• Wer wird Bürgermeisterin oder Bürgermeister der Hauptstadt? In Berlin wird am Sonntag die Wahl des Abgeordnetenhauses wiederholt.
  • Die Umfragen sind eng und der Ton ist rau: Der zweite Wahlkampf innerhalb von zwei Jahren zehrt an den Nerven der Spitzenkandidaten.
  • Eindrücke von den Kampagnen von Franziska Giffey, Bettina Jarasch und Kai Wegner.
Eine Reportage
Dieser Text enthält neben Daten und Fakten auch die Eindrücke und Einschätzungen von Fabian Busch. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Im Rest der Republik mag Berlin als Pannen-Hauptstadt gelten. Franziska Giffey spricht lieber von der "Chancenstadt". Die Regierende Bürgermeisterin hat den Berliner Standort des Chemie- und Pharmariesen Bayer für einen Wahlkampftermin ausgewählt. Ein kantiger 70er-Jahre-Bau im Malocher-Stadtteil Wedding, Arbeitsplatz für rund 5.000 Menschen. Bayer will in Berlin ein Zentrum für Zell- und Gentherapien bauen. Das ist genau nach Giffeys Geschmack.

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Die Hauptstadt ist aus Sicht der SPD-Politikerin ein deutscher Leuchtturm der Kultur, Wissenschaft und Wirtschaft. Berlin und Brandenburg will sie zu einer der "wettbewerbsfähigsten und wirtschaftsstärksten Innovationsregionen" in Europa machen.

Selbst der Bundeskanzler hat sich zwei Stunden freigehalten, um seine Parteifreundin im Kampf ums Rote Rathaus zu unterstützen. Olaf Scholz trinkt Kaffee mit Auszubildenden, lächelt und lacht, fragt nach, hört zu und gelobt mehr Unterstützung für die duale Ausbildung. "Mitten in Berlin findet ein großer Industriestandort seit langer Zeit seinen Platz", lobt Scholz später.

Viel Publikum hat er an diesem Nachmittag nicht. Doch für die SPD ist das Bild von der wirtschaftlich erfolgreichen Hauptstadt wichtig. Schließlich geht es für Franziska Giffey in diesen Tagen darum, ob sie als Regierende Bürgermeisterin im Roten Rathaus bleiben kann. Sie hat das Amt erst seit einem guten Jahr inne, und eigentlich hat sie noch viel damit vor.

Berlin-Wahl: Dreier-Rennen um Platz eins

Am Sonntag wählen die Berlinerinnen und Berliner das Abgeordnetenhaus und die Bezirksparlamente. Diese Wahl ist nicht nur außergewöhnlich, weil sie eine Wiederholung der Abstimmung vom 26. September 2021 ist: Damals waren so viele Pannen und Fehler passiert, dass der Berliner Verfassungsgerichtshof die Wahl für ungültig erklärte.

In der Hauptstadt sind die politischen Gräben auch besonders tief, die Parteifarben etwas greller als anderswo. SPD, CDU und Grüne liegen in Umfragen nah beieinander. Der Schmach der Pannen-Wahl, der russische Krieg in der Ukraine, die Inflation, die Silvesterkrawalle heizen die politische Stimmung zusätzlich an. Es ist schon der zweite Wahlkampf innerhalb von zwei Jahren, noch dazu ist Winter. Das zehrt an den Nerven der Spitzenkandidatinnen und -kandidaten, der Ton ist rau.

Stellenweise hat der Wahlkampf die Züge eines Kulturkampfs. Die wichtigsten Themen sind laut ZDF-Politbarometer der Wohnungsmarkt (von 39 Prozent der Befragten als wichtigstes Thema genannt) und der Verkehr (34 Prozent). Auf beiden Feldern liegen die Programme der Parteien weit auseinander.

"Wir wollen Berlin in Bewegung halten", sagt zum Beispiel FDP-Spitzenkandidat Sebastian Czaja bei einer Pressekonferenz. Für ihn heißt das: Der König Auto muss in Berlin sein Königreich behalten. "Von uns kommt ein klares Nein zu flächendeckendem Tempo 30 und weniger Parkplätzen", sagt Czaja. Das Konzept der FDP sei der Gegenentwurf zu den Grünen.

