- Bis zu 1.000 Tonnen tote Fische, riesige Mengen verendeter Muscheln und Schnecken.
- Umweltverbände und Wissenschaftler ziehen eine Zwischenbilanz der Oder-Katastrophe und fordern ein Sofortprogramm zur Wiederbelebung des Flusses.
Bis zu 1.000 Tonnen tote Fische, riesige Mengen verendeter Muscheln und Schnecken: Eine Zwischenbilanz des Fischsterbens in der Oder offenbart das verheerende Ausmaß der Umweltkatastrophe. Naturschützer, Wissenschaftler und Politiker sehen in der dramatischen Öko-Krise aber auch eine Chance.
Ein umfangreiches Programm zur Renaturierung könne einem der bedeutendsten Fluss-Ökosysteme Europas zur Erholung verhelfen und gleichzeitig einen Beitrag zur Klimavorsorge leisten. Voraussetzung dafür sei ein Verzicht auf den weiteren Ausbau des Stroms. Bundesumweltministerin
Gut zwei Wochen nach Beginn des beispiellosen Fischsterbens in der Oder haben Umweltverbände und Wissenschaftler eine Zwischenbilanz der Öko-Katastrophe gezogen. Deutlich über 200 Tonnen toter Fische seien bislang auf polnischer und deutscher Seite des Grenzflusses geborgen worden, sagte Christian Wolter vom Berliner Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB), am Freitag.
Selbst diese unfassbare Menge sei aber nur der kleinere Teil des wahrscheinlich durch eingeleitetes Salz ausgelösten Massensterbens in der Oder. Nicht geborgen worden seien die riesigen Mengen getöteter Muscheln und Schnecken sowie der größere Teil der gestorbenen Fische, sagte der Gewässerökologe in einer gemeinsamen Pressekonferenz zahlreicher Umweltverbände in Berlin. Unter Berufung auf das Institut für Binnenfischerei in Potsdam-Sacrow nannte Wolter eine Größenordnung von allein 600 bis 1000 Tonnen verendeten Fischs.
Algenblüte als Auslöser des Massensterbens sicher
Über den direkten Auslöser eines der größten Fischsterben in Europa sind sich die Experten Wolter zufolge mittlerweile weitgehend einig. "Die unmittelbare Ursache ist zweifelsfrei eine Aufsalzung der Oder, die im Wesentlichen durch erhöhte Kochsalzgehalte hervorgerufen wurde", sagte Wolter.
Der über einen Zeitraum von fast zwei Wochen konstant extrem hohe Salzgehalt wäre für sich genommen noch nicht tödlich gewesen, erläuterte der Gewässerökologe. Dadurch habe aber eine normalerweise im Süßwasser nicht überlebensfähige Algenart ideale Bedingungen für eine Massenblüte vorgefunden. Die normalerweise im Brackwasser – also dem Zwischenbereich zwischen Meer- und Flusswasser – lebenden Algen hätten dabei Giftstoffe ausgebildet, die besonders das durchblutete Weichgewebe von Organismen angegriffen hätten. "Die Kausalkette ist klar", sagte Wolter. So erklärt sich auch, dass Fische, Muscheln und Schnecken in Massen starben, während beispielsweise Vögel, die deren Kadaver verzehrten, offenbar nicht in nennenswertem Umfang betroffen waren.
Während extreme Salzfrachten und die folgende Algenblüte als Auslöser der Katastrophe gesichert erscheinen, bleibt die Herkunft der großen Mengen Salz und damit die eigentliche Ursache der Katastrophe ungeklärt. Salze werden in zahlreichen industriellen Prozessen eingesetzt oder entstehen dort.
Keine natürliche Katastrophe
Auch wenn letztlich Algen das Fischsterben ausgelöst haben, dürfe die Katastrophe dennoch nicht als natürliches Ereignis gelten, warnen die Umweltverbände. Denn den Grund dafür, dass sich die Algen in der Oder so gut ausbreiten konnten, sehen sie in der Schwächung der ökologischen Widerstandsfähigkeit des Flusses. Erst Kanalisierung, die Zerstörung der flussbegleitenden Auen und die Aufstauung von Wasser an Staustufen ermöglichten Bedingungen, unter denen es zu Algenblüten kommen könne, sagte Wolter.
"Wir müssen den Fluss wieder fit machen für die Herausforderung des Klimawandels", forderte Wolter mit Blick auf die durch die Erderwärmung erwarteten häufigeren Niedrigwasser und höheren Temperaturen, die das Problem in Zukunft weiter verschärfen dürften. Als zentrale Maßnahmen zur Verbesserung der Öko-Resilienz nennt Wolter im RiffReporter-Interview neben einer Reduzierung von Nährstoffeinträgen durch Abwasser und Landwirtschaft den Wiederanschluss von Altarmen und Auwäldern an den Strom und die Schaffung neuer Laich- und Brutaufwuchsgebiete für Flusstiere.
