- Indien hat für ein Jahr den Vorsitz der G20 übernommen.
- Experten sind sich sicher: Hierzulande blicken viele noch aus einer Perspektive der Entwicklungshilfe auf das bald bevölkerungsreichste Land der Welt.
- Was von Indien in den kommenden Jahren zu erwarten ist und wo es Deutschland nützlich sein kann.
Welche Assoziationen kommen Ihnen zuerst in den Sinn, wenn Sie an Indien denken? Vielleicht der Taj Mahal, Bollywood, Hinduismus und Ghandi? Es wäre jedenfalls auch angebracht, Großmacht, globales Schwergewicht und Mediator mit dem Land zu assoziieren.
Vor kurzem hat Indien für ein Jahr den Vorsitz der G20 übernommen und will seine Präsidentschaft nutzen: Als Mediator zwischen Industrie-, Schwellen- und Entwicklungsländern. "Wohl kaum ein anderes Land wäre dafür besser geeignet", sagt Adrian Haack, Leiter des Regionalbüros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Neu-Delhi.
Indien kann einen Ausgleich schaffen beim Thema Klimawandel
Denn Indien sitze an beiden Enden des Tisches. "Es ist Industriestaat und verursacht als solcher den Klimawandel maßgeblich mit. Gleichzeitig ist es von den direkten Folgen des Klimawandels betroffen, etwa durch Hitzewellen, Smog und Dürren", erklärt der Experte im Gespräch mit unserer Redaktion.
Dass Indien in seiner Rolle als G20-Vorsitzender deshalb etwas beim Klimawandel bewegen kann, davon ist Haack überzeugt. "Eine Erde, eine Familie, eine Zukunft" hatte Premierminister Narendra Modi sein Motto Mitte November beim G20-Gipfel umschrieben.
Man wolle einen nachhaltigen Lebensstil fördern. Auch Themen wie globale Gesundheitsversorgung und Ernährung sowie die öffentliche digitale Infrastruktur hat sich Indien auf die Fahne geschrieben. Keine einfache Aufgabe in Zeiten diverser geopolitischen Spannungen samt Krieg in Europa, wirtschaftlichem Abschwung und steigenden Preisen in vielen Ländern der Welt.
Experte: "Indien wird unterschätzt"
Doch Haack ist sich sicher, dass Indien hierzulande unterschätzt wird. "Ich fürchte, das Bild, welches die meisten Deutschen von Indien haben, ist das eines Entwicklungshilfeempfängers", sagt er. Das werde jedoch nicht dem Umstand gerecht, dass Indien die weltweit fünftgrößte Volkswirtschaft ist und im kommenden Jahr China offiziell als bevölkerungsreichstes Land der Erde ablösen wird.
"Vor allem Indiens wirtschaftliches Potenzial wird unterschätzt", urteilt Haack. Zwar belegt das Land in Sachen Pro-Kopf-Einkommen global einen Platz jenseits der 100, doch der Markt ist angesichts der enormen Bevölkerung riesig. 1,393 Milliarden Menschen (Stand: 2021) lebten zuletzt in Indien.
"In jedem Jahr, in dem die indische Volkswirtschaft wächst, wächst die Mittelschicht mit ihr", kommentiert Haack. Sie besitze eine Kaufkraft und sei für deutsche Unternehmen interessant – nicht zuletzt auch, um die Abhängigkeit von China zu reduzieren. "Ohne Indien wird das kaum möglich sein", schätzt Haack.
Indiens Wirtschaft ist stark abgeschirmt
Die Wirtschaft Indien sei allerdings sehr abgeschirmt. Indische Wirtschaftsgüter seien in vielen Bereichen nicht konkurrenzfähig und die indischen Unternehmen sehr darauf fokussiert, den heimischen Bedarf zu decken. "Vom Handy über Medikamente und Autos bis zur Waschmaschine ist alles für den indischen Verbraucher und Geldbeutel konzipiert", analysiert der Experte. In der Abschottung sehe Indien die einzige Lösung.
"Auf ein Auto ohne indische Komponenten zahlt man 165 Prozent Einfuhrsteuern", gibt Haack ein Beispiel. Das mache etwa die meisten deutschen Modelle unerschwinglich. Gleichzeitig seien die meisten indischen Modelle auf den entwickelten Märkten nicht konkurrenzfähig.
"Das Handelsvolumen zwischen der EU und Indien lag im Vor-Pandemie-Jahr 2019 bei lediglich 110 Milliarden Euro. Das ist deutlich weniger als das Handelsvolumen zwischen Deutschland und Polen. Wir reden einmal von über 1,8 Milliarden Menschen in der EU und Indien und von lediglich 120 Millionen Deutschen und Polen", sagt Haack. Ein Hemmnis sei, dass es kein Freihandelsabkommen gebe. "Das europäische Interesse daran ist enorm, aber der politische Druck entspricht noch nicht der Relevanz", sagt Haack.
