In Thüringen beschließt die Opposition Gesetze - auch mit Stimmen der als rechtsextrem eingestuften Thüringer AfD. Ist die linksgeführte Minderheitsregierung am Ende?
Weniger als ein Jahr vor der Landtagswahl sieht sich
Am Tag zuvor hatten CDU, AfD, FDP und Fraktionslose eine Absenkung der Grunderwerbssteuer von 6,5 Prozent auf 5 Prozent beschlossen - gegen den Willen der rot-rot-grünen Regierungskoalition.
Ramelow sprach am Freitag im Deutschlandfunk von einer "Verrücktheit im Parlamentarismus" und vom "schwärzesten Tag" in seinem parlamentarischen Leben. "Das schadet am Ende dem Funktionieren der Demokratie sehr, was dort mittlerweile geschieht", sagte der Experte Brodocz zu den Vorgängen im Thüringer Landtag.
CDU, AfD und FDP haben schon zwei Gesetze durchgebracht
Ramelows Minderheitskoalition aus Linke, SPD und Grünen hat im Parlament keine Mehrheit - ihr fehlen vier Stimmen. Trotzdem gelang es ihr oft, welche zu organisieren - meist mit der CDU. Das Erfurter Modell einer Minderheitsregierung ohne festen Tolerierungspartner galt schon immer als wackelig.
Inzwischen haben die Christdemokraten schon das zweite Gesetz mithilfe der AfD durchgedrückt. Diesmal mit großen Auswirkungen - etwa auf den Haushalt des Landes. Die Opposition senkte die Grunderwerbssteuer von 6,5 Prozent auf 5 Prozent.
Der umstrittene thüringische AfD-Fraktionschef
Faeser: "Die CDU reißt die Brandmauer ein"
Die Thüringer CDU erntete für ihr Agieren heftige Kritik. "Die CDU reißt die Brandmauer nach rechts außen immer weiter ein", sagte Bundesinnenministerin
SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert sieht ein Tabu gebrochen: "Wenn das in der CDU Schule macht, dann wird der Parlamentarismus nach dem heutigen Tag ein anderer sein. Demokraten dürfen die AfD niemals zum parlamentarischen Zünglein an der Waage machen."
Katrin Göring-Eckardt von den Grünen sprach von einem Tabubruch: "Das zeigt mir, dass nicht nur die Brandmauer nicht mehr da ist, sondern dass es eine offene Zusammenarbeit gibt", erklärte sie im RBB.
CDU im Umgang mit der AfD gespalten
Prominente CDU-Bundespolitiker stellten sich jedoch auch einen Tag nach der Abstimmung hinter ihre Parteikollegen in Erfurt: CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann sagte der "Rheinischen Post": "Wie andere Fraktionen sich dazu verhalten, darf für uns nicht Maßstab sein." Die stellvertretende CDU-Bundesvorsitzende Karin Prien wies Vorwürfe zurück, die politische Brandmauer zur AfD in Thüringen sei eingerissen worden.
Ganz andere Töne schlug Schleswig-Holsteins Ministerpräsident
Bei der FDP spricht man dagegen von einem Alleingang des Landesverbandes gegen den Willen der Bundespartei. Für das Vorgehen der FDP-Landtagsfraktion gebe es "keinerlei Unterstützung der Bundespartei", erklärte Marie-Agnes Strack-Zimmermann dem "Spiegel".
Politologe schlägt konstruktives Misstrauensvotum vor
Der Politologe Brodocz gab zu bedenken, immer die besondere politische Situation in Thüringen im Blick zu haben. Die CDU agiere in Thüringen aus einer Oppositionsrolle heraus "und ist offensichtlich in der Lage, zusammen mit der AfD Mehrheiten gegen die Minderheitsregierung herzustellen", sagte er. Die Verfassung sehe für solche Fälle das konstruktive Misstrauensvotum vor.
"Die politische Stabilität unserer Demokratie beruht darauf, dass die Regierung eine stabile Mehrheit im Parlament hat", erklärte der Wissenschaftler. Wenn es nun eine offensichtliche stabile Mehrheit in der Opposition gebe, "dann sieht unsere Demokratie vor, dass diejenigen, die die Mehrheit haben, auch die Verantwortung übernehmen zum Regieren".
Konsequenterweise müsste die CDU seiner Meinung nach den CDU-Landespartei- und Fraktionschef Mario Voigt als Ministerpräsidentenkandidaten nominieren und dann zur Abstimmung stellen. "Und in ihrer eigenen Logik würde das auch bedeuten: Darüber müsste sie nicht mit der AfD reden", sagte Brodocz.
Ein solches Szenario gilt als unwahrscheinlich. Es erinnert zudem an die Wahl von Kurzzeit-Ministerpräsident Thomas Kemmerich am 5. Februar 2020. Der FDP-Politiker ließ sich damals zum Regierungschef wählen - von CDU, FDP und AfD. Das Ereignis hatte ein politisches Beben ausgelöst. Die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte den Vorgang damals noch als "unverzeihlich" bezeichnet.
Extremismusexperte warnt vor Normalisierung der AfD
Der Magdeburger Rechtsextremismusexperte Matthias Quent warnte vor einer Normalisierung der AfD. "Die sogenannte "Brandmauer" ist taktische Verschiebemasse. Es fehlt den Parteien und der Gesellschaft eine Strategie des Umgangs mit der Partei, gerade angesichts der aktuellen Prognosen", sagte Quent.
Die AfD kommt in Umfragen inzwischen in den drei ostdeutschen Bundesländern Thüringen, Sachsen und Brandenburg auf Werte von mehr als 30 Prozent. In diesen Bundesländern werden kommendes Jahr neue Landtage gewählt.
In Thüringen, wo Björn Höcke die Geschicke des AfD-Landesverbandes lenkt, scheint die AfD schon jetzt so viel Macht zu haben wie in keinem anderen Bundesland: Im Landkreis Sonneberg stellt sie einen Landrat.
Brodocz sieht Bedeutung der AfD gestärkt
In etwa einer Woche hat ein AfD-Kandidat Chancen, bei einer Stichwahl Oberbürgermeister von Nordhausen zu werden. Zwei Gesetze wurden in Thüringen bereits mit AfD-Stimmen verabschiedet. Die Senkung der Grunderwerbssteuer könnte dabei mit einem Volumen von 48 Millionen Euro tief in den geplanten Landeshaushalt für 2024 greifen.
Experte Brodocz sieht die AfD nach der Abstimmung im Landtag deutlich gestärkt. "Sie bleibt weiter im Mittelpunkt der öffentlichen Debatte - ohne, dass sie selbst etwas falsch gemacht hätte", sagte er. Auch ihre politische Bedeutung sei durch die Verabschiedung des Gesetzes gestärkt. Sie können nun in Einzelfragen zusammen mit der CDU de facto regieren.
Seiner Ansicht nach geraten damit auch mögliche CDU-geführte Landesregierungen, die sich von der AfD in irgendeiner Weise tolerieren lassen könnten, auf die Agenda - gerade mit Blick auf die Wahlen kommendes Jahr. (dpa/lko)

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