In diesen Tagen machen sich wieder Millionen Zugvögel auf den Weg in den Süden. Ein Gespräch mit dem Vogelzugforscher Franz Bairlein über Hindernisse auf ihrem Weg, die Leistungen der gefiederten Weltenbummler und die Zukunft des Vogelzugs.
Wie geht es unseren Zugvögeln in Zeiten von Klimawandel, Naturzerstörung und zahllosen Jägern entlang ihres Zugweges?
Franz Bairlein: Der Rückgang vieler Zugvogelarten hat inzwischen ein problematisches Niveau erreicht. Diese Entwicklung müssen wir sehr ernst nehmen. Als sich der Vogelzug vor 10.000 Jahren entwickelte, gab es die von Ihnen genannten menschlichen Einflüsse nicht. Das Anthropozän hat die Lage für die Vögel grundlegend verändert und es ist uns bisher nicht gelungen, die Gefahren entscheidend zu entschärfen. Wahrscheinlich hatten es Vögel noch nie so schwer, ihren Zugweg zu bewältigen, wie heute.
Was ist das Anthropozän?
- Das Anthropozän ist das Zeitalter, das vom Menschen geprägt ist. Das auf der Erde herrschende Leben, ihre Oberfläche und ihre Atmosphäre stark verändert und auch der Weltraum trägt Spuren. Die Bezeichnung wird seit der Jahrtausendwende verwendet und stammt von dem Nobelpreisträger für Chemie Paul Crutzen. (Quelle: Gabler Wirtschaftslexikon)
Ist das Naturwunder des Vogelzugs, das Menschen seit Jahrtausenden fasziniert, in Gefahr?
Ich glaube nicht, dass der Vogelzug insgesamt in Gefahr ist. Die Grundpfeiler sind bis heute unverändert. Hunderte Millionen Vögel pendeln noch immer zwischen Europa und Afrika. Das System als Ganzes ist noch da. Das bedeutet aber nicht, dass es intakt wäre. Die Herausforderungen für Zugvögel nehmen mit jedem Jahr zu.
Wie wirkt sich der Klimawandel auf Zugvögel aus?
Er ändert sehr viel – einfach deshalb, weil er alle Bereiche des Vogellebens berührt. Er verändert schon heute viele Lebensräume. Das Austrocknen von Feuchtgebieten entlang der Zugwege und im Winterquartier ist eine sehr große Bedrohung für viele Arten. Wenn es dazu im großen Stil kommt, wird es richtig eng für viele Arten, die an diesen Lebensraum gebunden sind. Das schönste Schutzgebiet ist wertlos, wenn es austrocknet.
Welche weiteren Folgen des Klimawandels sehen wir schon heute?
Ein großes Thema ist die Verschiebung der Nahrungsnetze: Viele Vögel kommen heute früher aus dem Winterquartier im Brutgebiet an, weil sich mit der Erwärmung auch die Insekten-Nahrung früher entwickelt. Wenn Nahrungsentwicklung und Nahrungsbedarf nicht mehr zusammenpassen, bedeutet das einen schlechteren Bruterfolg und letztlich weniger Vögel. Dieses Wettrennen ist im vollen Gange.
Wie sehr hat sich das Verhalten von Zugvögeln durch den Klimawandel schon geändert?
Es gibt viele Anpassungen an die neuen Bedingungen, aber noch keinen grundlegenden Bruch im System Vogelzug. Einige Arten ziehen nicht mehr fort und bleiben ganzjährig am Brutort. Vor ein paar Jahrzehnten wäre es eine extreme Ausnahme gewesen, eine Mönchsgrasmücke im Winter in Deutschland zu sehen. Heute ist das normal. Andere Arten ziehen zwar noch, aber nicht mehr so weit wie früher – etwa Singdrossel und Zilpzalp. Gleichzeitig folgen aber viele Vögel weiterhin ihren traditionellen Zugrouten.
Wie stark sind Zugvögel vom allgemeinen Rückgang der Vogelpopulationen betroffen?
Vor allem Vogelarten, die sehr weit ziehen, sind stark betroffen. Die stärksten Rückgänge sehen wir bei Vögeln, die in Afrika südlich der Sahara überwintern.
Warum trifft es diese Arten besonders?
Maßgeblich, weil sie stark von der schnell voranschreitenden Zerstörung natürlicher Lebensräume auf den Zugwegen und in den Winterquartieren betroffen sind. Das sind vor allem Savannen und Wälder. Wenn wir diese Arten erhalten wollen, müssen wir daran arbeiten, die Lebensraumverluste auf den Zugwegen zu begrenzen – dort, wo die Vögel auf ihrer anstrengenden Reise rasten und Energie tanken. Die Veränderungen der letzten 20, 30 Jahre zum Beispiel in Westafrika sind so dramatisch, dass uns das richtig Sorge machen muss.
Was macht Sie so sicher, dass die Lage in Afrika ein so großes Problem für unsere Zugvögel ist?
Während die Trans-Sahara-Zieher überproportional abnehmen, stellen wir fest, dass die Arten, die über kurze oder mittlere Strecken innerhalb Europas ziehen oder die als Standvögel gleich hier bleiben, geringere Verluste haben und sich teils sogar positiv entwickeln. Das können wir beim Vergleich verwandter Arten gut belegen. Obwohl sie sehr ähnliche ökologische Ansprüche haben, nehmen Gartengrasmücken, die ins südliche Afrika ziehen, ab, während die nur über kurze Strecken ziehenden Mönchsgrasmücken zunehmen. Gleiches gilt für die Zwillingsarten Fitis und Zilpzalp. Deshalb müssen wir unser Augenmerk stärker auf das richten, was jenseits unserer Grenzen passiert.
