redaktion, dass Sahra Wagenknecht bleiben und der derzeitige Parteivorstand gehen müsse – das würde wieder mehr Ruhe in die Partei bringen.

Der Vorstand wurde auf dem jüngsten Parteitag mit überwältigender Mehrheit gewählt – man kann sich das ja nicht einfach aussuchen und sagen: Die sollen mal gehen und Sahra soll bleiben. Übrigens hatte kein einziger Antrag von ihr Erfolg. Darunter leidet sie. Soll man deswegen aber die Delegierten ausschließen? So läuft das nicht.

Sollte die Partei Wagenknecht ausschließen?

Das wäre völlig falsch. Wir brauchen sie. Die Linke ist keine Einheitspartei, sondern eine 'Von-bis-Partei', mit unterschiedlichen Strömungen. Einige schreckt Sahra Wagenknecht ab, viele andere schätzen sie. Mit unserer Breite sind wir bisher nicht schlecht gefahren. Doch jetzt wird sie zum Problem. Während Sahra Wagenknecht in sozialen Dingen eher links ist, ist sie in der Flüchtlingspolitik eher rechts eingestellt. Es ist kompliziert.

Ursachen für "Demokratiefeindlichkeit" in Ostdeutschland

Sie kommen aus Ostdeutschland, sind in der DDR groß geworden und wohnen noch heute in Berlin. Wie blicken Sie auf Studien wie jüngst das Policy Paper der Universität Leipzig, das Ostdeutschland "Demokratiefeindlichkeit" und ein Hang zu rechtsextremen Einstellungen bescheinigt?

Das ist eine plakative Interpretation der Studie. Einer der daran beteiligten Wissenschaftler, Elmar Brähler, hat klargestellt, dass die Einstellungen in West und Ost sehr ähnlich sind, bei ähnlichen sozialen Strukturen. Er sagt, dass es wichtiger wäre, sich mit den Ursachen zu beschäftigen. Bei den Ostdeutschen kommt zum Beispiel die Enttäuschung von 1990 hinzu. Für die DDR hat man sich nach dem Mauerfall nur sehr einseitig interessiert, man hat damit indirekt den Ostdeutschen gesagt, dass sie in ihrem ganzen Leben nichts geleistet haben. Daraus entsteht ein Bedürfnis, das Selbstbewusstsein zu stärken. Das richtet sich nicht selten gegen Dritte, also beispielsweise Migranten.

Was war denn in der DDR besser?

Wir waren in der Gleichstellung der Geschlechter weiter als die Bundesrepublik. Wären vier, fünf Sachen aus der DDR übernommen worden, hätten viele Ostdeutsche gesagt: Wir hatten zwar das falsche System, aber bestimmte Sachen waren so gut, dass sie nun ganz Deutschland hat. Und die Westdeutschen hätten durch die Wiedervereinigung eine Steigerung der Lebensqualität erlebt. Das ist aber alles nicht passiert. Deswegen kann ich mit diesen monokausalen Studien über den Osten, die keine wirkliche Ursachenforschung betreiben, nichts anfangen.

"Rechtspopulistische Parteien erhalten weltweit Zustimmung"

Ist denn dieses Gefühl abgehängt zu sein der Grund für so viel rechtsextremes Gedankengut?

Nein. Dass rechtspopulistische Parteien immer mehr Zustimmung bekommen, ist gerade weltweit zu beobachten. Trump in den USA, Orban in Ungarn, Erdogan in der Türkei, Le Pen in Frankreich oder Meloni in Italien - die Menschen haben Angst vor der Globalisierung, und die rechtsextremen Parteien tun so, als ob sie alles durch Nationalismus gelöst bekämen. Das klappt natürlich nicht, aber sie scheinen damit den Menschen vorübergehend eine Sorge zu nehmen.

Warum fliegt die AfD deutschlandweit zurzeit von einem Umfragehoch zum nächsten?

Die AfD tut so, als ob sie ausgegrenzt wird. Für Menschen, die sich ausgegrenzt fühlen, passt das gut. Also wählen sie eine scheinbar ausgegrenzte Partei – was nicht stimmt. Die AfD ist ständig in den Medien, sie sitzt in allen Ausschüssen, sie hat viel längere Redezeiten als die Linke im Bundestag, weil sie mehr Sitze hat. Trotzdem bedient sie stets das Bild des Ausgegrenzten. Dazu kommt eine Regierung, die gegenwärtig überfordert ist. Dadurch gewinnt die AfD noch mehr Leute.

