Reinhold Beckmann kennen die meisten noch als TV-Moderator oder Fußball-Kommentator, manch einer vielleicht auch als Musiker. Zu Gast im History-Podcast "Wunder. Wissen. Weltkrieg" spricht er über ein ganz anderes Thema: seine Familiengeschichte vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs.

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Heiligabend 1942. In Wellingholzhausen, einer kleinen Gemeinde am Rande des Teutoburger Waldes, sitzen die 21-jährige Aenne Haber und ihre Familie vor dem Volksempfänger. Es läuft eine Rundfunksendung, die in Deutschland und an allen Fronten – vom Eismeerhafen bis nach Nordafrika – Weihnachtsstimmung verbreiten soll. Doch für Aenne Haber hat Weihnachten seinen Zauber längst verloren.

Drei Monate zuvor hatte sie die Nachricht erhalten, dass ihr Bruder Hans in Russland gefallen ist. Ihre Brüder Franz, Alfons und Willi sind noch irgendwo da draußen an der Front. Auch sie werden nicht mehr nach Hause zurückkehren. Aenne wird alle ihre Brüder an diesen irrsinnigen Krieg verlieren.

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Beckmann erhält Feldpostbriefe seiner gefallenen Onkel: "Mach was draus!"

Es ist eine Familiengeschichte, die stellvertretend für so viele andere in Deutschland steht. Aufgeschrieben hat sie der frühere TV-Journalist Reinhold Beckmann in seinem Buch "Aenne und ihre Brüder", über das er im History-Podcast "Wunder. Wissen. Weltkrieg" mit Raphaela Höfner spricht. Er ist Aenne Habers Sohn.

Die Feldpost, die Aenne Haber von ihren Brüdern bekommen und jahrelang sorgfältig verschnürt in einem Schuhkarton aufbewahrt hatte, hat sie ihrem Sohn Reinhold mit den Worten "Mach was draus!" überlassen. Nach seinem Lied "Vier Brüder", das Beckmann zusammen mit seiner Band vor drei Jahren veröffentlichte, ist im vergangenen Herbst daraus das Buch "Aenne und ihre Brüder" entstanden.

"Meine Mutter hat tatsächlich gesprochen."

Beckmann über seine Mutter, die nicht über die NS-Zeit geschwiegen hat

Obwohl Beckmann seine Onkel Alfons, Hans, Franz und Willi nie kennenlernen konnte, fühlt er sich ihnen verbunden. Das liegt auch an Aenne, die im Gegensatz zu so vielen anderen nicht über die Zeit des Nationalsozialismus schwieg.

"Das ist der Unterschied: Meine Mutter hat tatsächlich gesprochen", sagt Beckmann im Podcast. "Durch das Erzählen hat sie ihre eigene Familie erhalten. […] Sie hat dafür gesorgt, dass sie nicht vergessen wurden." Überall in Beckmanns Elternhaus hätten Fotos der gefallenen Brüder gehangen. Und jedes Jahr an Weihnachten sei die Trauer seiner Mutter wieder hochgekommen.

Wellingholzhausen: "Beispielhafter Werdegang für viele katholische Dörfer"

Für sein Buch studierte Beckmann die Feldpostbriefe seiner Onkel und arbeitete mit dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge zusammen. Er besuchte Archive, Zeitzeugen und Historiker und verknüpfte so seine persönliche Familiengeschichte mit historischen Fakten.

Ihm sei es auch darum gegangen zu erklären, wie sich der Nationalsozialismus so flächendeckend durchsetzen konnte – auch in einer kleinen, erzkatholischen Gemeinde wie Wellingholzhausen. Dort wählte man lange standhaft die Zentrumspartei – bis die NSDAP 1930 erste Mehrheiten in der Region erzielte und ihre SA-Truppe ins Dorf schickte.

"Die haben sich durch die Kneipen geprügelt, haben bei der nächsten Reichstagswahl die Plakate der anderen Parteien beschmiert, abgerissen, haben gedroht. Dann haben sie den Schulleiter ausgewechselt und stattdessen einen perfekten Nazi installiert", sagt Beckmann.

Ein Problem sei auch gewesen, dass die Kirchen sich in den Schoß der Nazis gelegt hätten. Ohne die Unterstützung der katholischen Gemeinden hätte Hitler den Nationalsozialismus in Deutschland nicht etablieren können, sagt Beckmann. "Er hat sie natürlich so geschickt verführt, den Bischöfen zusätzliche säkulare Ämter angeboten." Davon hätten sich viele Geistliche verführen lassen.

"Der Krieg ist am Anfang ein Abenteuerspielplatz."