Was macht es Zugvögeln in Afrika so schwer?
Vor allem die immer stärkere landwirtschaftliche Nutzung in den Savannen. Dort und in den Wäldern wird massiv gerodet, um Holzkohle für die Städte zu produzieren. Und natürlich gibt es nach wie vor den Einschlag von Tropenholz zum Export auch nach Europa. Viele Vögel, die in Deutschland brüten, verbringen mehr Zeit unterwegs und in Afrika als bei uns. Sie brauchen eben auch woanders Lebensräume, sonst haben sie keine Chance.
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Sollten wir uns also weniger Sorgen um den Vogelschutz hierzulande machen und mehr um die Zugwege?
Beides ist wichtig. Wenn wir hier alle Lebensräume zerstören und die Vögel der Möglichkeit berauben, sich fortzupflanzen, ist es fast egal, was auf den Zugwegen passiert. Wir brauchen gesunde Populationen und die entstehen in den Fortpflanzungsgebieten. Aber auch umgekehrt gilt: Wenn die Nahrung im Winter fehlt oder auf dem Zug der Treibstoff ausgeht, werden die Vögel nicht zurückkehren.
Die Große Grüne Mauer in der Sahelzone soll helfen, den Wüstenfortschritt zu stoppen. Ist das eine Chance für Zugvögel?
Darin liegt definitiv eine große Chance, allerdings nur, wenn es richtig gemacht wird. Bei den Aufforstungen muss auf die ökologische Funktionalität der Bäume geachtet werden. Grün allein reicht nicht. Es muss auf eine ortstypische Vegetation gesetzt werden, die Vögeln Nahrung bietet - und die auch für die örtliche Bevölkerung viele Vorteile gegenüber nicht-heimischen Arten hat. Ich selbst habe wunderbare ökologische Aufforstungsprojekte gesehen. Das macht mir Mut. Wenn wir es gut schaffen, wird die Grüne Mauer etwas, das dem Klima, den Menschen vor Ort und auch den Zugvögeln hilft.
Was ist die Große Grüne Mauer?
- In Afrika soll bis 2030 ein Grüngürtel von der Westküste in Senegal bis zur Ostküste in Dschibuti entstehen. Das riesige Umweltprojekt soll dafür sorgen, dass sich die Sahara nicht weiter in den Süden des Kontinents ausbreitet. (Quelle: Deutschlandfunk)
Welche weiteren Probleme gibt es für Zugvögel?
Jagd und Wilderei sind ein Problem, das wir nicht unterschätzen dürfen. Turteltauben haben sich stark erholt, nachdem einige europäische Länder Jagdverbote erlassen haben. Umweltchemikalien wie Pestizide sind ein Problem. Auch Lichtverschmutzung führt dazu, dass ziehende Singvögel nachts mit Gebäuden kollidieren. Windenergieanlagen sind ein Problem, wenn sie an Konzentrationspunkten des Vogelzugs errichtet werden. Keiner dieser Faktoren ist für sich allein die maßgebliche Ursache für den Rückgang von Zugvögeln. Die Summe macht's.
Können Vögel so viele Probleme gleichzeitig bewältigen?
Nur, wenn wir ihnen die Möglichkeit geben, gesunde Populationen aufzubauen und ausreichend Lebensraum zu finden. Das kann nur funktionieren, wenn wir nachhaltige Landnutzung betreiben, die sowohl den Menschen als auch der Natur zugutekommt. Nur so können die Vögel auf Dauer die Verluste durch menschliche Einflüsse kompensieren.
Als langjähriger Zugvogelforscher: Welche Leistung von Zugvögeln nötigt Ihnen am meisten Respekt ab?
Es gibt viele Leistungen, bei denen wir eigentlich nur mit offenem Mund staunen können. Pfuhlschnepfen, die von Alaska in einem einzigen Flug sieben Tage lang in der Luft sind, um Neuseeland zu erreichen, etwa. Oder Steinschmätzer, wenige Gramm leichte Singvögel, die im Nonstop-Flug von Nordkanada aus den Atlantik überqueren und dabei mindestens 100 Stunden unterwegs sind: Das sind physiologische Leistungen, die wir bis heute noch nicht gänzlich verstanden haben. Um das zu schaffen, müssen Vögel sich aber vorbereiten können, indem sie Reserven tanken: im Brutgebiet und an einem Rastplatz vor Barrieren wie dem Meer oder der Wüste. Nur so können sie diese Strecken energetisch bewältigen.
Werden wir das Naturwunder des Vogelzugs auch in Zukunft noch erleben können?
Da bin ich optimistisch. Ich glaube nicht, dass der Vogelzug insgesamt in Gefahr ist. Es ist aber kein Selbstläufer, dass es so bleibt. Deshalb sollten wir die Dinge zum Besseren verändern, die in unserer Hand sind. Die Vogeljagd einzustellen, wäre ein Schritt, der Entlastung schaffen könnte. Wenn wir den Vogelzug dauerhaft erhalten wollen, wird das A und O aber sein, auf großer Fläche Lebensräume zu bewahren: im Brutgebiet, an den Rastplätzen und in den Überwinterungsgebieten.
Über den Gesprächspartner
- Franz Bairlein ist Fellow am Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie in Radolfzell und war langjähriger Leiter des Instituts für Vogelforschung in Wilhelmshaven.
Über RiffReporter
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Verwendete Quellen
- Gabler Wirtschaftslexikon: Anthropozän
- Deutschlandfunk: Die Hoffnung ist grün
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