"Geschichten, die das Leben schreibt" ist eine gern verwendete Phrase. Im Fall von "Sam – Ein Sachse" hat sich das Leben eine Handlung ausgedacht, mit der ein Drehbuchautor wohl kaum durchgekommen wäre.

Ein Interview

Die Serie, die seit Mittwoch auf Disney+ zu sehen ist, beruht auf der Lebensgeschichte von Samuel "Sam" Njankouo Meffire. 1970 als Sohn eines Studenten aus Kamerun in der Nähe von Leipzig geboren, wurde er als erster Schwarzer in der DDR Volkspolizist, nach der Wende Medienstar und Werbegesicht, rutschte später in die Kriminalität ab – um nach seiner Zeit im Gefängnis als Sozialarbeiter und Autor ein neues Leben zu beginnen.

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Mitverantwortlich dafür, dass das Leben von Meffire nun als erste deutsche Produktion des Streamingdienstes zu sehen ist, ist Tyron Ricketts. Der ehemalige Rapper, Viva-Moderator und TV-Kommissar ("Soko Leipzig") hat mit seiner Produktionsfirma die Geschichte dafür entwickelt. Im Interview erzählt er, warum es 22 Jahre von der Idee bis zur Umsetzung gedauert hat und was sich in dieser Zeit in der deutschen TV- und Filmlandschaft in Sachen Diversität getan hat.

Herr Ricketts, wann und wie wurden Sie auf die Lebensgeschichte von Sam Meffire aufmerksam?

Tyron Ricketts: Ich war Rapper und Teil der Rap-Combo "Brothers Keepers". Wir hatten damals einen Song "Adriano (Letzte Warnung)" (2001) – ein sehr politisches Stück. Wir hatten eine Schultour durch den Osten Deutschlands geplant, doch noch bevor wir diese Tour antreten und den Kids ein bisschen Mut machen konnten, bekamen wir Morddrohungen von Nazis. Wir brauchten Sicherheit – und Samuel Meffiere und seine Crew waren unsere Security. Damals hat mir Samuel seine Geschichte erzählt und ich war schon zu dem Zeitpunkt fest davon überzeugt, dass wir unbedingt eine Möglichkeit finden müssen, sie auf die Leinwand zu bekommen. Es hat dann aber sehr lange gedauert – der Markt war noch nicht so weit. 2006 habe ich zum ersten Mal versucht, mit Jörg Winger, damals mein Produzent bei "Soko Leipzig", einen Kinofilm daraus zu machen. Es hieß dann: 'Ja, eine tolle Geschichte, aber einen schwarzen Schauspieler in der Hauptrolle will das Publikum nicht sehen.' Und es hat dann tatsächlich 22 Jahre gedauert, bis wir nun mithilfe von Disney+, Big Window, der Ufa, Panthertainment und natürlich mit der Hilfe von Samuel diese Geschichte als Serie erzählen können.

Hat sich denn genug verändert in diesen letzten 20 Jahren?

Es ist Bewegung drin. Wir erzählen heutzutage Geschichten anders; die Streamer haben mit dafür gesorgt, dass andere Perspektiven angenommen werden. Und auch die Diskussion in der Gesellschaft ist durch die Digitalisierung in Bewegung. Und es gibt MeToo, Fridays for Future, Black Lives Matter. Wir wissen, dass es strukturellen Rassismus gibt, und dass wir – auch wenn es nicht intendiert ist – rassistisch handeln können. Das ist ja schon mal eine ganz andere Diskussionsgrundlage als noch vor 30 Jahren.

Ricketts: "Es reicht nicht, vorne zwei, drei Gesichter aus marginalisierten Gruppen hinzusetzen"

Die Besetzung von Rollen ist ja nur eine Seite – wie sieht es hinter den Kulissen aus? Dort, wo sich die Macht konzentriert, wo Entscheidungen getroffen werden?