Womit ist die Ampel-Koalition überfordert?

Mit einem Krieg und vielen gleichzeitigen Krisen – Klimawandel, Inflation, Energiekrise.

Nach der Wahl des ersten AfD-Landrats und des ersten AfD-Bürgermeisters – sehen Sie einen Dammbruch?

Diese Ansicht ist überzogen. Ich werde im Sommer nach Sonneberg fahren und mich dort umhören. Es gibt ja auch viele, die ihn nicht gewählt haben. Trotzdem muss man die Sache ernst nehmen und nicht darauf schauen, was die AfD gut macht, sondern, was alle anderen Parteien falsch machen.

"Regierung gibt oft falsche Beweggründe für ihre Entscheidungen an"

Was machen sie denn falsch?

Es gibt keine parteiübergreifenden Gesprächsrunden, in denen man darüber nachdenkt, wie man das Vertrauen großer Teile der Bevölkerung wieder zurückgewinnt. Wie soll das Renten-Problem gelöst werden? Sicherlich nicht, indem die Leute immer später in Rente gehen. Wie geht man mit den hohen Lohnnebenkosten um? Warum gibt es noch keine Enquete-Kommission zur Corona-Pandemie, um festzustellen, was richtig und was falsch war? Dazu geben SPD, Grüne und FDP häufig falsche Beweggründe für ihre Entscheidungen an. Dafür hat die Bevölkerung aber einen Instinkt.

Haben Sie dafür ein Beispiel?

Ein Tempolimit lehnt die Regierung ab, weil nicht bewiesen sei, dass es dadurch weniger Unfälle gäbe. Sind die weit über 100 Staaten weltweit dann alle dämlich, die ein Tempolimit haben? Warum gibt die Regierung nicht zu, dass sie unter dem Druck der Autoindustrie steht?

Die Linke galt früher auch als Protestpartei. Warum gelingt ihr es heute nicht, die Unzufriedenen in Ostdeutschland abzuholen?

Wir stellen einen Ministerpräsidenten und sind in Landesregierungen vertreten, das hat alles Einfluss. Und gerade die Vereinigung in 2007 von der Ost-PDS mit West-WASG, woraus die Linke hervorging, hat uns den Ost-Nimbus genommen. Von da an wurde der Osten von der Linken vernachlässigt. Persönlich werfe ich mir vor, dass ich nicht hartnäckiger darauf hingewiesen habe. In der ganzen vergangenen Legislaturperiode spielte der Osten nur eine untergeordnete Rolle. Das war ein Fehler.

"Kanzler Scholz verharmlost AfD"

Warum ist die "Schlechte-Laune-Partei", wie Kanzler Scholz die AfD nannte, attraktiver als die Linke?

Mit so einer Bezeichnung macht es sich der Kanzler viel zu einfach. Humorlos ist die Partei, ja – aber der Rest verharmlost einfach nur. Herr Scholz muss sich fragen, warum die AfD so viel Zulauf bekommt. Die Linke muss sich hingegen wieder voll und ganz auf fünf Punkte konzentrieren: auf eine reale Friedenspolitik, eine soziale und Steuergerechtigkeit, auf ökologische Nachhaltigkeit in sozialer Verantwortung, auf die Gleichstellung von Frau und Mann und von Ost und West.

Kümmert sich die Linke zu viel um Nebenschauplätze?

Man kann natürlich tagelang über Doppelpunkt und Sternchen diskutieren. Das scheint mir aber nicht die wichtigste Frage unserer Zeit zu sein. Nicht falsch verstehen: Ich setze mich für Geschlechtervielfalt ein. Aber die Schreibweise zum Mittelpunkt der Fortschrittsdiskussion zu machen, finde ich ziemlich daneben.

Der Krieg in der Ukraine geht nun schon fast anderthalb Jahre. Sie galten oft als Putin-Versteher. War Ihr früherer Blick auf Putin naiv?

Naiv ist der falsche Ausdruck. Ich habe gehofft, dass er so einen Schritt nicht geht – was nicht zutraf. Was mich ärgert, ist, dass heute immer nur Schlagworte herrschen. Wenn jemand Waffen liefert, ist er ein "Kriegstreiber". Wenn jemand für Waffenstillstand eintritt, ist er ein "Putin-Knecht". Warum kann man nicht sagen: Wir wollen alle Frieden, aber auf verschiedenen Wegen?