Bettina Jarasch und der Kulturkampf ums Auto

Auf die Grünen und ihre Verkehrssenatorin Bettina Jarasch haben sich die anderen Parteien eingeschossen. Jarasch will Klimaschutz zur "Chefinnensache" machen und ihre bisherige Chefin Franziska Giffey im Roten Rathaus ablösen. Doch die Wahrscheinlichkeit, dass das klappt, sind laut Umfragen eher gering.

Ein Abend im Hörsaal der Technischen Universität, "Fridays for Future" diskutiert mit Politikern über den Weg zu einer klimagerechten Hauptstadt. Ein Pflichttermin für Jarasch, die allerdings dünnhäutig und abgekämpft wirkt. Los geht es mit den wohl umstrittensten 500 Metern der Hauptstadt: Der Senat hatte 2020 einen kurzen Abschnitt der Friedrichstraße für den Autoverkehr gesperrt, musste die Sperrung nach einer Klage dann zwischenzeitlich aufheben. Kurz vor der Wahl hat die Verwaltung den Abschnitt jetzt wieder sperren lassen.

Das Hin und Her ist zu einem wichtigen Wahlkampf-Thema geworden. Sie habe langsam keine Lust mehr, darüber zu sprechen, sagt Jarasch auf der Bühne im Hörsaal. Sie will lieber über die großen Zusammenhänge reden: Berlin soll 2030 eine klimaneutrale Hauptstadt sein. Dazu will die Grünen-Politikerin auch den Autoverkehr reduzieren. "Niemand außer uns sagt derzeit offen: Die Verkehrswende wird nur mit weniger Autos funktionieren."

Vom klimaschutzbewegten Publikum bekommt sie dafür an diesem Abend Applaus. Doch im Kulturkampf ums Auto kann Jarasch es vielen nicht recht machen: SPD, CDU, FDP und AfD stellen sie als Traumtänzerin dar, die die Leute zum Radfahren oder Zufußgehen verpflichten will. Vielen Radfahrerinnen und Klimaschützern geht die grüne Verkehrswende in Berlin dagegen nicht weit genug.

Auch bei einem anderen zentralen Thema prallen Weltbilder aufeinander. Die Angebotsmieten in der Hauptstadt haben sich seit 2012 verdoppelt. Im September 2021 hat sich eine Mehrheit der Wählenden für die Enteignung großer Wohnkonzerne ausgesprochen. Doch bisher blieb das Votum folgenlos.

Die Linke mit ihrem Spitzenkandidaten Klaus Lederer verspricht, die Vergesellschaftung umzusetzen und so auch den Mietspiegel nach unten zu drücken. CDU, FDP und AfD sind strikt dagegen. Auch die SPD ist skeptisch. Auf das Land kämen riesige Entschädigungszahlungen zu, sagte Franziska Giffey im Interview mit unserer Redaktion. "Gleichzeitig entsteht durch eine Enteignung aber keine einzige neue Wohnung."

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Wer regiert mit wem?

Die AfD mit Kristin Brinker an der Spitze kann in Berlin auf Zugewinne hoffen, wird aber bei der Koalitionsbildung wohl außen vor bleiben. In der Diskussion sind aktuell vier Bündnisse – anspruchsvoll wäre jedes von ihnen:

  • Rot-Grün-Rot (SPD, Grüne, Linke): Die scheidende Koalition ist auch das wahrscheinlichste Bündnis für die nächsten Jahre. Ausgemacht ist das aber nicht: Wenn die CDU am Sonntag sehr weit vorne liegt, dürfte eine Koalition ohne die Christdemokraten nur schwer zu erklären sein. Außerdem gilt das Verhältnis zwischen Franziska Giffey und Bettina Jarasch als reichlich angespannt.
  • Ampel-Koalition (SPD, Grüne, FDP): Eine Ampel-Koalition unter grüner Führung von Bettina Jarasch hat die FDP ausgeschlossen. Mit Franziska Giffey an der Spitze könnte es klappen. Allerdings wären zwischen Grünen und FDP tiefe Gräben zu überbrücken – und schon 2021 haben SPD und Grüne lieber mit der Linken als mit der FDP koaliert.
  • Jamaika-Koalition (CDU, Grüne, FDP): Dieses Bündnis könnte eine Mehrheit haben und wäre nach mehr als 20 Jahren SPD-Führung ein Wechsel für die Stadt. Doch die Grünen wollen eher nicht mit der CDU regieren, der sie Ressentiments nach den Silvesterkrawallen vorwerfen. Auch die CDU hat ein Bündnis mit den Grünen wegen der Verkehrspolitik ausgeschlossen.
  • Deutschland-Koalition (SPD, CDU, FDP): CDU und FDP hoffen auf diese Koalition unter CDU-Führung. Sollte die SPD aber hinter der CDU liegen, könnte sie stattdessen auf Rot-Grün-Rot setzen, um das Rote Rathaus zu retten. Franziska Giffey als eher konservative Sozialdemokratin mag zwar Sympathien für eine Deutschland-Koalition haben. In der Berliner SPD ist dieses Bündnis aber nicht populär.