Beckmann über die Kriegsmotivation eines Onkels

Die Feldpostbriefe verdeutlichen auch, mit welch unterschiedlicher Motivation die jungen Männer in den Krieg zogen - und wie sich ihre Einstellung im Laufe des Krieges veränderte. Mit gerade mal 20 Jahren zog Aennes Bruder Alfons an die Front. "Für den ist der Krieg am Anfang ein Abenteuerspielplatz", sagt Beckmann. Alfons machte bei der Wehrmacht seinen Führerschein, kam nach Bulgarien und sah dort seinen ersten Apfelsinenbaum.

Doch als Alfons in Russland ankam, habe sich die Tonart der Briefe radikal verändert, sagt Beckmann. "Alles wird melancholischer, reduzierter, hoffnungsloser." Alfons älterer Bruder Franz ist hingegen von Beginn an kritischer. "Der schreibt schon im ersten Jahr: Wann hört der Schwindel hier eigentlich auf?"

Hans hat sich als einziger der Brüder für zwölf Jahre bei der Wehrmacht verpflichtet und lässt zunächst keine Zweifel durchscheinen. "Er will als jemand dastehen, der die richtige Entscheidung getroffen hat", glaubt Beckmann.

Erst, als Hans Vater der kleinen Inge wird, lässt er in seinen Briefen Zweifel durchscheinen, wenn auch nur subtil. Zu ehrlich durfte die Feldpost nicht sein, denn sie wurde von der Feldpostprüfstelle gegengelesen. "Diese Angst, die durchgängig da war, können wir, die in der Freiheit von Demokratie aufgewachsen sind, nicht nachvollziehen", sagt Beckmann.

Als jüngster der vier Brüder war Willi dem Propaganda-Unterricht der Nationalsozialisten in Schule und Hitler-Jugend am längsten ausgesetzt. "Das hat ihn sicherlich beeinflusst", glaubt Beckmann. Der junge Mann starb kurz vor Kriegsende in Asterode, einem Ort zwischen Kassel und Marburg.

Das Gebiet war zu diesem Zeitpunkt bereits befriedet. Doch es gab vereinzelte, kleine Bataillone, die versuchten, Hitlerdeutschland weiter zu verteidigen, ähnlich wie im Film "Die Brücke" von Bernhard Wicki. "So etwas Ähnliches muss auch mein Onkel Willi gemacht haben", glaubt Beckmann. Die Amerikaner hätten diese kleine Truppe schließlich liquidiert.

"Zu sagen, wir hätten da alle widerstanden, ist dummes Zeug. (...) Sich leichtfertig zu etwas Besserem zu machen, davor kann ich nur warnen."

Reinhold Beckmann

Beckmann räumt mit Familienlegende auf

"Klar sind auch meine Onkel kleine Rädchen in diesem faschistischen System gewesen. Man kommt da nicht mit einer weißen Weste heraus", sagt Beckmann. Auf der anderen Seite müsse man sich die Frage stellen, was man selbst getan hätte, wenn man anstelle von Alfons, Hans, Franz oder Willi in den Zeiten des Nationalsozialismus aufgewachsen wäre. "Zu sagen, wir hätten da alle widerstanden, ist dummes Zeug", sagt Beckmann. "Sich leichtfertig zu etwas Besserem zu machen, davor kann ich nur warnen."

Bei seinen Recherchen stieß Beckmann auch auf überraschende Momente und räumte mit einer Familienlegende auf. Etwa die Geschichte des ältesten Bruders Franz, der nach Kriegsende auf dem Heimweg von polnischen Partisanen bei Danzig erschossen worden sein soll. So wurde es jahrzehntelang in Beckmanns Familie erzählt. "Das ist dummes Zeug", sagt Beckmann. Aus einer Heimkehrererklärung, die Beckmann aufspürte, geht hervor, dass Franz durch einen "Volltreffer" der Rotarmisten in Ostpreußen getötet wurde.

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Beckmann und Mutter verklagten Gauland

Beckmanns Mutter Aenne haben die genauen Todesumstände ihres Bruders Franz nicht mehr erreicht. Sie starb 2019 im Alter von 98 Jahren. Was sie heutigen jungen Generationen raten würde? "Genau hinzugucken, wehrhaft zu bleiben", sagt Beckmann. Seine Mutter tat das bis zuletzt. "Wir haben Alexander Gauland verklagt nach seiner Vogelschiss-Rede, wegen Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener", sagt Beckmann.

Gauland hatte beim Bundeskongress des AfD-Nachwuchses 2018 gesagt: "Hitler und die Nazis sind nur ein Vogelschiss in über tausend Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte." Danach ruderte Gauland zurück, die Klage wurde abgewiesen. "Das ist das alte Prinzip der Extremen. Erst mal einen raushauen und sich danach davon distanzieren", sagt Beckmann.

Doch auch wenn sie scheiterte, sei die Klage für ihn und seine Mutter wichtig gewesen. "Dieses Land hat, was den Zweiten Weltkrieg betrifft, eine extrem dunkle Geschichte", sagt Beckmann. "Es ist wichtig, daraus seine Schlüsse zu ziehen. Zukunft braucht Erinnerung."

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