"Man könnte es doch mal mit einem Angebot an Russland versuchen"

Sie wollen ein Ende des Krieges durch Waffenstillstand?

Erst Waffenruhe, dann Verhandlungen – denn es wird keine Seite siegen. Anders geht es nicht. Das Töten und Verletzen muss zuerst aufhören. Man könnte es doch mal mit einem Angebot an Russland versuchen: Ab heute liefert kein Land mehr Waffen in die Ukraine, wenn ihr mit einem Waffenstillstand einverstanden seid. Da möchte ich mal sehen, ob Putin dazu Nein sagt. Die Nato könnte ihn so unter Druck setzen. Macht sie aber nicht.

Sind Sie immer noch gegen deutsche Waffenlieferungen in die Ukraine?

Aus historischen Gründen bin ich das noch immer. Das Recht auf Selbstverteidigung der Ukraine bestreite ich dabei nicht. Großbritannien, Frankreich, USA – die konnten liefern. Aber von uns ging mit dem Zweiten Weltkrieg der schlimmste Krieg der Menschheit aus. Deshalb sollten wir nicht das Recht haben, an Kriegen zu verdienen. Trotzdem sind wir der fünftgrößte Waffenexporteur weltweit.

Zu Ihrem neusten Buch "Was Politiker nicht sagen": Taugen Halbwahrheiten und Lügen eher zur Mehrheitsbeschaffung als die Wahrheit?

Nicht unbedingt, aber oft bilden sich die Politikerinnen und Politiker das ein. Ein Beispiel: Oskar Lafontaine sollte für die SPD Kanzler werden und sagte, dass die Deutsche Einheit sehr teuer werden würde. Helmut Kohl wollte Kanzler bleiben und sagte: Alles Quark – es entstehen blühende Landschaften. Wer hatte recht und wer hat die Wahl gewonnen? Wir Menschen wählen oft unsere Wünsche, nicht Realitäten.

"Ich bin ziemlich ehrlich"

Müssen Sie sich da hin und wieder auch an die eigene Nase packen?

Ich bin ziemlich ehrlich. Das liegt daran, dass ich mir keine Lügen merken kann. Das habe ich bereits mit 16 Jahren gemerkt. Da habe ich abends eine Ausrede gehabt, die ich am nächsten Morgen vergessen hatte – also kam alles raus. Da habe ich mir gesagt: Nee, Gysi, das hat keinen Sinn. Deshalb spreche ich unbefangener als andere. Öffentlich denke ich nicht darüber nach, was meine Partei hierzu oder dazu gesagt hat. Ich spreche so, wie ich es für richtig halte.

Sie gelten als geschliffener Rhetoriker. Welche Zutaten gehören in eine gute Rede?

Übersetzen. Ich kann von der Veräußerungserlösgewinnsteuer reden, die Kapitalgesellschaften nicht zu bezahlen haben, aber von Inhabern geführte Unternehmen. Ich kann aber auch sagen, dass die Deutsche Bank bei Verkäufen ungeschoren bleibt, der Bäckermeister aber die Steuer zahlen muss. Dazu sollte jedes Thema mit Beispielen konkret erklärt werden. Weil wir uns Volksvertretung nennen, sollten wir immer so sprechen, dass uns viele verstehen. Ein gewisser Witz und Selbstironie gehören auch noch dazu.

Der Bundestag hat nun Sommerpause, im Herbst stehen Landtagswahlen in Hessen und Bayern an, im nächsten Jahr in drei ostdeutschen Ländern. Wie schauen Sie auf die nächsten Monate?

In Bayern übernehmen wir die Regierung (lacht). Also, im August mache ich erstmal etwas Urlaub. Ansonsten werde ich unsere Partei tageweise bei den Landtagswahlen unterstützen. Für Thüringen länger. Das wird wichtig.

Zur Person: Gregor Gysi ist Rechtsanwalt, Bundestagsabgeordneter der Partei Die Linke, Autor und Moderator. Im Dezember 1989 wurde Gysi zum Vorsitzenden der SED gewählt und verblieb nach der Umbenennung der Partei in PDS bis 1993 in dieser Funktion. Von 2005 bis 2015 war er Fraktionsvorsitzender der Linksfraktion, die aus PDS und WASG hervorging. 2020 wurde er zum außenpolitischen Sprecher der Linken im Bundestag ernannt.
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