Kai Wegner: Möglicher Wahlsieger mit schmaler Machtperspektive

Wenige Tage vor der Wahl ist CDU-Spitzenkandidat Kai Wegner in der Johanna-Eck-Schule in Tempelhof zu Gast. Dort lernen rund 500 junge Menschen der Klassenstufen 7 bis 10. Ein junges, engagiertes Kollegium hat die Schule auf Zukunft getrimmt. Eine Handvoll Schüler und die Schulleitung führen Wegner durch das Gebäude, präsentieren Kunstwerke, Sporthalle, Physikraum und die neue Mensa. Es gibt viel zu zeigen – aber auch noch einiges zu verbessern.

Die Bildungspolitik spielt im Wahlkampf eher eine Nebenrolle. Dabei gäbe es da viel zu besprechen: Berlins Wachstumsschmerzen machen sich vor allem in den Schulen bemerkbar: Es fehlen rund 1.000 Lehrerinnen und Lehrer, aber es fehlt auch an Gebäuden: 2017 hat sich der Senat das Ziel gesetzt, mindestens 60 neue Schulen zu bauen.

Pläne und Praxis passen aber nicht immer zusammen. Die Johanna-Eck-Schule will in wenigen Wochen ihre neue Mensa eröffnen. Drei Jahre später als geplant. Die Bauarbeiten zogen sich in die Länge, es hakte in der Zusammenarbeit zwischen Baufirmen, Handwerkern und Bezirksverwaltung. Auch die sanitären Anlagen des 100 Jahre alten Gebäudes sind veraltet. Kein Einzelfall in Berlin. Kai Wegner sagt, dass er im Bildungsbereich zwei Themen als Erstes angehen will: den Lehrkräftemangel und den schleppenden Schulbau. Partnerschaften mit privaten Betrieben sollen mehr Tempo bringen.

Geht es nach den reinen Umfragezahlen, hätte Kai Wegner gute Karten, Berlins nächster Bürgermeister zu werden. Doch auch wenn die CDU am Ende vorne liegt, könnten SPD, Grüne und Linke zusammen weiter eine Mehrheit haben. Nur wenn die CDU mit großem Abstand siegt, dürfte es das rot-grün-rote Lager schwer haben, gegen die Union zu regieren.

Der bisherige Berliner Senat aus SPD, Grünen und Linken hat bis zum Wahlkampf recht geräuschlos regiert, Berlin durch die Coronakrise manövriert und die Aufnahme und Verteilung von Hunderttausenden ukrainischen Geflüchteten organisiert. Doch die Pannenwahl von 2021 und die Ausschreitungen an Silvester kratzen am Image der Regierungskoalition.

Davon profitiert die CDU – trotz der sogenannten Vornamen-Debatte: Die Christdemokraten hatten nach den Silvesterkrawallen beantragt, die Vornamen der festgenommenen Verdächtigen zu erfahren. So wollten sie herausfinden, ob es ein spezielles Problem mit migrantischen Jugendlichen gibt. Viele Berlinerinnen und Berliner mit ausländischen Namen fühlen sich dadurch grundlos unter Generalverdacht gestellt.

Kai Wegner dürfte ganz froh sein, dass das Thema beim Besuch in der Johanna-Eck-Schule nicht zur Sprache kommt. Er hätte dort wohl einiges zu erklären: Nicht nur die Mehrheit der Schülerinnen und Schüler hat ausländische Wurzeln. Auch der Schulleiter Engin Catik trägt einen türkischen Namen.

Verwendete Quellen:

  • ZDF.de: ZDF-Politbarometer Extra: Wahl in Berlin: CDU vor SPD und Grünen
  • berlin.de: Die Berliner Schulbauoffensive - Ziele und Aufgaben
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