"Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst". Man weiß nicht genau, was sich Gunter Gabriel seinerzeit gedacht hat, als er diesen Song für Juliane Werding schrieb. Fakt ist aber, dass der Mensch viel über das eigene Denken nachdenkt. Einer dieser Menschen ist Nora Tschirner und in ihrer Vox-Dokumentation "Reine Kopfsache mit Nora Tschirner" besucht sie am Mittwochabend bei Vox wiederum andere Menschen, die sich noch mehr mit dem Denken und dem Gehirn beschäftigen. Und stellt sich auch noch einem Trauma.
"Ich nehme euch mit auf eine abenteuerliche Reise ins Gehirn – mein Gehirn. Denn ich möchte herausfinden, ob die Leistung eines handelsüblichen Gehirns verbessert werden kann", erklärt
Seitdem holt mich dieses Ereignis immer wieder ein", erzählt Tschirner und will nun herausfinden, "warum Ängste so ein Eigenleben entwickeln können, die Kontrolle übernehmen und was man selbst dagegen tun kann." Wie denkt Nora Tschirner? Einer, der das wissen könnte, ist Daniel Wagner. Der Psychotherapeut findet zusammen mit Tschirner heraus, was bei ihr in puncto Ängsten "eingespeichert" ist und warum. Dabei geht es für Tschirner auch ans Eingemachte, wenn Wagner und sie diesen Speicher besuchen. In der Praxis heißt das: Rauf auf's Wasser!
"Das Gehirn besitzt eine Vernunft- und Gefühlsabteilung"
"Die Anfahrt vom Steg, da hatte ich das Gefühl: Wir gehen nach Mordor", schildert Tschirner während einer kurzen Kanufahrt ihre Gefühlslage und Wagner erklärt nicht nur, warum das passiert, sondern arbeitet mit ihr durch wiederholtes ins Boot steigen daran, dass das Mordor-Gefühl schwächer wird. Das ist für Tschirner ebenso herausfordernd wie für den Zuschauer interessant, denn Wagner erklärt dabei, welche Funktionen Angst hat und welche Bewältigungsstrategien es gibt und Tschirner fasst den Rohbau des Gehirns zusammen.
Demnach gibt es eine "Vernunftabteilung", die das Arbeitsgedächtnis beherbergt, und eine "Gefühlsabteilung", die insbesondere Angst steuert, um uns etwa vor Gefahren zu schützen. "Ich will beide Abteilungen verstehen und nutzen", erklärt Tschirner und taucht nun tiefer ins Gehirn im Allgemeinen und in ihr eigenes im Speziellen ein. Sie fährt ins niederländische Nijmegen.
An der dortigen Universität legt sie sich in ein MRT und absolviert unter Beobachtung des Neurowissenschaftlers und Gedächtnisweltmeisters Boris Nikolai Konrad einige Denk- und Merkaufgaben. "Tatsächlich können sich meine Ergebnisse sehen lassen", stellt Tschirner anschließend fest, aber natürlich geht es bei der Doku nur vordergründig um sie.
Tschirner und ihr Gehirn sind nur Vehikel, um dem Zuschauer das menschliche Gehirn, seine Funktionen und wie man sie verbessern könnte näherzubringen und nicht nur Tschirners Gehirn erledigt diese Aufgabe gut. Die Schauspielerin führt uneitel, ohne Scham, Privates preiszugeben und mit der ihr eigenen witzigen Schnoddrigkeit oder schnoddrigen Witzigkeit durch die Doku. "Die gute Nachricht zuerst: Ich habe ein Gehirn und es zeigt auch keine Auffälligkeiten."
"Alles da", kommentiert Tschirner etwa die MRT-Bilder ihres Gehirns. Das macht die Doku unterhaltsam, aber noch viel wertvoller ist für den Zuschauer, dass Tschirner glaubhaft vermittelt, wie sehr sie selbst von dieser Reise ins menschliche Gehirn und wie man es verbessern kann fasziniert ist – und so ist es der Zuschauer auch. Bei dieser Reise besucht Tschirner auch Schüler des Internatsgymnasiums Torgelow und nimmt am Unterricht im Gedächtnistraining teil.
Sie lernt mit Boris Konrad weitere Memorisierungs- und mit Daniel Wagner Entspannungstechniken und mit Apnoetaucherin Anna von Boetticher, "wie man auch auf Unvorhergesehenes mit Ruhe reagiert". Am Ende all dieser Gehirnoptimierungsmaßnahmen geht es in Nijmegen wieder "in die Röhre", um zu sehen, was das alles denn so gebracht hat. Das Ergebnis: Tschirners Training hat sich ausgezahlt. Oder wie sie es formuliert: "Da ist ja was passiert." Und natürlich arbeitet Tschirner auch an ihren Ängsten, um "die Kontrolle wiederzugewinnen."
Das hat am Ende ein bisschen was von Wetten, dass..?
"Versöhnung mit der Amygdala ist die Parole", erklärt Tschirner und so absolviert sie ein Überlebenstraining in einer Marineschule, bei der sie sich unter Wasser aus einem notgelandeten Hubschrauber befreien muss. Im Finale Grande muss sich Tschirner dann 50 zweistellige Zahlen merken, die dann nach einer Notwasserungssimulation wieder abgefragt werden. "Eine Ermutigung, sich mit seinen Themen auseinanderzusetzen".
Das hat, wie Tschirner selbst feststellt, am Ende ein bisschen was von "Wetten, dass..?", aber es zeigt trotzdem den Weg, den Tschirner und ihr Gehirn im Rahmen dieser Doku gegangen sind. Dazu sendet Vox am Ende den Hinweis, dass die Entwicklungen "nur Auszüge aus einem mehrere Monate andauernden Prozess" gewesen seien, die auch nur durch die Begleitung einer "sehr therapieerfahrenen Person" vor der Kamera in dieser Zeit möglich gewesen seien. Für das, was diese Dokumentation leistet, spielt diese Einschränkung aber keine Rolle, denn Tschirner erreicht mit "Reine Kopfsache" zwei Ziele.
Zum einen, durch die Informationen der Experten, ihre eigenen Erklärungen und durch interessante Grafiken, das menschliche Gehirn näher gebracht zu haben. Natürlich nicht in aller wissenschaftlichen Komplexität und Tschirner bei der Bewältigung ihrer Ängste zuzuschauen, ersetzt selbstverständlich keine Psychotherapie.
Aber diesen Anspruch hat die Doku auch nicht, kann sie gar nicht haben und muss sie auch nicht. Denn, und das ist das zweite Verdienst der Dokumentation: Auf einer emotionalen Ebene ist die Doku tatsächlich einerseits eine "Ermutigung, sich mit seinen Themen auseinanderzusetzen", wie es Tschirner selbst formuliert. Und andererseits macht sie Lust darauf, noch tiefer in das Thema Gehirn einzusteigen und einmal übers Denken nachzudenken.
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.