Naturschutzverbände legen Eckpunkte für Sofortprogramm vor
An der Oder geschieht allerdings gerade das Gegenteil: Auf polnischer Seite wird der weitere Ausbau des Stroms trotz des Widerstandes von Naturschützern und des Landes Brandenburg derzeit massiv forciert. Eine Klage vor einem polnischen Verwaltungsgericht wird derzeit vorbereitet. Selbst während des Fischsterbens waren die Baggerarbeiten zur Vertiefung der Fahrrinne und zur weiteren Stromregulierung fortgesetzt worden.
"Ausbaumaßnahmen sind nicht mehr zeitgemäß in einem Flussökosystem, das ausgeprägte Niedrigwasser-Phasen hat", sagt auch Florian Schöne, der Geschäftsführer des Umweltdachverbandes Deutscher Naturschutzring (DNR). "Das wird auf Dauer nicht funktionieren, wir erleben es alle – die Dürre betrifft die Oder wegen des herrschenden Kontinentalklimas besonders."
Deshalb ist die auch von Umweltministerin Lemke und führenden Gewässerökologen gestützte Forderung nach einem sofortigen Ausbaustopp der Oder einer der zentralen Punkte des am Freitag von einem breiten Bündnis von Naturschutzverbänden vorgelegten Aktionsprogramms zur Wiederbelebung der Oder.
"Wir müssen alle Maßnahmen ergreifen, politisch, diplomatisch – aber auch rechtlich gemeinsam mit der EU-Kommission, um Polen davon zu überzeugen, dass der Ausbau gestoppt wird", sagte Schöne.
Allerdings gibt es auch innerhalb der Bundesregierung Abstimmungsbedarf. Denn für die Oder ist neben dem Umweltministerium der Grünen-Politikerin Lemke auch das Bundesverkehrsministerium unter FDP-Minister Volker Wissing zuständig. Dort scheint die Forderung nach einem Baustopp bislang keine große Resonanz zu finden.
Grünen-Umweltpolitiker hofft auf einheitliche Linie in der Bundesregierung
Auch der umweltpolitische Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion, Jan-Niclas Gesenhues, setzt auf Geschlossenheit innerhalb der Bundesregierung gegenüber Polen. "Auch im Gespräch mit dem Verkehrsministerium muss das Signal kommen, dass sich die Bundesregierung für einen Ausbaustopp einsetzt", sagt Gesenhues im Gespräch mit RiffReporter. "Das Ökosystem der Oder ist derartig massiv geschädigt, dass alles unterbleiben muss, was den Fluss weiter schwächt – das bedeutet klar einen Ausbaustopp."
Daneben macht sich der Grünen-Politiker für ein finanziell gut ausgestattetes, umfassendes Sanierungs- und Renaturierungsprogramm stark. "Es ist nicht damit getan, Fische neu einzusetzen", sagt er unter dem Eindruck eines Besuchs an der Oder in der vergangenen Woche. Es werde auch nicht ausreichen, dazu Geld aus bestehenden Töpfen zusammenzuklauben, glaubt Gesenhues: "Klar ist, dass wir frisches Geld brauchen, weil das Ausmaß der Katastrophe so groß ist. Wir müssen zusätzliche Mittel auch über den Bundestag bereitstellen für den Bereich Gewässerökologie und konkret für ein Renaturierungsprogramm Oder, um in den nächsten Jahren zumindest ein Stück weit die entstandenen Schäden zu kompensieren."
Mit Blick auf einen Ausbaustopp der Oder setzt der Grünen-Abgeordnete angesichts der angespannten politischen Stimmung zwischen den Regierungen in Warschau und Berlin auf Fortschritte bei den deutsch-polnischen Gesprächen in der kommenden Woche. "Wir dürfen in so einer Situation nichts unversucht lassen, im Dialog mit der polnischen Seite einen Ausbaustopp zu erreichen."
Noch keine Entwarnung
Unterdessen gibt es an der Oder auch zwei Wochen nach Beginn des Fischsterbens auf deutscher Seite keine Entwarnung. Auch wenn derzeit keine weiteren Giftstoff-Entwicklungen der Algen beobachtet würden, sei es dafür zu früh, sagte Wolter. Vor allem die riesigen Mengen an Tierkadavern im Fluss bildeten aktuell eine große Gefahr.
Diese würden bei den herrschenden hohen Temperaturen unter enormem Sauerstoffverbrauch in den kommenden Tagen von Bakterien biologisch abgebaut. "Wir werden einen sehr angespannten Sauerstoffhaushalt haben, und Fische und andere Organismen werden in den nächsten zwei bis drei Wochen noch erheblich unter Stress stehen", erwartet der Biologe. Es könne dabei auch zu weiterem Fischsterben kommen. Erst danach könne eine Bilanz gezogen werden. Wie die aussehen werde? "Ich bin optimistisch, dass nicht alle Fische gestorben sind", versucht sich der Experte in Zuversicht.
Verwendete Quellen:
- dnr.de: Eckpunkte für ein Aktionsprogramm zur Wiederbelebung der Oder
© RiffReporter
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