Nach dem Anschlag auf den slowakischen Regierungschef Robert Fico steht die Slowakei unter Schock. Das Land verarbeitet die Gewalteskalation – doch es war ein Schock mit langer Vorgeschichte. Zwei Experten ordnen die Lage in der Slowakei ein und erklären, welcher Kurs künftig von dem Land zu erwarten ist – und vor welcher Entscheidung Fico nun steht.
Er hat das Attentat überlebt, doch die Slowakei hat sich noch nicht von dem Schock erholt: Nach dem Anschlag auf Regierungschef Robert Fico sieht sich das Land einer schwierigen Aufgabe gegenüber: politische Gräben zuschütten, Spaltung überwinden.
Der Anschlag auf den Linkspolitiker der zuletzt immer nationalistischer gewordenen Smer-SSD ist der Höhepunkt einer Entwicklung, die in der Slowakei zuletzt immer weiter Fahrt aufgenommen hat - das Klima ist rauer geworden. Mit dem Satz "Ich stimme der Regierungspolitik nicht zu" soll der 71-jährige Täter seinen Angriff erklärt haben.
Auf dem Weg zu einem zweiten Ungarn?
In der Slowakei regiert seit der Parlamentswahl Ende vergangenen Jahres ein Dreier-Bündnis aus Ficos Smer-Partei, der sozialdemokratischen Hlas und der nationalkonservativen Slowakischen Nationalpartei SNS. Fico ist Ministerpräsident, Anfang April wurde der Hlas-Vorsitzende Peter Pellegrini zum Präsidenten der Slowakei gewählt.
Damit sind in Bratislava zwei Personen an der Macht, die als autoritär und Russland-nah gelten. Schon kurz nach den Wahlen zeigte man sich in der EU alarmiert: Die Slowakei könnte zum zweiten Ungarn werden, so die Befürchtung.
In der jüngsten Vergangenheit fiel Fico immer wieder mit Russland-freundlichen Provokationen auf, kritisierte die europäische Ukraine-Politik hart und versicherte Ungarns Viktor Orbán seine Unterstützung gegenüber Brüssel in Sachen Rechtsstaatlichkeit.
An mehreren Fronten trieb er den Umbau des Rechtsstaats voran: Vor allem die Strafrechtsreform führte immer wieder zu Protesten. Bei ihr soll unter anderem die Sonderstaatsanwaltschaft, die in hochrangigen Korruptionsdelikten ermittelt, abgeschafft werden – zugunsten von Fico-Vertrauten.
Fico will den slowakischen Staat umbauen
Für große Unruhen sorgte zuletzt auch eine geplante Medienreform, mit der Fico Medien stärker unter staatliche Kontrolle bringen will. Die öffentlich-rechtliche Rundfunk- und Fernsehanstalt RTVS soll aufgelöst und durch eine neue Sendeanstalt ersetzt werden.
Martin Hanus ist Chefredakteur der slowakischen Tageszeitung "Postoj". Er sagt im Gespräch mit unserer Redaktion: "Die Eskalation in Form des erfolglosen Anschlags auf den Premierminister ist wohl das Ergebnis einer langfristigen Entwicklung. Rückblickend war es ein schleichender Prozess."
Die Slowakei sei lange ein friedliches und dynamisches Land gewesen, dessen Wirtschaftsreformen europaweit bewundert worden seien. Politische und ideologische Kämpfe, die wie in Polen oder Ungarn bis aufs Blut ausgetragen wurden, habe es nicht gegeben.
Korruption als Hauptproblem
Doch schon in den ersten von vier Amtszeiten Ficos sei die grassierende Korruption zum größten Problem erwachsen. "Gegen diese Korruption hat sich eine Front von Antikorruptionspolitikern gebildet", beobachtet Hanus. Bis zum Mord an dem Journalisten Ján Kuciak hätten Polizei und Staatsanwaltschaft den Verdacht auf schwere Wirtschaftskriminalität vertuscht oder nicht untersucht.
"Nach der Ermordung von Kuciak schien eine Reinigung des Systems stattzufinden. Im Jahr 2020 setzte sich die Front der Anti-Korruptions-Politiker durch, und es wurde begonnen, Wirtschaftsverbrechen zu untersuchen", erklärt Hanus. Doch die Regierung aus vier bürgerlich-konservativen, rechtspopulistischen und liberalen Parteien sei intern gespalten gewesen.
"Dann kam die Pandemie ins Spiel, aus der die slowakische Gesellschaft als extrem gespalten hervorgegangen ist", sagt Hanus. Die Smer und Fico hätten sie genutzt, um massive Kritik zu üben und beispielsweise Impfungen infrage zu stellen. "Diese Spaltung hat sich anschließend durch den Angriff Russlands auf die Ukraine noch verschärft", sagt der Journalist.
Ein großer Teil der Bevölkerung sei von der Angst überwältigt, dass der Krieg in der Ukraine auch sie selbst betreffen könnte und dass die Nato die Slowakei in den Krieg hineinziehen könnte. "Fico hat diese Gefühle geschickt ausgenutzt und angeheizt."