Also viel getan hat sich da noch nicht, um ehrlich zu sein. Es dauert, bis alte Strukturen aufbrechen und durchlässig werden. Diversität ist ja da – mittlerweile haben 27,3 Prozent der deutschen Bevölkerung Migrationsgeschichte. Was aber hermuss, ist Inklusion. Um bei TV- und Filmproduktion zu bleiben: Es reicht natürlich nicht, vorne zwei, drei Gesichter aus marginalisierten Gruppen hinzusetzen. In der gesamten Entstehungsgeschichte eines Projekts müssen an verschiedensten Stellen Plätze am Tisch freigeräumt werden, um tatsächlich Inklusion zu leben. Ich denke, das ist zum einen nur gerechnet und demokratisch – und zum anderen werden auch die Geschichten besser. Denn wenn man sich zum Beispiel die Position des Produzenten oder Drehbuchautors anschaut, da geht's ja nicht in erster Linie nur im Hautfarbe, sondern um das Verständnis der Erlebniswelten, um ein Verständnis der Kultur. Und es ist natürlich authentischer, dreidimensional und bunter, wenn an den unterschiedlichen Schritten der Produktion unterschiedliche Stimmen beteiligt sind. Und letztendlich ist es natürlich auch Business, denn sozioökonomisch ist es ja auch nicht uninteressant, da mal ein bisschen was zu verteilen.

Nicht selten wird auch ein Ensemble als divers verkauft, doch bei genauerem Hinsehen ist die Besetzung reichlich klischeehaft – ob arabischstämmiger Terrorist oder schwarzer Gangster.

Ja, man verfällt leicht in Klischees, wenn im Writers Room niemand sitzt, der wirklich Einblick in diese Welt hat. Wenn zum Beispiel fünf Männer eine Geschichte über eine schwangere Frau schreiben, ist es bestimmt auf die ein oder andere Art interessant – hat aber wahrscheinlich nichts mit dem zu tun, was wirklich passiert, weil die Erfahrungswerte nicht da sind. Wir haben explizit darauf geachtet, dass der Writers Room wirklich divers ist. Nicht nur im Sinne von schwarz-weiß, sondern dass eine Hälfte weiblich und eine Hälfte männlich ist; dass eine Hälfte aus Ostdeutschland und die andere Hälfte aus dem Westen kommt. Das hat natürlich zu vielen Diskussionen geführt. Aber aus diesen Diskussionen ist eine sehr authentische und emotionale Geschichte entstanden.

Polizist, Medienstar, Verbrecher: Trailer zu "Sam – Ein Sachse"

Basierend auf der wahren Geschichte von Sam Meffires folgt diese Miniserie seiner verzweifelten Suche nach Heimat und dem Kampf für Anerkennung und Gerechtigkeit. Sam wird in den wilden Jahren nach der deutschen Wiedervereinigung vom ersten Schwarzen Polizisten in der DDR zum Medienstar - und schließlich zum Verbrecher. "Sam – Ein Sachse" ist die erste deutsche Original Serie auf Disney+ und startet dort am 26. April.

"Alte Klassiker neu auflegen – und neue Geschichten erzählen"

Um Neuauflagen gerade auch von Disney-Klassikern gibt es im Moment heftige Diskussionen. Neben blankem Rassismus gibt es Stimmen, die neue Geschichten statt Neubesetzungen fordern. Ist eine schwarze Arielle ein Schritt in die richtige Richtung?

Ich finde absolut, dass es ein Weg ist. Unsere Vorstellungen von dem, was wahr und richtig ist, wurde geprägt durch die Geschichten, die wir uns erzählen. Und 500 Jahre lang erzählten wir uns, Kolumbus habe Amerika entdeckt. Die Frage ist natürlich, wie kann man einen Kontinent entdecken, wo doch schon Menschen lebten? Das zeigt einfach, dass wir diese letzten 500 Jahre aus einem extrem eurozentrierten Blickwinkel auf die Welt geschaut haben. Wenn man eine fiktive Figur wie etwa eine Meerjungfrau, bei der kein Mensch weiß, wie die wirklich aussieht, mit einer schwarzen jungen Frau besetzt, ist es natürlich eine Möglichkeit, die Perspektive zu erweitern und Diversität als Normalität zu setzen. Gleichzeitig ist es aber nicht der einzige Weg. Ich finde, genauso, wie man alte Klassiker neu auflegen darf und auch sollte, muss man natürlich auch neue Geschichten erzählen und kann so vielleicht noch mal ganz neue Perspektiven aufmachen. Man muss auch meines Erachtens nicht jede Geschichte als Heldenreise erzählen – man kann auch eine Heldinnenreise erzählen. Es ist also noch viel Platz nach oben, was Geschichten und Erzählformen angeht.

Vielen Dank für das Gespräch.

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