• In den nächsten 15 Jahren geht ein Drittel der Beschäftigten in Rente.
  • Die Regierung will eine "Chancenkarte" für Einwanderer einführen.
  • Experten fordern aber weitere Flexibilisierungen.
Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Michael Freckmann sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Der Bedarf an Fachkräften in Deutschland wird in den nächsten Jahren immer weiter zunehmen. "In den nächsten 15 Jahren gehen knapp 13 Millionen Erwerbstätige in Rente", sagt der Arbeitsmarktforscher Ulf Rinne vom Institut zur Zukunft der Arbeit (IZA) in Bonn. Dies sind etwa ein Drittel aller Erwerbspersonen in Deutschland.

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Rinne sieht vor allem zwei Probleme auf die Gesellschaft zukommen: Sie schrumpft und altert. Die jüngeren Jahrgänge sind wesentlich weniger geburtenstark als die älteren. Dies erhöhe den Druck auf die Sozialsysteme und mache die Gesellschaft weniger innovativ. Immer wieder gab es in den letzten Jahren in der Politik entsprechende Diskussionen, wie durch Reformen im Zuwanderungsrecht diesem Problem begegnet werden könnte. Gefolgt ist daraus jedoch bisher nur wenig.

Ursächlich für die schlechte Quote beim Anwerben von Arbeitskräften aus Drittstaaten außerhalb der EU seien nach Ansicht des Arbeitsmarktexperten vor allem zwei Gründe. Die deutsche Sprache sei für viele dieser Menschen ein hohes Hindernis. Englischsprachige Alltagsangebote gäbe es in Deutschland derzeit viel zu wenig. Das zweite Problem sei, dass viele Zuwanderer langwierige Prozesse durchlaufen müssten, um ihre Berufsabschlüsse anerkennen zu lassen. Daher sei Deutschland als Standort für viele Arbeitskräfte aus dem Ausland "nicht besonders attraktiv", bemerkt Ulf Rinne.

Anerkennung von Berufsabschlüssen ist eine große Hürde für Einwanderung

Auch René Lehweß-Litzmann vom Soziologischen Forschungsinstitut Göttingen (SOFI) bemängelt, dass die Anerkennung der Berufsabschlüsse häufig mit Problemen verbunden sei. Zuwanderer "können die hierzulande geforderten Abschlüsse häufig nicht vorweisen, auch wenn sie vielleicht über die geforderten Kenntnisse verfügen."

Auch ein anderer Fall kommt oft vor: Viele Menschen könnten Abschlüsse vorweisen, die aber in Deutschland nicht gleichwertig gelten. Dies führe dann zu einer langwierigen und für die Fachkräfte teuren "Gleichwertigkeitsprüfung".

Die Bundesregierung plant daher, zum verbesserten Zuzug von Fachkräften eine sogenannte "Chancenkarte" einzuführen. Dann könnten einwanderungswillige Personen mit Arbeitsvertrag leichter nach Deutschland kommen. Zudem könnten Menschen, die keinen Arbeitsvertrag hätten, durch andere nachgewiesene Kenntnisse und Kompetenzen in Deutschland einreisen und hierzulande arbeiten. Die von der Regierung geplante "Chancenkarte" soll an bestimmte Kriterien gekoppelt sein. Hierzu zählen: Sprachkenntnisse, Berufserfahrung, ein Deutschlandbezug und auch das Alter der Personen.

Experte fordert mehr Spielraum für Arbeitgeber

Von den Gewerkschaften kommt Zustimmung für solche Maßnahmen. IG-Metall-Chef Jörg Hofmann erklärte gegenüber der Deutschen Presse-Agentur (dpa): "Bürokratische Hürden – beginnend bei der Visa-Beantragung bis zur Anerkennung von Berufsabschlüssen – behindern heute den Zuzug." Auch aus der Wirtschaft gibt es wohlwollende Stimmen. Gleichzeitig plädiert die Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) für mehr Flexibilität für die Unternehmen: "An einigen Stellen würden sich die Betriebe aufgrund ihrer praktischen Erfahrungen auch noch weitere Schritte wünschen."

Dass diese "Chancenkarte" den Mangel an Fachkräften merklich abmildern wird, glaubt Arbeitsmarktökonom Ulf Rinne nicht. Denn die Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache und die oft langen Anerkennungsprozesse von Berufsabschlüssen blieben immer noch als zentrale Probleme bestehen. Beim Bewerten von im Ausland erworbenen beruflichen Qualifikationen "ist Deutschland weiterhin viel zu stark auf formale Zertifikate fixiert und es wird zu wenig auf die Fähigkeit der Arbeitgeber vertraut, geeignete Bewerber zu finden", sagt Ulf Rinne. Zudem bestünde die Gefahr, dass durch diese Maßnahme alles noch bürokratischer werde. "Ein Befreiungsschlag erfordert aber Mut für unkonventionelle Lösungen."

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Zukunftsperspektiven des Arbeitsmarktes werden aktuell kaum diskutiert

Um die Situation auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern, hat die Regierung zudem beschlossen, das Einbürgerungsrecht zu ändern. Die Ampel-Koalition hat sich dafür ausgesprochen, die Wartezeit zu verkürzen, bis eine Person einen deutschen Pass beantragen kann. Dies soll nun nicht mehr nach acht, sondern bereits nach fünf Jahren möglich sein. Lehweß-Litzmann glaubt jedoch nicht an einen weitreichenden positiven Effekt dieser Maßnahme. "Zu arbeiten und Geld zu verdienen, erfordert keine Staatsangehörigkeit im Gastland", sagt der Arbeitsmarktforscher. Wenn stattdessen Zugewanderte einfacher den Familiennachzug in Anspruch nehmen könnten, würde dies die Motivation für Menschen erhöhen, nach Deutschland zu kommen, vermutet der Experte.

Zudem weist Lehweß-Litzmann darauf hin, dass sich in Deutschland der Bedarf an Fachkräften nicht nur zahlenmäßig ändern werde. Dies steht dem Land ohnehin bevor, wenn in den nächsten Jahren die aktuell über 50-Jährigen in Rente gehen. Vielmehr werde sich der Arbeitsmarkt auch strukturell wandeln. Die Bedarfe an Fachkräften würden sich künftig eher an den Erfordernissen der ökologischen Transformation orientierten, sagt der Göttinger Forscher.

In manchen Branchen sei es möglich, dass bei Fachkräftemangel einfach weniger produziert werden könnte. Für andere Bereiche sei dies jedoch nicht möglich. Weil die Menschen im Durchschnitt immer älter werden, gelte dies besonders in der Altenpflege oder der allgemeinen Daseinsfürsorge: "Hier können Einschnitte schmerzhaft sein." Diese Aspekte spielen in den gegenwärtigen politischen Debatten jedoch bislang kaum eine große Rolle.

Über die Experten:
Dr. Ulf Rinne ist als Arbeitsmarktökonom am Institut zur Zukunft der Arbeit (IZA) in Bonn tätig. In seiner Forschung befasst er sich neben zuwanderungs- und integrationspolitischen Fragen unter anderem mit der Wirksamkeit von arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen.
Dr. René Lehweß-Litzmann ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Soziologischen Forschungsinstitut Göttingen. Er forscht zu Arbeitsmarktentwicklungen sowie Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik.

Verwendete Quellen:

  • Gespräche mit Dr. Ulf Rinne und Dr. René Lehweß-Litzmann
  • DIHK: DIHK erwartet Verbesserungen am Fachkräfteeinwanderungsgesetz
  • dpa
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