So sei Fico wieder an die Macht gekommen, doch in ihrer vierten Amtszeit habe sich seine Regierung ganz anders verhalten als in den drei Amtszeiten zuvor. Heute sei die Smer, die gute Kontakte zur SPD pflegte, ideologisch viel näher an die AfD oder die österreichische FPÖ gerückt.
Für Fico stehen wichtige Entscheidungen an
Was in Zukunft vom slowakischen Kurs zu erwarten ist, bleibt Spekulation. Hanus ist sich jedoch sicher: "Die Smer wird bei ihren Zielen, den Staat umzubauen, nicht nachgeben." Sobald Fico genesen sei und die Geschäfte als Premier wieder übernehme, müsse er eine wichtige Entscheidung treffen: Die Atmosphäre mäßigen oder den begonnenen Trend fortsetzen.
Politikwissenschaftler Kai-Olaf Lang beobachtet das Land auch mit Blick auf die anstehenden Europawahlen. "In der Außenpolitik wird sich kaum etwas ändern", sagt er mit Blick auf die nahe Zukunft gegenüber unserer Redaktion. Die Slowakei werde ihren Kurs gegenüber Russland und bezüglich der Ukraine fortsetzen.
Das bedeutet: Die Regierung wird weiterhin keine Rüstungsgüter aus Militärbeständen an die Ukraine liefern, wird weiter die Politik des Westens gegenüber Russland kritisieren und sich dafür einsetzen, dass die Ukraine bald Friedensverhandlungen mit Russland aufnimmt.
"Gleichzeitig wird die Slowakei aber weiterhin wirtschaftliche und humanitäre Unterstützung für das Nachbarland leisten", sagt Lang. Auch dürften die kommerziellen Waffenlieferungen von slowakischen Unternehmen fortgesetzt werden. "Die Regierung spricht sich im Grundsatz für den künftigen Beitritt der Ukraine in die EU aus, lehnt aber eine Aufnahme der Ukraine in die Nato kategorisch ab." Es werde also auch künftig ein hohes Maß an Pragmatismus hinsichtlich des Krieges geben.
Auseinandersetzung mit Brüssel
Pragmatismus gelte auch für die Politik in der EU. Das Regierungsbündnis lehnt beispielsweise den Migrationspakt der EU ab. "Damit steht das Land keineswegs alleine da, in vielen anderen Fragen bleibt es kooperativ", kommentiert Lang. Er rechnet künftig mit Auseinandersetzungen mit Brüssel. "Die Reform zur Neustrukturierung der öffentlichen Medien, neue Vorschriften bezüglich Nichtregierungsorganisationen und Reformen bei der Staatsanwaltschaft könnten die Beziehungen der Regierung zur EU verkomplizieren", erläutert er.
Die Slowakei sei politisch tief gespalten, die Stimmung sei noch immer aufgeheizt. "Es gibt wichtige Stimmen, die nun zum Innehalten und zu einem anderen, gemäßigteren Umgang miteinander aufrufen", beobachtet er. Dazu gehören etwa die abtretende Präsidentin Zuzana Čaputová und der künftige Präsident Peter Pellegrini.
"Ihr gemeinsamer Appell an alle politischen Parteien, sich zu einem runden Tisch zusammenzufinden, um einen Neuanfang zu demonstrieren, verfing aber bisher nicht", sagt Lang. Im Regierungslager gebe es sowohl beruhigende Kräfte als auch solche, die jetzt ein Durchgreifen gegen angeblich radikale Teile der Opposition und der liberalen Medien anstreben. "Angesichts der aufgeladenen Atmosphäre wird es schwierig sein, einen Wandel hin zu einem kooperativen Politikstil in der Slowakei herbeizuführen", fürchtet Lang.
Desinformationen und Spekulationen würden in der Slowakei oft großen Anklang finden. "Dass Robert Fico auf unbestimmte Zeit weder die Smer, also die stärkste Regierungspartei führen, noch Amt des Premiers innehaben kann, macht die Lage nicht einfacher", kommentiert der Experte.
Fico habe das Regierungsbündnis mit seinem Charisma geleitet und zusammengehalten. "Robert Kalinák, der stellvertretende Regierungschef und Verteidigungsminister, der jetzt den Ton angibt, will loyal gegenüber Fico sein und betrachtet sich gegenwärtig vor allem als vorübergehender Vertreter, nicht als jemand, der Fico ersetzen will", analysiert der Experte. Insgesamt werde das Regierungslager versuchen, seine Politik jetzt nicht minder konsequent als zuvor umzusetzen. Mit der Überwindung der Spaltung in der slowakischen Gesellschaft wird es wohl wie bei Ficos Genesung auch sein: Schnell ist sie nicht zu erwarten.
Über die Gesprächspartner
- Martin Hanus ist Chefredakteur der slowakischen Tageszeitung "Postoj".
- Dr. Kai-Olaf Lang leitet die Forschungsgruppe "Europa/EU" bei der "Stiftung Wissenschaft und Politik" (SWP). Zu seinen Forschungsgebieten zählen die baltischen Staaten, Mittel- und Osteuropa, die EU-Erweiterungspolitik und die östliche Partnerschaft.
Verwendete Quellen
- Gespräch mit Martin Hanus
- Gespräch mit Dr. Kai-Olaf Lang
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