EU hat ein Freihandelsabkommen mit Indien im Blick
Ende Juni 2022 haben Gespräche zu einem Freihandelsabkommen zwischen der EU und Indien begonnen. Dabei geht es zum Beispiel um niedrige Zölle für europäische Exporte und einen leichteren Visa-Zugang für indische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger. "Wir müssen mit Indien zu einem Freihandelsabkommen kommen, anders lässt sich der Markt nicht erschließen", meint Haack.
Dann werde Indien als Produktionsstandort noch mehr deutsche Unternehmen anziehen – wohlwissend, dass die Bürokratie in Indien absurd und die Demokratie sehr langsam sei. "Die Logistikkosten sind sehr hoch, weil die Infrastruktur schlecht ist", erklärt Haack. Zudem gebe es Probleme wie Smog, Dengue-Fieber und kontaminiertes Trinkwasser, was oft für einen großen Krankenstand sorge. Regelmäßig falle der Strom aus.
Experte: Man muss Indien "politisch genau beobachten"
Die Reise von Außenministerin
Haack ist sich sicher: Auf der politischen Ebene müsse man Indien in den kommenden Jahren genaustens beobachten. "Indien ist ein sehr großes Land mit der Tradition der Blockfreiheit. In den letzten Jahrzehnten war Indien es deshalb nicht gewohnt, Teil von einem Bündnis oder einer Allianz zu sein."
Den Indern widerstrebe das auch heute noch. Russlands Krieg in der Ukraine habe aber deutlich gemacht, dass sich nur Staaten, die kleiner als Indien sind, eine "Politik des Nicht-Beteiligt-Seins" erlauben könnten.
Haack: "Indiens Außenpolitik ist rein interessengeleitet"
"Indien versucht eine Strategie weiterzuverfolgen, die es als weniger bedeutendes Land gefahren ist. Jetzt, wo es einer der großen Akteure ist, muss es aber auch in eine neue strategische Phase treten", meint Haack. Die Frage sei deshalb weniger, wie sich Europa oder die USA in den nächsten Jahren verhielten, sondern eher, wie sich Indien in den nächsten Jahren positionieren werde.
"Die indische Außenpolitik ist rein interessengeleitet und nicht wertegeleitet", ordnet Haack ein. Das sei in Bezug auf Russland gut erkennbar.
"Solange Indien einen Preisnachlass beim Öl bekommt, wird es sich keinen Sanktionen anschließen", argumentiert Haack. Daher bestehe auch die Sorge, dass Indien sich von Russland vereinnahmen lässt. "Immunisieren kann man Indien dagegen aus europäischer Sicht nicht."
Indien versucht, den Krieg zu "umschiffen"
Er glaubt aber, dass seit August ein Umdenken in Neu-Delhi eingesetzt hat. "Es hat Indien einen enormen Image-Schaden zugefügt, dass es sich bei den Resolutionen zur Verurteilung des russischen Angriffskrieges in der UN-Vollversammlung enthalten hat", so Haack. Gleichzeitig sei Modis Äußerung "Wir leben nicht in einer Ära des Krieges" als stille Kritik an Moskau zu lesen. "Wir sollten uns aber keine Hoffnung machen: Mehr ist hier von Indien nicht zu erwarten", vermutet der Experte.
"Die G20-Präsidentschaft wird davon geprägt sein, dass Indien versuchen wird, den Ukraine-Krieg zu umschiffen", nimmt er an. Indien sei gleichermaßen von den USA wie von Russland abhängig und sehe sich zwischen den Stühlen. Spätestens seit dem Sommer dieses Jahres glaube aber in Indien niemand in politischer Verantwortung mehr, dass Russland den Krieg für sich entscheiden werde.
Modi auf wirtschaftliche Entwicklung bedacht
Muss der Westen sich politisch oder wirtschaftlich vor Indien in Acht nehmen? Dass Indien plötzlich in Allmachtsphantasien abgleitet, hält Haack für unwahrscheinlich. "Modi hat im August bei der Unabhängigkeitsfeier eine lange Grundsatzrede gehalten. Diese war frei von außenpolitischen Themen, es ging ausschließlich um Entwicklungsmöglichkeiten in den nächsten 25 Jahren bis zur 100-jährigen Unabhängigkeit." Indien habe zum Beispiel die Teilhabe von Frauen, Bildungschancen und Gesundheitsversorgung auf der Agenda.
"Die gesamte Feier kam auch mit einem Minimum an Soldaten aus, drei Hubschrauber haben Blüten abgeworfen. Dass Indien trotz seiner Größe so friedlich ist, das ist ein Glück für die ganze Welt", glaubt Haack. Modi sei rein auf wirtschaftliche Entwicklung bedacht. "Das könnte ganz anders aussehen."
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